Aufmärsche, Demonstrationen, Schüsse kennzeichnen die sogenannte Machtergreifung der Nazis vor 90 Jahren, die aber eher eine Machtübergabe durch den Reichspräsidenten Hindenburg an Adolf Hitler war. Überall Hissen der Hakenkreuzfahne sowohl im Arkadenhof der Bonner Universität wie auf dem neuen Rathaus in München. Hier wie da, im Grunde fast überall im Reich Menschenmassen, um dem Führer zu huldigen, „der sich als den von der Vorsehung auserwählten Erlöser der Deutschen und damit zugleich der germanischen Rasse betrachtete“. (Heinrich August Winkler) . „Aus tausend Kehlen strömten die Kampflieder in den Abend hinein“, liest man im Bonner Generalanzeiger schwülstig-begeisternd. Und: „In der Nacht zum 1. Februar fallen am Talweg auf ein Haus von KPD-Mitgliedern die ersten Schüsse.“ Der Leser erschrickt ob dieser Rückblicke auf eine Zeit, in der sich düstere Wolken am Horizont bilden. Der Schein der tausend Fackeln, man kann das auch vom Ende her so sehen: als im Reich die Lichter ausgingen.
Die Begeisterung für einen wie Hitler muss immens gewesen sein, seine Anhänger schrien sich die Kehlen heiser und verrenkten sich die Arme zum Hitler-Gruß, als wäre er der Heiland. Ian Kershaw zitiert in seinem Buch „Höllensturz“ einen 18jährigen Angestellten, der 1929 in die NSDAP eingetreten war und den die „mitreißende Rede eines Nationalsozialisten aus der Fassung brachte: „Ich war nicht nur hingerissen von seiner leidenschaftlichen Rede, sondern auch von seiner aufrichtigen Hingabe an das deutsche Volk als Ganzes, dessen größtes Unglück seine Zersplitterung in so viele Parteien und Klassen war. Endlich ein praktischer Vorschlag für die Erneuerung des Volkes! Zerschlagt die Parteien! Weg mit den Klassen! Eine wirkliche Volksgemeinschaft… Sie allein gab die Hoffnung auf Rettung des deutschen Vaterlands.“ Fürchterlich, diese Sprache.
Massen strömten zu den Nazis
Wie dieser Mann, so schildert Kershaw die Stimmung weiter, „strömten zwischen 1930 und 1933 Hunderttausende aus allen möglichen, individuellen Motiven, in die NS-Bewegung.“ In jedem Dorf bildeten sich NSDAP- und Stahlhelm-Gruppen, so der Bonner GA in seiner Rückschau, in der auch schon der Kampf gegen die Juden im Zentrum der braunen Ideologen stand. Ein hochrangiger NS-Funktionär namens Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe habe „in scharfen Worten den unseligen Einfluss des Internationalen Judentums auf die geistige und wirtschaftliche Entwicklung Europas gegeißelt“. Die Rede wurde gehalten in dem kleinen Ort Ollheim im Swisttal. In Deutschland, so lese ich im GA weiter, „dürfe es nur noch einen Kampf geben: den Kampf gegen den hinter dem Bolschewismus stehenden internationalen Juden.“ Am Ende stand Auschwitz, war der Holocaust mit sechs Millionen ermordeten Juden.
Auch die deutsche Industrie lässt sich von Hitler mitreißen, sie sieht in ihm die große Chance, Geld zu verdienen. Man lese das kleine, aber sehr lesenswerte Buch von Eric Vuillard „Die Tagesordnung“. Darin beschreibt der großartige Autor, wie sich auf Einladung von Reichstagspräsident Hermann Göring 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Hitler einfinden, um über mögliche finanzielle Unterstützung der klammen NSDAP zu reden: Krupp ist dabei, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz, kaum ein Name von Rang fehlt. Und Hitler macht den Herren der Industrie klar, dass er aufräumen werde, Schluss machen werde mit Demokratie usw. Die Kriegsglocken läuten und die Herren flohlocken ob des Geldes, das ihre Kasse füllen werde. Und sie zahlen in die Kasse der Nazis. Niemand von ihnen kann später, wenn er ehrlich mit sich wäre, sagen, er habe nichts gewusst von der Juden-Vernichtung, dem Krieg, den Zwangsarbeitern, die billige Arbeitskräfte waren und die sie ausgebeutet haben.
