Endlich ist er auf dem Rückzug, aber noch im Amt, aber nicht in Würde. Das wäre auch zuviel verlangt von einem wie Boris Johnson, es wäre nicht sein Stil. Im Grunde ist es so, wie es Nordirland-Minister Brandon Lewis in einem Brief an den Premier geschrieben hatte, um seinen eigenen Rücktritt vom Amt zu begründen: „Eine anständige und verantwortungsvolle Regierung braucht Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und gegenseitigen Respekt. Ich glaube nicht, dass diese Werte noch hochgehalten werden.“ Sie wurden es nie unter Johnson, dem es anscheinend nie um das Land ging, dem er als Premier hätte dienen sollen, sondern immer nur um sich selbst. Das Land verdiene, so der von Johnson kurz zuvor berufene Finanzminister Nadhim Zahawi, eine Regierung, „die nicht nur stabil ist, sondern auch mit Integriltät händelt.“ Da ist es wieder, was Johnson nicht auszeichnet: Integrität.
Boris Johnson hat das Land all die Jahre belogen, betrogen und ins Chaos geführt Das war beim Brexit nicht anders als später bei Partygate oder bei der Berufung eines Ministers, von dessen Sex-Geschichten mit anderen Männern er erst nichts gewusst haben wollte, was sich aber wieder mal als falsch herausstellte. Typisch für ihn. Wäre er nicht Premier eines so wichtigen Landes, man hätte über den Clown, der er sein wollte, herzhaft lachen können, aber das wäre zu kurz gegriffen. Denn mit dem Amt verbindet sich nun mal eine große Verantwortung, von der einer wie Johnson aber nichts wissen sollte. Der Bonner Karikaturist Burkhard Mohr brachte das Problem Johnson in seiner Karikatur in der SZ
auf den Punkt: Johnson, in Feierlaune, die Flasche Schampus in seinem Gepäckstück. Dann geh ich eben wieder nach Hause, lässt der Zeichner ihn sagen auf dem Weg ins Casino Royal.
Um das klar zu machen: der Mann geht nicht freiwillig, zunächst als Chef der Konservativen, später, hoffentlich nicht viel später als Premier von Großbritannien. Erst als die Tories ihm die Unterstützung entzogen, als quasi ein Minister nach dem anderen ging, als täglich Regierungsmitarbeiter kündigten, war er nicht mehr zu halten. 59 heißt die Zahl der Rücktritte. Unvorstellbar, aber wahr. Die anderen waren schuld, so Johnson, doch nicht er, er hat keine Fehler gemacht, hatte noch wichtige Aufgaben vor sich. Es war seiner Meinung der Herdentrieb der Parteifreunde, der ihn zum Abtritt zwang. Fast hätte man glauben können, diesen Kerl müsste man aus den Ämtern tragen, so klebte er am Sessel.
Er war ein großer Wahlsieger
Er ist der 10. Premierminister in der Geschichte der Rücktritte der Premiers. Johnson war eine Zumutung für viele. Anfangs mag mancher Brite über den Hang des Politikers in Downing Street 10 zu merkwürdigen Auftritten in der Öffentlicheit gelächelt haben. Der britische Humor mag einiges ertragen haben, aber irgendwann ist es zuviel, da ist man ermüdet von diesem Premier, der ja erst drei Jahre im Amt war. Man erinnert sich an die Zeit, da er Theresa May ersetzte,die einst im Mai 2019 ihren Rücktritt bekanntgab und dann noch etwas weitermachte als Übergangslösung, um zwei Monate danach endgültig auszuscheiden. Es ist kaum vergessen, dass Boris Johnsam damals, auf dem Höhepunkt des Brexit-Chaos, das er mit verursacht hatte, den Konservativen einen grandiosen Wahlsieg bescherte.
