Der Titel „Das Wintermärchen“ hat natürlich mit dem heutigen Bayern nichts zu tun, handelt es doch um die kurze Zeit der bayerischen Revolution und der Münchner Räterepublik, die 175 Tage dauerte, die nicht nur ein Märchen war, sondern 1000 Tote kostete. Ein Buch, in dem der Historiker und Journalist Ralf Höller die in München lebenden Schriftsteller die Geschichte dieser Revolution erzählen lässt. Ein spannendes Buch, verwirrend zugleich wie die ganze Zeit verwirrend ist und oftmals dem Chaos nahe.
Thomas Mann sah in Bayern neues Russland
Am Beispiel von Thomas Mann kann man deutlich sehen. Er mutmaßt, Bayern könnte sich zu einem neuen Russland entwickeln, wenn die Kommunisten mitmachten bei dieser Revolution. Und wenn die KPD dabei wäre, könne Bayern Vorbild sein für das gesamte Reich. Thomas Mann, der damals schon im feinen Bogenhausen eine Villa besitzt, der aber ob seiner vielen Kinder keines der Zimmer hätte abgeben müssen, wie es die Räte verlangten. Jeder Person sollte eben nur ein Zimmer zustehen. Und der Autor des Zauberbergs und der Buddenbrocks gesteht, dass er „imstande“ sei, auf die Straße zu laufen und zu schreien: „Nieder mit der westlichen Lügendemokratie! Hoch lebe Deutschland und Russland! Hoch der Kommunismus.“ Man kann es sich heute kaum noch vorstellen. Aber es war so.
Thomas Mann, so Ralf Höller, „schwankt zwischen Hoffen und Bangen, rotem Wunsch- und bürgerlichem Alptraum, auch mit Blick auf die Rote Armee“, die man aufstellen will. Er hat zwar eine ziemliche Abneigung gegen die „sogen. Proletarier-Kultur“, hält aber ein „kommunistisches System für durchaus gerechtfertigt“.
Rainer Maria Rilke glühender Anhänger
Rainer Maria Rilke war ein glühender Anhänger des Aufstands. Und Kurt Eisner, der Redakteur des Vorwärts war und der dann die SPD-Parteizeitung verließ, glorifizierte die wenigen Augenblicke der Revolution mit den Worten: „Wir wollen der Welt das Beispiel geben, dass endlich eine Revolution,vielleicht die erste Revolution der Weltgeschichte, die Idee, das Ideal und die Wirklichkeit vereint.“ Als Eisner ermordet wurde, fand eine riesige Menschenmenge am Sendlingertorplatz zusammen, um ihrer Trauer und Empörung Luft zu machen. Im Trauerzug marschierte eine Abordnung russischer Kriegsgefangener mit Kränzen für den Ermordeten mit.
„Bayern ist Räterepublik“, beginnt ein Absatz, „der Landtag ist aufgelöst. Wie in Russland und Ungarn…. halte das werktätige Volk seine Geschicke erstmals in der eigenen Hand. Die revolutionären Arbeiter und Bauern und ihre Brüder, die Soldaten, hätten ihre Parteigegensätze überwunden, Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende gefunden. Gerecht und solidarisch soll es künftig zugehen. Betriebe würden sozialisiert; die Presse auch, was immer das heißen mag.“ Am Ende eines Jubel-Textes wird die Weltrevolution ausgerufen.
Lenin, genau der, sieht die“ bayerische Revolution noch in der bürgerlichen Frühphase. Russland hat eine ähnliche Entwicklung hinter sich, bedurfte es nach einem halben Jahr eines zweiten Umbruchs. Der steht den Bayern noch bevor.“
Kaiser Wilhelm und „seine“ Sozialdemokraten
Am Ende wird die Frage gestellt, die eigentlich schon am Anfang stehen könnte: Hat die Sozialdemokratie- die bayerische SPD hat schließlich am 7. November 1918 zu einer Demo auf der Theresienwiese aufgerufen, der Beginn der Revolution, so steht es am nächsten Morgen in den Münchner Zeitungen- wieder einmal versagt? Sie hatte sich damals aufgespalten, der eine neue Arm hieß USDP. Es wird an die Rolle der SPD bei Kriegseintritt 1914 erinnert, an das Ja der Partei zur Bewilligung der Kriegskredite, der viele zugestimmt hatten, wie überhaupt viele begeistert in den Krieg gezogen waren, auch viele Intellektuelle. Und Kaiser Wilhelm sprach von „seinen“ Sozialdemokraten.
Neben Thomas Mann, Kurt Eisner und Rainer Maria Rilke lässt der Autor des Buchs die Schriftsteller Ernst Toller zu Wort kommen, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Lion Feuchtwarmer, die Kunstmäzenin Hertha Koenig, die ihre Kunstwerke hinter einer Tapetentür versteckt, um sie vor dem Zugriff der Räte-Regierung zu retten, Oskar Maria Graf, Wilhelm Herzog, Josef Hofmaler, Annette Kolb, Schriftstellerin und Pazifistin, Karl Alexander von Müller, Heinrich Mann, Ricarda Huch, Victor Klemperer, Ret Marut, Herausgeber der anarchistischen Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ und Ernst Niekisch, ein Volksschullehrer, Publizist und Sozialdemokrat.
Der Rezensent Andreas Platthaus liest das Buch von Höller als Elegie und Trauergesang über den Untergang der Utopie im revolutionären Winter, stilistisch sei das alles gewöhnungsbedürftig, allzu gestelzt und wenig geschmeidig, als Nachschlagewerk tauge der Band. Jens Uthoff findet das Geschehen dagegen faszinierend und überzeugend.
Unterhaltsam ist das Werk, lesenswert obendrein, vor allem für geschichtsinteressierte Zeitgenossen.
Ralf Höller: Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die Bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/19. Edition Tiamat. Berlin 2017. 288 Seiten. 20 Euro.
Bildquelle: Wikipedia, Gemeinfrei,