Thomas Mann im Schweizer Exil
Einer wie der Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann wird das mit anderen Augen verfolgt haben, was in seinem Deutschland gerade passierte. Den Monat Januar hat Thomas Mann an der Rede „Leiden und Größe Richard Wagners“ gearbeitet. 70 Seiten umfasste das Werk, am 30. Januar 1933, war der Vortrag fertig. Die folgende Passage entnehme ich der Schilderung dreier Studentinnen/Studenten aus Basel, aufgeschrieben in ihrem Blog unter der Überschrift „Thomas Mann im Schweizer Exil“: “ Als Hitler Reichskanzler wurde, brach Thomas Mann zu einem Urlaub und anschließender Lesereise nach Amsterdam, Brüssel und Paris auf. Während er im Ausland weilte, brannte am 27. Februar 1933 der Reichstag und am 5. März fanden die Reichstagswahlen, begleitet vom Terror der Nationalsozialisten, statt. Aufgrund dieser Umstände und der Gefahr, die sich für politische Gegner:innen wie ihn abzeichnete, entschied er sich, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.“ Thomas Mann ließ sich mit seiner Familie in Küsnacht bei Zürich nieder. Den Kontakt zu seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer konnte er bis 1936 halten, dann wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und seine Werke im „Dritten Reich“ verboten.
Thomas Mann hatte den Nationalsozialismus „eine Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarktsroheit“ mit „Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Widerholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Und hat“, genannt. Und er fragte, ob das deutsch sei und ob „das Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, hackenzusammenschlagenden, blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit, diese vollkommene nationale Simplizität in einem reifen, vielerfahrenen Kulturvolk wie dem deutschen überhaupt verwirklicht“ werden könne.
Wehret den Anfängen, rufen sie heute vielfach, weil sie wissen, wo das endete, was einst mit dem Führer und dem 1000-jährigen-Reich begann, mit Lärm und Gewalt, dem Entzug der Freiheit, dem Exil geächteter Literaten wie Thomas Mann, dem die Nazis sogar die Ehrendoktorwürde der Uni Bonn entzogen, die dieser 1919 erhalten hatte und die Thomas Mann erneut verliehen wurde, als es vorbei war mit den Nazis und Deutschland am Boden lag. Werner Friedmann, Herausgeber der Süddeutschen Zeitung seit 1946 und lange Chefredakteur des Blattes, schrieb nach 12 Jahren, die auch sein München verwüstet hatten: „…Die Zeit und die Menschen um sie herum haben ihr Leid zugefügt, das seine Spuren hinterließ. Nicht die Stadt kann man für zerstörte Schönheit verantwortlich machen, nein, die Menschen, die in ihr wohnten und Irrwege gingen, die, unüberlegt oder verführt, den Sinn des Lebens missverstanden und heitere Lebenslust in finstere Eroberungssucht umwandelten. “ Die „marschierten, organisierten, uniformierten, sich zu Sklaven einer angriffslustigen Kriegsmaschine machten und sich von verlogenen, wahnwitzigen Parolen locken ließen.“
Leipzig leuchtet
Nun wollen wir, schreibt dieser große Journalist, der Verfolgung und Krieg überlebt hatte, „den rechten Weg finden, den teuflischen Spuk vergessen, den die Weltgeschichte hinweggefegt hat, nun wollen wir einander die Hände geben und gemeinsam den Irrtum einer Generation bezahlen.“ Der rechte Weg, die Bundesrepublik Deutschland. Gestern feierten oder gedachten einige Hundert in Leipzig, sie gedachten jenes Tages 1933, an dem die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen, sie dachten an jene Tage und Wochen, als sie 1989 gegen das SED-Regime und die Stasi vor allem auch und gerade in Leipzig demonstriert hatten. Einige riefen: Nie wieder. Und sie setzten Zeichen für Demokratie und Menschenrechte. Leipzig leuchtet, auch wenn nicht alles leuchtet in Leipzig und anderswo. Die rechtsradikale AfD sitzt ja in allen Parlamenten, vor allem im Osten Deutschlands ist sie stark, eine Partei, die Faschisten in ihren Reihen hat.
Ja, Leipzig, das ist eine Heldenstadt, hier hatte einst der Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler gegen die Nazis Widerstand geleistet, Goerdeler hatte 1937 sein Amt niedergelegt. Und die Nazis hatten ihn, da er zum 20-Juli-Widerstand um Stauffenberg gehörte, im Frühjahr 1945 in Plötzensee ermordet. Wenige Wochen vor der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Faschismus durch die Alliierten. Es hatte 1933 begonnen, am 30. Januar. Leipzig leuchtet. Wehret den Anfängen!
Quellen: 75 Jahre Süddeutsche Zeitung. Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Ian Kershaw: Höllensturz. Bonner Generalanzeiger. Journal vom 28./29. Januar 2023.
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