Bis September will die NATO, auch die Bundeswehr, ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Der Militäreinsatz war insgesamt ein Fehlschlag, hat Milliarden an Steuergeldern und zahlreichen Menschen auf allen Seiten das Leben gekostet.
Deutschland hat seit dem Kaiserreich einen guten Ruf in dem Land am Hindukusch. Den könnte es verspielen, wenn nicht alle zivilen Mitarbeiter in Deutschland einen sicheren Aufenthalt unbürokratisch gewährt bekommen.
Prof. Matin Baraki ist Afghane und lehrt seit längerem an der Universität Marburg. Mit ihm sprach unser Autor Hans Wallow.
Hans Wallow: Bis September soll die NATO ihre Truppen aus Afghanistan abziehen. Welche Folgen hat das für das Land und werden die Taliban die Macht in Kabul übernehmen?
Matin Baraki: Nur wenn man alle Faktoren kennt, ist eine wissenschaftliche Vorhersage im eigentlichen Sinne möglich. Wir wissen vieles, aber nicht alles über die US-Strategie in und um Afghanistan. Dennoch könnte man von folgenden Optionen ausgehen. Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen, lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen; dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996. Würde es der US-Administration gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Administration zu gewinnen, könnte eine für afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
Hans Wallow: Brechen die alten Gegensätze zwischen den einstigen Bürgerkriegsparteien und ethnischen Großgruppen wieder aus?
Matin Baraki: Gibt es keine Vereibarungen, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.
Hans Wallow: Sie haben vor langer Zeit ein Friedenskonzept erarbeitet. Wie sieht das aus?
Matin Baraki: Die USA haben augenscheinlich keinen Plan B für Afghanistan, zumindest haben sie einen solchen bisher nicht offengelegt. Meines Erachtens wäre unbedingt der Einsatz einer UN-Blauhelmtruppe notwendig, bestehend aus den Blockfreien Staaten und der Organisation der Islamischen Staaten, die die NATO-Einheiten ablösen und ausnahmsweise mit einem robusten Mandat ausgestattet werden sollte, um für eine Übergangsphase bis zu einer Stabilisierung der innerafghanischen Verhältnisse für Frieden zu sorgen. Alles andere wäre: Nach uns die Sinnflut.
Hans Wallow: Was kann Deutschland dafür tun?
Matin Baraki: Die Bundesregierung könnte zu einer inner-afghanischen Konferenz einladen, nicht wie 2001 auf dem Petersberg bei Bonn ohne die afghanische Zivilgesellschaft, ohne afghanische Diaspora und ohne Taliban, sondern dieses Mal unbedingt unter Beteiligung der genannten Gruppen. Darüber hinaus muss die zugesagte Hilfe an die afghanische Administration erweitert aber nur projektgebunden gewährt werden, damit überprüfbar ist, wofür die Mittel eingesetzt worden sind.
Es sollte im Rahmen des Ministeriums für Wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung ein Sonderausbildungsprogramm – eine Facharbeiterausbildung – für die jungen nach Deutschland geflüchteten Afghanen in Angriff genommen werden. Diese jungen, motivierten Afghanen sollten in den verschiedensten handwerklich-gewerblichen Berufen nach den Bedürfnissen Afghanistans ausgebildet werden. Danach soll ihnen, mit einem projektgebundenen Startkapital von ca. 20.000 Euro ausgestattet vor Ort in Zusammenarbeit mit internationalen NGOs – nach NATO-Angaben sind etwa 6000 am Hindukusch tätig – , mit der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen und deutschen entwicklungspolitischen Organisationen ermöglicht werden, eine eigene Existenz für sich und ihre Familien aufzubauen und so dazu beizutragen, sowohl ihrem Heimatland als auch sich eine Zukunftsperspektive zu geben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Bildquelle: flickr, Defence Images, CC BY-SA 2.0