Mit dem Satz „Am Anfang war Napoleon“ beginnt die dreibändige „Deutsche Geschichte“ des Historikers Thomas Nipperdey über die Zeit von 1800 bis 1918. Am 5. Mai 2021 jährt sich der Todestag Napoleons zum zweihundertsten Mal. Der Todestag des Franzosen ist ein guter Anlass, einmal genauer über Kontinuitätslinien in der Geschichte nachzudenken. Denn wenn man so will, stand Napoleon nicht nur am Anfang der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch am Anfang der Geschichte Nordrhein-Westfalens.
Aber von Anfang an: Ohne Napoleon und die Napoleonischen Kriege hätte es keinen Wiener Kongress gegeben, auf dem die Nachkriegsordnung vereinbart wurde, mit der sich das Königreich Preußen weit nach Westen ausdehnte und das Rheinland und Westfalen einverleibte. Und erst unter der Herrschaft Preußens entwickelten sich die Rhein-Provinz und Westfalen zu administrativen Einheiten innerhalb eines Königreichs, was sie vorher nicht gewesen waren. Sichtbarstes Symbol der Herrschaft der Hohenzollern in den neuen Gebieten war übrigens der Weiterbau bzw. die Fertigstellung des Kölner Doms, begonnen 1842 und vollendet 1880. Ohne Napoleon gäbe es sie also nicht, die „Hohenzollerntürme“, wie der Kölner Heinrich Böll die Domtürme einmal abschätzig genannt hat.
Ohne die Hohenzollern und die Hassliebe der weitgehend katholischen Provinzen zum protestantischen Herrscherhaus in Berlin hätten das Rheinland und Westfalen auch kein so starkes landsmannschaftliches Selbstverständnis und -bewusstsein entwickelt, wie es sich spätestens nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 zeigte. Dieses Identitäts- und Heimatgefühl blieb auch in der Weimarer Republik intakt. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte es zunächst zu zwei voneinander getrennten provisorischen Regierungen, die in der Tradition der vormaligen preußischen Provinzen standen, obwohl es noch keine definitiven Entscheidungen über die genauen territorialen Zuschnitte gab. Sie standen unter der Aufsicht der britischen Besatzungsmacht und hätten durchaus zu Landesregierungen werden können. Es existierten auch bereits Beratende Provinzialräte dieser, Oberpräsidien genannten Regierungen. Aber statt zu eigenständigen Parlamenten wurden die beiden Provinzialräte von den Briten zum Ernannten Landtag des neuen Landes NRW zusammengelegt.
Am Anfang Nordrhein-Westfalens war also nicht so sehr Napoleon, sondern die britische Besatzungsmacht. Ohne sie gäbe es das heutige Bundesland nicht. Westfalen wollte 1946 ein eigenständiges Land werden. Der Rheinprovinz fehlte der südliche Teil, der zur französischen Besatzungszone gehörte. Deshalb sah man im Rheinland eine mögliche Zusammenlegung mit Westfalen eher positiv. Das Problem war das Ruhrgebiet, für das die alliierten Siegermächte unterschiedliche Absichten hegten, bis hin zu einer längerfristigen internationalen Kontrolle. Das verhinderten die Briten mit der Zusammenlegung der beiden Provinzen zum Land Nordrhein-Westfalen, mit dem Ruhrgebiet in der Mitte. Deutsche Vorstellungen zur territorialen Neuordnung, die teilweise schon in der sogenannten Reichsreformdebatte der Weimarer Republik debattiert worden waren, dienten möglicherweise als Blaupause. Darüber sind sich die Historiker auch heute noch nicht ganz einig, aber ausschlaggebend für die britische Entscheidung waren die deutschen Vorschläge und Wünsche nicht. Der damalige Oberpräsident der Nord-Rheinprovinz, Robert Lehr, hat es im Juli 1946 so ausgedrückt: „An dem Entschluß selbst haben wir nicht mitgewirkt, aber in den Fragen zur Aufgliederung der britischen Zone haben wir sehr stark das Unsrige dazu beigetragen.“ Wenn das Land Nordrhein-Westfalen im Oktober 2021 seinen 75. Geburtstag feiert, zweihundert Jahre nach Napoleons Tod, lassen sich natürlich viele Kontinuitätslinien aufzeigen. Diesen Linien ist leider gemein, dass sie nicht erklärt werden können ohne die Kriege, die im 19. und 20. Jahrhundert tobten. NRW ist ein direktes Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, aber dieser ist ohne das Dritte Reich, die Weimarer Republik, den Ersten Weltkrieg, das Deutsche Kaiserreich und das Königreich Preußen nicht wirklich zu verstehen. Also stimmt der Satz von Thomas Nipperdey über Napoleon, aber er stimmt auch wieder nicht. Denn natürlich hatten der Aufstieg und Fall Napoleons ihre eigene Vorgeschichte, und sie sind auch mitnichten der einzige Ausgangspunkt der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Der 200. Todestag des Franzosen ist jedoch ein guter Anlass, einmal genauer über historische Kontinuitätslinien nachzudenken.
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