Vor zehn Jahren, am 22. November 2005, ist Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt worden. Damals eine Frau ohne Eigenschaften – und heute?
Sie kann – alles. Neoliberal, damit hat sie Rot-Grün 2005 knapp aus dem Amt getrieben. Sozial, damit hat sie sich im gleichen Jahr auf eine Koalition mit der SPD eingelassen. Damals hat sie mit dem SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering politisch geflirtet, so wie sie vier Jahre später, 2009, wieder auf neoliberal mit Guido Westerwelle in einer schwarz-gelben Koalition umstieg und 2013 notgedrungen erneut auf die SPD mit deren Vorsitzenden Sigmar Gabriel umsteigen musste. Leider, so hat sie es vermutlich empfunden, weil die Grünen im letzen Augenblick davor zurückzuckten, das schwarz-grüne Wagnis mit der Frau ohne Eigenschaften einzugehen.
Sie kann heute noch für die Wehrpflicht sein und sie morgen fallen lassen. Sie kann die Verlängerung der Atomkraft als alternativlos ausgeben und nach dem Desaster von Fukushima den Schalter herumdrehen. Sie kann im Wahlkampf 2013 gegen die von der CSU geforderte Maut sein und später dafür. Sie kann gegen Obergrenzen für Asylsuchende sein und gegen Zäune und Transitzonen und hat längst jenseits der CSU mit Gesprächspartnern in Europa Kontingentlösungen im Kopf. Sie kann bei allem dafür sein – und dagegen.
Vermeidet Polarisierung
Ein alter journalistischer Fahrensmann, der Merkel schon in der Bonner Republik beobachtete, hat das mal so auf den Punkt gebracht: „Frau Merkel ist eine wunderbare Pilotin. Wer mit ihr fliegt, hat nichts zu befürchten. Nur, wo man mit ihr landet, das weiß man bei ihr nie.“ Allerdings, damit ist sie bislang gut geflogen. In zehn Jahren Kanzlerschaft gab es keine ernsthafte Konkurrenz. Weder parteiintern, und schon gar nicht bei den politischen Gegnern. Sie scheint alternativlos. Mal hatte sie den Beifall der eigenen Partei, weil sie lange Garantin für gute Umfragewerte war. Jetzt, wo die Seehofers laut und die Schäubles mit gebremstem Schwung gegen ihre Flüchtlingspolitik mucken, wird sie von der Opposition in Schutz genommen.
Angela Merkels Stil ist es, Polarisierung zu vermeiden. Anders als andere ihrer Vorgänger, wie Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder, die Reformen gegen ihre Partei durchsetzten, regiert sie mitunter, als gäbe es die Partei, deren Vorsitzende sie ist, in ihrem Denken gar nicht. Sie regiert nicht gegen sie, sondern ohne sie. Fast alle Gegner in den eigenen Reihen hat sie auflaufen lassen, in die Resignation getrieben oder ihnen – wie Christian Wulff – höchste Staatsämter als Beruhigungspille zugeschoben. Die Bedenkenlosigkeit, in der Merkel mit dem Amt des Bundespräsidenten umgesprungen ist und es dadurch entwertet hat, um sich des unliebsamen Konkurrenten Wulff zu entledigen, war einzigartig in der Geschichte des Landes.
Wo will sie hin, wo landet sie? Die Flüchtlingssituation hat die Stimmung verändert. Die Illusion, die die Union im Sommer noch von einer absoluten Mehrheit bei den Wahlen 2017 träumen ließ, hat sich verflüchtigt. Mit der AFD scheint sich eine neue Kraft zu verfestigen, die das Parteienspektrum weiter aufspaltet. Aber an der führenden Rolle der CDU wird das nichts ändern. Und damit auch nichts an der von Angela Merkel.
Merkel-Land im politischen Schlummer
Sie nimmt es hin, wenn Seehofer – wie jetzt auf dem Parteitag der CSU – sie demütigt; sie erträgt es gelassen, als „Mutti“ verspottet zu werden; sie spielt einfach Merkel. Ob als „schwäbische Hausfrau“ oder mal als mächtigste Frau der Welt betitelt.
Noch nie gab es in der Republik einen Regierungschef, der eine Dekade so formvollendet über die Runden gebracht hat, ohne Aufstände in den eigenen Reihen, ohne Putschversuche, ohne Wähleraufruhr und ohne den Wunsch, endlich einen Machtwechsel herbeizuführen.
Sie fliegt schon so lange so schön, dass das Land im politischen Schlummer liegt. Wo wird es mit ihr erwachen?
Bildquelle: Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0
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