Der Vertrag der Ampel-Koalition hat die Blockade in der Wende des Stromsystems aufgelöst. Der bislang verantwortliche Bundeswirtschaftsminister verfolgte die Strategie, auf Sicht zu fahren. Er wollte den Ausbaubedarf im Stromsystem erst dann zur Wahrnehmung zulassen, wenn die vdL-Kommission ihren Green Deal von 2019 schließlich mit Punkt und Komma in das Gesetzblatt der EU eingestellt haben wird. Sein Abtritt macht es möglich, den aufgestauten Handlungsbedarf ungeschminkt ins Auge zu fassen. Deutlich wird nun: Die Situation ist prekär verzögert.
Die Richtung, in die es nun laut Ampelvertrag gehen soll, wird offenherzig technologie-deterministisch, also illiberal, skizziert – vielleicht der Eile wegen, die keine Suchbewegungen des Marktes mehr erlaubt. Im Wortlaut:
„Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts … verlangt den … massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, …. Dafür werden wir den für 2026 im Kohleausstiegsgesetz vorgesehenen Überprüfungsschritt bis spätestens Ende 2022 … vornehmen.
Die bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke sollen … auch an bisherigen Kraftwerksstandorten gebaut werden. Sie müssen so gebaut werden, dass sie auf klimaneutrale Gase (H2-ready) umgestellt werden können.“
Auffällig ist im Ampelvertrag die Formulierung „Die bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke“. Damit wird das aus der Vergangenheit, dem Zeitalter der Verbrennungskraftwerke, überkommene Narrativ unkritisch prolongiert, nach dem für die Versorgungssicherheit das Angebot, die Kraftwerke, alleine zuständig seien – unabhängig davon, ob sie mit Gas oder später mit Erneuerbaren Energien betrieben werden. Die Pointe des neuen Stromsystems, mit Markt, digitialisiert und vielfältigen Mitwirkungsmöglichkeiten der „Prosumer“, ist aber, dass zum Ausgleich nun endlich auch die Nachfrageseite mit ins Spiel gebracht werden soll – wer in einer Dunkelflaute z.B. seinen PKW aus dem Netz tanken können will, muss sich das, nach Marktlogik, ordentlich etwas kosten lassen; dann wird sich die Nachfrage zu Zeiten der extremen Angebots-Knappheit als recht flexibel erweisen. Aber ausgerechnet die Liberalen in der Koalition haben hier das Vertrauen in den Markt, ihre Handschrift, vergessen.
Eine Untersuchung des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (EWI) hat das von der neuen Koalition so asymmetrisch programmatisch Mitgeteilte zu beziffern unternommen – in diesem illiberal technologisch überfixierten Geiste. Die Bezifferung des EWI unterscheidet zwei Elemente:
- Auf der Nachfrageseite wird mit dem Vertrag der Ampel-Koalition bis 2030 Zweierlei an Bedarfs-Zuwachs endlich eingeräumt:
(i) 10 GW an Kapazität von Elektrolyseuren, die Wasserstoff (H2) in Höhe von 30% des Bedarfs in 2030 mit einem Stromeinsatz von 30 TWh/a inländisch erzeugen sollen – 70 % des H2 nur noch werden importiert;
(ii) ein Bestand von 15 Mio. vollelektrischer PKW (BEV) im Jahre 2030, welche dann 60 TWh/a an Elektrizität erfordern – bei gleicher Volllaststundenzahl braucht das 20 GW.
Für beide neuen Nachfragearten zusammen kommt das EWI auf einen Anstieg des Bedarfs sog. „steuerbarer Leistung“ im Stromsystem in Höhe von 30 GW. - Angebotsseitig gilt: Der Bedarf an steuerbarer, d.h. willkürlich einsetzbarer, Kraftwerksleistung wird aber nicht um diese 30 GW ansteigen, sondern nur von gegenwärtig 71 GW, auf 95 GW in 2030; d.i. ein Anstieg um 24 GW bzw. 34%. Rechnet man andere Deckungsoptionen gegen, so liegt eine verbleibende Lücke bei 23 GW. Ein Joker ist der Beitrag durch Importe, der unverändert wie heute mit 10 GW angesetzt wird. 23 GW an Leistung muss bis zum Jahre 2030, so erklärt das EWI mit seinem Vorstoß, als neue Gaskraftwerke zugebaut werden. Das ist die quantitative Interpretation der zitierten Passage des Ampelvertrags.
