Es war in der Mittagszeit, als in Deutschland für ein paar Stunden viele Menschen die Arbeit vergaßen, sich einfach vor den Fernsehern in Schaufenstern der Kaufhäuser versammelten und gebannt, gespannt, nervös, mitfiebernd dem Ende der Debatte im Bundestag lauschten. Andere verfolgten die Stunde der Entscheidung am kleinen mitgeführten Koffer-Radio. Es war der 27. April 1972. Ich war in der Lokalredaktion der WAZ in Wattenscheid beschäftigt. Überall bildeten sich auch in dieser damals noch selbständigen Revier-Stadt Menschentrauben. Und als Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel das Ergebnis bekanntgab,(Barzel erhielt nur 247 statt der erforderlichen 249) fielen sich wildfremde Menschen in die Arme, vor Begeisterung, ja vor Erleichterung, weil man ja annehmen musste, dass Rainer Barzel das Rennen gewinnen und Willy Brandt, der beliebte Sozialdemokrat, seinen Hut nehmen würde. Jubel allerorten, als hätte Schalke oder Dortmund gerade einen großen Sieg errungen, oder Deutschland die WM gewonnen. Willy-Rufe. Ein paar Meter weiter sah man die dünnen Reihen der Enttäuschten, denen der Schrei im Halse steckengeblieben war, weil der sicher geglaubte Sieg ausblieb.
Selten ging ein politisches Ereignis den Deutschen so nah wie jenes am 27. April 1972. Empörung und Wut über das Vorgehen der Union bei den SPD-Anhängern. Wut auf Herbert Hupka, Präsident der Landsmannschaft Schlesien, ein Sozialdemokrat. Die von Brandt und Scheel durch ihre Ostpolitik beabsichtigte völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens empfand Hupka als Verrat, weil dies den endgültigen Verzicht auf die einstigen deutschen Ostgebiete bedeutete. Andere aus der FDP wie der Niedersache Wilhelm Helms lehnten Brandts Ostpolitik ebenfalls ab. Es wurde geraunt, Helms sei der Wechsel zur Union finanziell erleichtert worden.
„Willy Brandt muss Kanzler bleiben“
Bernd Rother, Historiker, hat über diese Zeit ein Buch geschrieben und die Stimmung zusammengefasst. „Willy Brandt muss Kanzler bleiben“, so der Titel, der zugleich die Tonlage von Kundgebungen zugunsten Brandts wiedergibt. Auf Plakaten fand sich der Slogan tausendfach, auf denen zugleich mit Warnstreiks gedroht wurde. Über 400000 Menschen, so Rother, hätten sich an Kundgebunden, Betriebsversammlungen, Streiks und Demonstrationen beteiligt. Der Druck, so Rother, sei nicht von der SPD oder den Gewerkschaften gekommen, sondern von unten, der Basis des Volkes, wenn man so will. „Gerade in der Arbeiterschaft gab es das verbreitete Gefühl: Endlich ist einer von uns Kanzler, und schon will man ihn mit zweifelhaften Mitteln wieder aus dem Amt jagen.“ So Bernd Rother. Und im Bonner Generalanzeiger las ich in einer Reportage zu dem Thema: Am Abend des 26. April seien 30000 Menschen durch Bonn gezogen, um Partei für Brandt zu ergreifen. Der Marktplatz sei ein einziges Menschenmeer gewesen, zitiert das Blatt seinen späteren Vize-Chefredakteur, Ulrich Lüke.
Die Stimmung im Lande war emotional hoch geladen, mehr noch, sie war vergiftet, weil die Unions-Opposition dem Bundeskanzler Willy Brandt Verrat deutscher Interessen vorwarf, Ausverkauf deutschen Landes im Osten. Brandt wollte Versöhnung, er, der nie Nazi gewesen war, sondern von ihnen verfolgt, hatte den Feinden von einst, den Sowjets, den Polen, den Tschechen, die Hand zur Aussöhnung gereicht. Im Namen eines neuen, eines friedfertigen Deutschlands, wollte er den Eisernen Vorhang durchlässiger machen, um den Menschen zu helfen. Die Union, an der Spitrze CSU-Chef Franz-Josef Strauß, passte diese Politik des Friedens, des Wandels durch Annäherung nicht. Deshalb das konstruktive Misstrauensvotum. das erst möglich geworden war, weil Abgeordnete der SPD und der FDP übergelaufen waren auf die Seite der damaligen Oppositon. Geld war geflossen, auch aus der DDR, Leute waren gekauft worden, bestochen. Und wie Hartmut Palmer in seinem Buch „Verrat am Rhein“, das hier schon mal besprochen worden war, schilderte, habe Strauß gegen Barzel gestimmt. So habe der es ihm kurz vor seinem Tod gesagt.