Der Vergleich mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump drängt sich auf, aber er ist schief. Johnson mag unbelehrbar sein, das hat man während der Brexit-Verhandlungen erlebt, auch unberechenbar, selbstverliebt, exzentrisch. Dass er eine Wahl nicht anerkennen würde wie Trump, das kann man sich nicht vorstellen, er würde gewiss auch die Anhänger nicht auf die Straße treiben, um eine Revolte ums Amt anzuheizen. Das alles nicht. Aber dem Ruf des Politikers hat er schweren Schaden zugefügt. Mal abwarten, wie der Nachfolger oder die Nachfolgerin die Scherben wegräumt, die Johnson angerichtet hat, und was dann folgt. Das Land befindet sich in einer Krise, wobei man zugeben muss, dass es nicht nur seine Fehler sind, die diese Krise ausmachen. Für den Ukraine-Krieg ist nun mal Wladimir Putin verantwortlich, auch so ein Selbstdarsteller, der geliebt werden will, der aber anders als Johnson ein Autokrat ist, ein kleiner Diktator. Die Preise auf der Insel steigen und steigen, schneller als hier, Energie und Lebensmittel werden teurer und teurer, die Inflation hat ein Tempo aufgenommen, das atemberaubend ist. Johnsons Brexit-Politik hat das Land gespalten in Gegner und Befürworter, er hat polarisiert. Schottland denkt wieder mal über seine Selbständigkeit nach, was ich während eines kurzen Trips durchs Land erfahren konnte. Die Nordirland-Frage bleibt im Zentrum des EU-Streits.
Das Erbe Johnsons wird Kopfzerbrechen verbreiten. Sein begonnener Rücktritt lässt ein Land aufatmen. Man hatte genug von ihm und seinen Eskapaden. Was London braucht, ist eine Politik des Vertrauens und der Verlässlichkeit. Einen Premier, der an das Land denkt und seine Bewohner, nicht an sich und seine Selbstdarstellung oder gar seine Vita für die Ewigkeit. Man braucht jemand, auf dessen Wort Verlass ist. Und mit dem Europa wieder vernünftig reden kann. Das wäre ja schon mal ein Anfang. Denn natürlich gehört Großbritannien auch nach dem Brexit zu Europa. Europa braucht Großbritannien und umgekehrt ist das genauso. Die Frage wird sein, inwieweit die Regierung Johnson überhaupt noch funktionsfähig ist.
Kein Grund zur Schadenfreude für Labour
Und was ist eigentlich mit der Oppositon, mit der Labour-Partei? Profitiert sie vom Chaos, das Johnson hinterlässt? In IPG-Journal der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung wird davor gewarnt. Es gebe keinen Grund zur Schadenfreude beim politischen Gegner. Die Krise in Großbritannien sei keine Krise Boris Johnsons, sondern eine strukturelle, „in der deutlich geworden sei, dass die Johnson-Jahre das demokratische System zu Gunsten von vermeintlich erfolgreichen populistischen Konzepten weiter haben erodieren lassen.“ Der Brexit habe schlimme Folgen für die britische Wirtschaft, heißt es in dem Beitrag, das Bruttoinlandsprodukt werde sich langfrisitig um vier Prozent verringern, britische Exporte in die EU seien bereits um 41 Prozent und die Importe um 29 Prozent eingebrochen. Die Einkommensungleicheit im Lande habe sich nach dem Brexit weiter verschlechtert und sei im übrigen eine der höchsten in Europa. Es zeichne sich eine Entwicklung ab, „nach der bis 2023 mehr als 1 Million Erwachsene in bitterer Armut leben werden. Die Brexit-Bilanz ist also mehr als mager.“
Dazu komme, dass auch die Labour-Führer Keir Starmer und Angela Rayner bei einer Arbeitssitzung in Durham 2021 die Corona-Regeln gebrochen hätten. Über ihnen hänge das Damokles-Schwert einer entsprechenden Anzeige. Beide hätten damals versichert, sofort zurückzutreten, wenn sie mit Bußgeldern belegt würden. Dann aber stünde Labour kopflos dar. Ferner sei Labour in sich zerstritten, gleich ob mit oder ohne ihren Chef Starmer. Das Verhältnis zu den Gewerkschaften habe sich nachhaltig abgekühlt. Großbritannien, so die IPG, stehe vor einem „Summer of discontent“. Streiks stünden bevor. Labour-Chef Starmer habe zudem betont, „mit Labour gäbe es kein Zurück in die EU.“ Stattdessen werde man den Brexit zum Laufen bringen. „Make Brexit work.“ Starmers Profil sei aber unklar und das seiner Partei auch. Umfragen zufolge würde Labour höchstens eine Minderheitsregierung führen können, unterstützt durch Liberaldemokraten und die schottischen Nationalisten. Letztere würden aber einen hohen Preis verlangen: ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Auch das sei dann ein Nachlass von Boris Johnson.
Bildquelle: Chatham House, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons