Bündnisse kommen über Personen zustande, nicht über Sachfragen, wusste der langjährige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder. Trotzdem wird bei den jetzt wieder anstehenden Koalitionsverhandlungen zwischen FDP, den Grünen, demnächst mit SPD und CDU/CSU immer das Gegenteil behauptet, frei nach Bertold Brecht: Erst kommt die Sache, dann das Personal. Ein Ammenmärchen.
Die Spitzenpolitiker von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen werden nicht müde zu behaupten, bei den jetzt anstehenden Koalitionsgesprächen gehe es nicht um Personen, sondern erst einmal nur um die Sachfragen. Ich halte das für ein Ammenmärchen. Natürlich wird das gelbgrüne Quartett – Annalena Baerbock, Robert Habeck, Volker Wissing und Christian Lindner – bei der ersten Begegnung über Namen und Personen tatsächlich noch nicht gesprochen haben. Das gehört sich nicht und wäre auch unklug. Schließlich legt man beim Pokern die Karten immer erst am Ende auf den Tisch. Das heißt aber nicht, dass nicht jeder und jede längst im Hinterkopf hat, mit wem er oder sie die Ämter und Ressorts besetzen will, über deren Aufteilung und Zuschnitt man sich unterhält. Oder – um im Bilde zu bleiben – wie die Karten aussehen, die sie in der Hand haben, mit welchem Personal sie die nächste Regierung bilden wollen. Deshalb kann mir keiner erzählen, dass die sogenannten Sachfragen völlig unabhängig vom Personal diskutiert und entschieden werden. Im Gegenteil: Das Personal bestimmt die Sachfragen.
Wenn zum Beispiel Christian Lindner dem Robert Habeck wortreich erklärt, warum eine Ampel am besten funktionieren würde, wenn die Freien Demokraten das für Steuern und Finanzen (und im Übrigen auch für Cum-Ex und Geldwäsche) zuständige Ministerium bekommen, dann weiß jeder im Raum, dass dies auch ein Bewerbungsgespräch ist. Lindner selbst will es haben. CDU-Chef Laschet würde es ihm mit Kusshand geben. Aber es gibt einen wichtigen Mitbewerber: Auch Habeck ist scharf auf dieses Ressort. Sobald man also in kleiner oder größerer Runde über den Ressortzuschnitt redet, wird aus der Sachfrage sofort ein Gespräch über Personen. Und zwar selbst dann, wenn keiner der daran Beteiligten zugibt, dass und welche persönlichen Interessen sie haben.
Anderes Beispiel: Es sind zwei Präsidentenämter zu besetzen, die – auf den ersten Blick jedenfalls – nur mittelbar etwas miteinander zu tun haben, für das Koalitionsklima insgesamt aber von Bedeutung werden könnten: Das des Parlamentspräsidenten (sofort) und das des Bundespräsidenten (demnächst). Die Amtszeit von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier endet kommendes Jahr im März. Er selbst hat Interesse daran bekundet, weiterzumachen. FDP-Chef Lindner hat Steinmeier öffentlich dafür gelobt. Die SPD steht ohnehin hinter ihm. Nun aber gibt es eine etwas verzwickte Gemengelage. Kattrin Göring-Eckert, die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion, hat Interesse an dem Amt. Und zwar läuft ihre Bewerbung unter dem Motto: Endlich soll mal eine Frau Bundespräsidentin werden.
Die SPD hat nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder Anspruch auf den Stuhl des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Sie könnte eine Frau vorschlagen und damit das Argument entkräften, dass das Amt des Bundespräsidenten mit einer Frau besetzt werden muss. Das Problem der Sozialdemokraten: Sie haben in ihrer neuen Fraktion keine Frau, die erstens so bekannt und zweitens geeignet genug erscheint, das zweithöchste Amt in der Republik zu besetzen. Annemarie Renger (SPD) und Rita Süssmuth (CDU) waren zwei allseits respektierte Frauen an der Spitze des Parlaments. Aber wen soll man jetzt vorschlagen? Christine Lambrecht, die noch amtierende Justizministerin? Ulla Schmidt, die frühere Gesundheitsministerin? Katarina Barley, die ins Europaparlament gewechselte frühere Justizministerin? Alle drei wären in der Lage und auch bekannt genug, um Schäuble zu beerben. Aber sie sind nicht mehr im Bundestag, stehen als Präsidentin also nicht mehr zur Verfügung.
Was tun? Die Präsidentenfrage hat bei Koalitionsverhandlungen immer eine wichtige Rolle gespielt. Sie stand zwar immer im Hintergrund gab manchmal aber auch den letzten Ausschlag. Und sie wird auch und gerade jetzt wieder eine Rolle spielen. Wie es ausgeht, lässt sich noch nicht prognostizieren. Vielleicht kommt die SPD ja auf die Idee, großzügig auf das Parlaments-Amt zu verzichten und es den Grünen anzubieten. Die könnten dann Frau Göring Eckert nominieren und Steinmeiers zweite Amtszeit wäre gesichert… Unvorstellbar? Eigentlich ja. Aber in der derzeitigen Lage kann man nichts mehr ausschließen. Jedenfalls soll niemand mehr behaupten, bei Koalitionsverhandlungen spiele das Personal immer erst ganz zum Schluss eine Rolle. Der langjährige CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder, selbst jahrelang an vielen solchen Verhandlungen beteiligt, hat das einmal auf eine schöne Formel gebracht. Bündnisse, sagte er, kämen über Personen zustande, nicht über Sachfragen.
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