Wie wäre es denn, wenn die Gewählten jetzt einfach mal ihre Arbeit machten? Die Wählerinnen und Wähler haben entschieden. Das Ergebnis der Bundestagswahl zeigt einige Veränderungen im Wahlverhalten; die Unterschiede zwischen Groß und Klein sind geschrumpft; die Zurechnung zu Links oder Rechts wird schwieriger; doch insgesamt ist die Sitzverteilung im neuen Bundestag weit weniger kompliziert, als das langwierige Verfahren zur Regierungsbildung weismachen will. Verhandlungen bis tief in den Dezember hinein sind in der Sache nicht gerechtfertigt.
Es sei an das mahnende Wort von Willy Brandt erinnert, dass Gewählte nicht Erwählte sind. Sie erhalten einen Auftrag vom Wähler und stehen in der Pflicht, daraus das Beste zu machen – und zwar für das Land und seine Menschen und nicht etwa für die Partei oder die eigene Karriere. Die Demokratie braucht Regierung und Opposition gleichermaßen, und es hat etwas Anmaßendes wenn selbst die Verlierer einer Wahl nach der Macht greifen.
Da finden dann vor den Koalitionsverhandlungen nicht mehr nur Sondierungsgespräche sondern neuerdings auch Vorsondierungen statt. Die Medien schauen gebannt auf ein inhaltsleeres Nichts. Floskeln von Erneuerung und Aufbruch werden variiert, von Klippen, Schnittmengen und Vertrauen wird fabuliert, und alles bringt doch nur zum Ausdruck, dass die Sondierungsteams nichts verstanden haben. Es ist Zeit für Veränderungen. Besser heute als morgen. Da ist nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. Die großen Aufgaben dulden keinen weiteren Aufschub, und es wirkt ebenso machtversessen wie stümperhaft, ein geschlagenes Vierteljahr mit Schaulaufen und taktischen Manövern zu vergeuden.
Die Motive dahinter sind unlauter. Statt die überzeugendste Regierungskonstellation auszuloten, geht es zuallererst um die Zerstrittenheit innerhalb der jeweiligen Parteien. Bei Armin Laschet und den Unionsparteien ist das Zerwürfnis am augenfälligsten, der Erbfolgestreit tobt, Indiskretionen schießen wie Pfeile aus dem Hinterhalt. Auch die Grünen liefern sich einen internen Machtkampf zwischen Annalena Baerbock und Robert Habeck. Sie und die FDP – nurmehr neoliberale Christian-Lindner-Partei – zwingen Laschet den peinlichen Jamaika-Drang geradezu auf.
Gemeinsam benutzen die Kleinen den verbissenen Gescheiterten als Druckpotenzial gegenüber der SPD und Olaf Scholz. Der bewahrt die Ruhe. Die bemerkenswerte Geschlossenheit seiner Partei zeigt noch keine Risse. Doch passives Verharren passt nicht zur Rolle des aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten. Statt abzuwarten, wen sich Grüne und FDP zum Regierungschef erwählen, müsste Olaf Scholz jetzt vorangehen. Das Heft des Handelns gehört in seine Hand.
Unter den gegebenen Bedingungen gelingt das nur, wenn Scholz seinerseits eine Alternative ins Spiel bringt: die – ohne triftigen Grund hierzulande verpönte – Minderheitsregierung. Rot-Grün allein könnte – anders als die Ampel mit der FDP – einen ambitionierten Koalitionsvertrag schließen, der richtungsweisende Antworten auf die entscheidenden Zukunftsfragen gibt. Die Demokratie erfährt eine Belebung, wenn stets aufs Neue um Mehrheiten in der Sache gerungen wird. Verantwortungsvolle Politik gelingt, wenn das Schielen auf Posten und Pfründe aufhört und auch ideologische Gräben nicht mit gegenseitigen Geschenken zugekleistert werden. Eine Illusion, eine naive Träumerei? Nein. Angesichts der Überlebensfragen der Menschheit eine durchaus vernünftige Perspektive.
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