Die Wende im Stromsystem, die nun, im Jahrzehnt bis 2030, angegangen wird, ist andersartig, sie ist neuartigen Charakters. Bislang ging es bei der Wende in den Quellen der Stromerzeugung allein um Kraftwerks-Substitution, ohne systemische Konsequenzen. Die thermischen Kraftwerke gaben im Jahre 2019, so das EWI, noch ein Sicherheitspolster steuerbarer, d.h. willkürlich einsetzbarer, Kraftwerksleistung von 37 GW. Mit dem nun in Aussicht gestellten vorgezogenen Abgang von 56 GW an thermischer Kapazität verlassen bis 2030 mehr Kraftwerke das System als das Sicherheitspolster von 37 GW hergibt. Nun muss systemisch etwas geschehen. Der Kohleausstieg bis 2030 kann überambitioniert sein. Deshalb die Einschränkung „idealerweise“ im Text der Koalition. Es kann aber auch sein, dass man das Wort „Kohleausstieg“, welches man in zweierlei Weise auslegen kann, schließlich nur als Ausstieg aus der Nutzung im Markt zu verstehen hat, nicht aber als Ausstieg aus der Nutzung in der Reserve.
Der Schlüsselbegriff „Ausstieg“, der das leitende Narrativ der Ampel-Koalition und der quantitativen Auslegung durch das EWI prägt, meint einen Substitutionsprozess hin zum Erdgas. Erdgas ist ebenfalls ein fossiler Energieträger, der aber die folgende wichtige Andersartigkeit gegenüber Kernbrennstoff, Braun- und Steinkohle aufweist. Die thermischen Kraftwerke, die im jetzt begonnenen Jahrzehnt abgeschaltet und durch Gaskraftwerke ersetzt werden sollen, hatten sämtlich ihren Brennstoffvorrat gleichsam „auf dem Hof“ gespeichert – deshalb konnten sie zugleich eine Leistungsreserve sicher bieten. Die Kraftwerke, die nun auf’s Altenteil zu befördern sind, sind solche, die ihres Brennstoffs wegen nicht oder kaum geeignet sind, sukzessive weniger häufig eingesetzt und so peu à peu in eine Reserve-Funktion verschoben zu werden. Der Wandel ist nicht ein stetiges Weniger, es geht vielmehr um den Übergang in das Aus. Das ist bei Braunkohle- und Atom-Kraftwerken, die für die Grundlast konzipiert waren, offensichtlich unausweichlich. Bei Steinkohle-Kraftwerken dürfte nach meinem Urteil mit der EWI-Analyse das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.
Die Lücke soll nun durch Erdgas-Kraftwerke gefüllt werden. Rein chemisch gesehen handelt es sich hier um eine Substitution von Speichern: Kernbrennstoff, Braunkohle und Steinkohle sollen ersetzt werden durch Gas. Das ist ein Unterschied, der auch institutionell von Belang ist: Bislang lagerte der gespeicherte Energievorrat quasi auf dem Gelände des Kraftwerksbetreibers, war in dessen Verfügung – bei Braunkohle ist dieser Satz korrekt, wenn man die Tagebaue großzügig zum „Gelände“ des Kraftwerksbetreibers zurechnet. Damit, mit diesem Beispiel, zeigt sich aber schon die Brüchigkeit dieses Sicherheits-Konzepts. Es gab zum Jahreswechsel 1978/79, einem sog. Extremwinter, einen Temperatursturz innerhalb von 24 Stunden um bis zu 30 Grad. Zum Jahreswechsel war es plötzlich minus 20 Grad kalt. In den Braunkohletagebauen der DDR gefror die nasse Kohle, ihr Abbau geriet ins Stocken. In den Güterwaggons fror die Kohle ebenfalls fest und konnte bei den Kraftwerken nicht mehr entladen werden. Die Kraftwerke und damit die Stromversorgung waren davon abhängig. Es kam zu Stromabschaltungen, ganz Thüringen wurde am 1. Januar 1979 vom Netz getrennt.
Beim Stichwort „Verlass auf Gas-Kraftwerke“ fällt einem zudem das Drama in Texas im Februar 2021 ein, wo es zu großflächigen rollierenden Stromabschaltungen kam. Grund war hier hauptsächlich ein Ausfall von Gaskraftwerken, die in die Sicherheitsreserve eingerechnet worden waren und die ihre Verfügbarkeit auch vertraglich zugesagt hatten. Doch als es ernst wurde, wurden sie entweder selbst nicht mit Gas beliefert, weil es bei den Gasförderanlagen in Texas zuging wie weiland in der DDR; oder weil die Gaskraftwerksbetreiber zuviel versprochen hatten und die Extremwinter-Festigkeit ihrer Anlagen, die auf Betriebsbedingungen unter tropischen Verhältnissen ausgelegt waren, versäumt hatten herzustellen – „verdeckter Fehler“ nennen das die Risiko-Experten. Es gilt auch hier Alfred Preißlers legendärer Satz: „Grau is‘ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is‘ auf’m Platz.“ Vermutlich hätte er noch die Lebensweisheit, nun an die Grünen gerichtet, hinzugefügt: Wenn man die Sicherheit des Stromsystems von Erdgaslieferungen abhängig machen will, ist es nicht so klug, es sich mit dem Hauptlieferanten zu verscherzen.
Bildquelle: Wikipedia, Von C.Koennecke, Stadtwerke Düsseldorf AG – Stadtwerke Düsseldorf AG, CC BY-SA 4.0