„Das wärmste Jäckchen ist das Konjäckchen“, so spricht der erfahrene Volksmund gern in unseren zunehmend zugigen Zeiten. Gemeint damit ist die zunächst verführerisch wohltuende Wirkung von Alkohol jeglicher Art auf die menschliche Seele. Die Sorgen von Männern und Frauen um ihre Zukunft sind groß, die unsichere Perspektive, wie alles weiter gehen soll im Beruf, in der Familie, mit der Welt insgesamt – sie zerren beträchtlich an den Nerven. Wohin aber mit diesen quälenden Gedanken, mit der Angst im Bauch, mit dem Gefühl eigener Unzulänglichkeit? Überforderung, wohin das Auge blickt, allerdings möglichst vertuscht, um bloß nicht blöd aufzufallen in der perfekten Hochglanzidylle unserer medialen Umfelder.
Allüberall wird gestrahlt, was das Zeug hält, der Tempowahn hält uns in Atem, macht müde und unfroh. Sich möglichst nichts anmerken lassen, mit dieser latenten Resignation, bloß kein Gesichtsverlust, nach dem Motto: „Der – oder zunehmend auch –die – ist nicht mehr belastbar.“ Was läge da näher als der Getränkediscount um die Ecke? „Ein Schlückchen in Ehren…“ Der Stoff ist billig, bezahlbar auch für die Armen und teuer, edler für die Reichen, in jedem Fall als Muntermacher oder Entspannungstrunk gesellschaftlich in allen Kreisen anerkannt. Denn die Frage lautet angesichts einer überwältigenden Statistik vom Pro-Kopf – Verbrauch und hohen medizinischen Folgekosten nicht: Wer verhält sich so asozial und trinkt laufend Alkohol, sondern vielleicht eher, wer trinkt (noch) nicht.
Über alle unschönen Aspekte, über die weit verbreitete Lust an der legalen Betäubung, über die verheerenden Folgen, die dieser ätzende Stoff im Lauf der Zeit auf unsere inneren Organe ergießt, hat Simon Borowiak mit „ALK“ ein dennoch sehr lesenswertes, weil bis in die Körperchemie hinein informatives und dabei unglaublich unterhaltsames Buch geschrieben, das vor allem eines auszeichnet: es ist nie predigthaft, obwohl es dem Autor, der selbst eine Entzugstherapie mit Erfolg hinter sich bringen konnte, gar nicht anders als todernst zumute war. Selten habe ich bei der Lektüre über Sucht so viel gelacht. Mit diesem genialen Buch kriegt das ganze Thema legale Droge Alkohol trotz alledem so seine Beckett’ sche Tragikomik zurück, gerade wie Simon Borowiak all die phantasievollen Ausflüchte, die Lebenslügen, die panische Egozentrik von Alkoholabhängigen schildert, indem er deren Neigung, sich den eigenen Niedergang noch bohèmehaft schön zu trinken, in aller kuriosen Tragik auf den existenziellen Punkt schlimmsten Schadens bringt – echt sensationell. Damit kann er in der Tat etliche Abhängige erreichen, denn er nimmt sie ernst, ihre Beschämung und ihr Leiden, und: er belehrt sie überhaupt nicht.
Die Einstiegsdrogen „bei alkoholisch durchtrainierten Kulturen wie der unsrigen“ sind Bier und Sekt. „Wenn Frau Kröger um 10 Uhr 30 mit den Worten ‚auf meine baldige Beförderung!’ im Großraumbüro eine Sektflasche entkorkt, ist das relativ unauffällig. Die Kollegen gratulieren, würgen erst ihren Sozialneid und dann den Sekt runter, und mit einem Pegel von 0,3 bis 0,8 sieht die Beförderung der dummen Kuh Kröger schon rosiger aus. Würde Frau Kröger um 10 Uhr 30 mit den Worten ‚auf meine baldige Beförderung!’ eine Flasche Doppelkorn aufschrauben, man würde sie relativ schief ansehen.“ Simon Borowiak schildert kenntnisreich manche Trickserei, wie die steigernde Alkohol – Abhängigkeit eine Weile vor den Angehörigen und in der Arbeitsstelle sich verheimlichen lässt, aber er zeigt auch: es gibt nichts zu beschönigen an der alltäglichen Zerstörungsmacht von Alkohol, und es ist im Grunde eine Schande, dass unser Markt – Staat mit all der offiziell erlaubten Reklame sich zynisch an diesem Big Deal in Form von Steuern cool beteiligt. Insofern handelt es sich beim „Alk“ um d i e „Angebotsdroge“ schlechthin.
Der schöne menschliche Körper – sinnvoll in seinem Aufbau, die Milliarden Zellen unserer Organe, der Haut, des schöpferischen Gehirns – all diese Potenzen gehen kaputt, erst allmählich, schließlich rasant. Die unheilvollen Trinkgewohnheiten von Familienvätern hat oft fürchterliche Gewalt zur Folge. Von dieser Bedrohtheit, von dieser Maßlosigkeit wissen etliche Kinder ein trauriges Lied zu singen. Und da hören dann die sarkastischen Formulierungen des Autors Borowiak auch wieder auf. Er zeigt, dass es konkrete Hilfe gibt, stationär „Entgiftungen“ möglich sind, die immer einher gehen sollten mit fundierter Psychotherapie, um sich endlich auch den verschütteten Ursachen zu widmen, damit ein Weiterleben ohne diese Volksdroge Nummer Eins möglich ist: Er empfiehlt schwere Wege auch mit ambulanter Beratung und Selbsthilfegruppen, die konkrete Chancen bieten, die Sucht als solche zu erkennen, und aus ihr sich zu befreien.
Simon Borowiak:
Alk. Fast ein medizinisches Sachbuch.
Heyne Verlag, 2014 Taschenbuch, 192 Seiten € 8,99