Ehmke ließ Akten in Kisten verstauen
Die Koalition aus SPD und FDP hatte so viele Mandatsträger verloren, dass die Union sich sicher war. „So gewiss ist der Herausforderer seines Sieges“, schreibt Peter Merseburger in seiner großen Biografie Willy Brandts, „so sicher sieht er sich bereits als neuen Kanzler amtieren, dass er das Bundespräsidialamt bitten lässt, die Ernennungsurkunde im voraus zu drucken.“ Das Ergebnis wird für 14 Uhr erwartet. Barzel will noch am selben Tag um 17 Uhr ins Palais Schaumburg, dem Sitz des Kanzlers, einziehen, wo Kanzleramtschef Horst Ehmke die wichtigsten Akten in Kisten verstauen ließ. „Für ihren Transport in die Baracke mietet SPD-Bundesgeschäftsführer Holger Börner eigens einen Lastwagen an.“ So Merseburger.
Auch wenn das konstruktive Misstrauensvotum ausdrücklich in der Verfassung steht, entzündeten sich am Vorgehen der Opposition, mitten in der Legislaturperiode die Regierung stürzen zu wollen, heftige Debatten. Von Überläufern war die Rede, gekauften Zeitgenossen, die den Friedensnobelpreisträger aus dem Amt hebeln wollten. 80 Prozent der Deutschen waren damals, so Umfrageergebnisse, mit Brandts Entspannungspolitik zufrieden. Und doch schien die Nation im Grunde gespalten. Im Ruhrgebiet waren die Mehrheiten klar für Brandt, auf dem Land sah das anders aus. Ich muss da nur in die eigene Verwandtschaft schauen. Die haben ihn gehasst, den Sozi, wie sie ihn verächtlich nannten, weil er ein uneheliches Kind war des Vaters Frahm, verspotteten sie ihn. Sie nahmen dem SPD-Mann übel, dass er geflohen war vor den Nazis. Emigrant schimpften sie ihn, verächtlich. Und dann war da noch der Herbert Wehner, dieser einstige Kommunist. Wer weiß denn, ob der nicht in Wahrheit Kommunist geblieben ist, fragten diese Kreise und unterstellten ihm im Grunde manches Böse.
Die Ehrenrettung der Deutschen
Und dass diese SPD einst, gemeint 1933, als einzige Partei gegen das Ermächtigungsgesetz Hitlers gestimmt hatte, ließen diese Leute nicht gelten. Und dass Sozialdemokraten ins KZ gesteckt und ermordet wurden, interessierte sie kaum. Wenn ein Historiker wie Heinrich August Winkler diese Haltung der SPD später würdigte als Ehrenrettung der Deutschen, so galt das bei diesen Konservativen nicht. So war die Stimmung Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre. Und wenn jemand wie mein älterer Bruder bekannte, er sei SPD-Mitglied, dann hätten sich diese Kreise am liebsten bekreuzigt. Ich erinnere mich noch, als er von Wahlkämpfen der SPD berichtete und wie sie am Niederrhein angefeindet wurden. Wenn sie Wahlzettel in die Postkästen der Bauernhöfe werfen wollten, mussten sie sich sputen, weil die Bauern die Hunde von der Leine ließen.
Andererseits: „Bürgerkriegsähnliche Zustände“ befürchtete Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit“ für den Fall des Sieges von Barzel. Symbolische Arbeitsniederlegungen sah man auf den Staat zukommen, Demonstrationen, Kundgebungen. Barzel werde scheitern, gibt Merseburger Stimmen aus dem Unions-Lager wieder, weil sein Vorhaben kein gutes Ende nehmen werde. Für Deutschland.
Ohne Frieden ist alles nichts
Und als das Ergebnis bekannt gegeben wurde vom Bundestagspräsidenten Hassel, sah man einen ungläubigen Barzel, wie er nicht wahrhaben wollte, was da gerade veröffentlicht worden war. Er fasste sich an den Kopf und verstand die Welt nicht mehr. Und dann der Sieger Willy Brandt, ebenso für einen Moment ungläubig über das soeben Gehörte, bis dann seine Parteifreunde auf ihn losstürmten, ihn umarmten, auf die Schulter klopften.
Was wäre heute, fragte kürzlich Heribert Prantl in seiner SZ-Kolumne, würde Brandt, wäre er Kanzler, schwere Waffen liefern? „Er würde jedenfalls verhandeln, er würde auch für Verhandlungen mit Putin werben, weil man, würde er sagen, notfalls auch mit dem Teufel reden muss, wenn es um den Frieden geht.“ Frieden, dazu hatte er Folgendes gesagt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“