Nach den für Demokraten so beschämenden Landtagswahlen im Osten wird es höchste Zeit für eine große Rede des Bundeskanzlers in Sachen Migration. Eine Rede, die Olaf Scholz direkt an die Menschen mit Migrationshintergrund richten sollte – und die natürlich auch alle anderen Bürger guten Willens aufrütteln und in den Bann ziehen könnte. Eine Rede also, die so ganz anders sein müsste als das, was Deutschlands Rechte nun von Olaf Scholz erwartet und fordert.
In diesem Land hat fast jeder dritte Bürger einen Migrationshintergrund. Entweder wurde er bzw. sie ohne deutsche Staatsbürgerschaft geboren – oder zumindest ein Elternteil. So ist die offizielle Definition.
Ohne dieses Drittel können wir hier nicht leben, ohne dieses Drittel wollen wir aber auch nicht hier leben. Und deshalb müssen wir uns alle zusammen gegen die brutalen Vertreibungs-Fantasien der Rechtsextremisten wehren. Entgegenstellen statt hinterherzulaufen.
Die Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern haben Erschreckendes zutage gefördert. Die offen rechtsextreme AfD liegt – je nach Bundesland – bei den Wahlen entweder an erster oder an zweiter Stelle. Rund jeder dritte Wähler im Osten spricht sich für die „Nazi-Partei“ (NRW-CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst) aus. Viele ganz bewusst – und nicht allein aus Protest gegen die Ampel-Politik in Berlin, wie es noch viel zu oft beschönigend heißt.
Wir müssen der traurigen Tatsache ins Auge sehen: Viele Menschen im haben gezielt Rassisten gewählt. Und müssen sich deshalb auch als Rassisten bezeichnen lassen. Was etliche von ihnen ja sogar öffentlich und mit Stolz verkünden. Und: Die Menschen im Westen sollten nicht mit Arroganz auf die „Ossis“ zeigen. Zu befürchten ist, dass wir erst am Anfang einer fatalen und gefährlichen Welle stehen – und bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr ähnlich widerliche Wahlergebnisse hinnehmen müssen.
„Ausländer-raus“-Parolen und brutale Deportations-Fantasien
Warum nenne ich die AfD-Politiker hier ganz bewusst „Rassisten“? Warum nicht „Faschisten“ oder „Nazis“, was auf viele zuträfe? Weil Rassismus das ist, was die Wahlkämpfe im Osten dominiert und befeuert hat, die hetzende Fremdenfeindlichkeit, die „Ausländer-raus“-Parolen, die brutalen Deportations-Fantasien.
Und wie reagieren die Parteien der so oft beschworenen demokratischen Mitte? Sie stoßen sich an der Wortwahl und der Rigorosität der Rechtsextremisten, doch inhaltlich sind sie längst auf deren Kurs der Abschottung eingeschwenkt: CDU, CSU und FDP mit ihren Rechtsauslegern Merz, Söder und Lindner laut trompetend, die SPD mit Kanzler Scholz kraftmeiernd („Abschiebungen in großem Stil“), die Grünen trotz der Bedenken Einzelner brav und wie gelähmt nach den Wahlen.
Die Rassisten der AfD schauen derweil dem Treiben der anderen feixend und zynisch zu und reiben sich die Hände. Die Falle, die man den anderen gestellt hat, hat zugeschnappt. Denn je mehr die ganze Politik nur noch hysterisch über Migration debattiert, die der damalige CSU-Chef Horst Seehofer schon 2018 als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet hatte, desto mehr spielt das den Rechtsextremisten in die Hände. Und diesen Überbietungs-Wettbewerb um eine immer schärfere Politik „gegen Ausländer“ können die demokratischen Parteien gegen die Extremisten sowieso nicht gewinnen. Ein Land in selbst herbeigeredeter Panik – das zahlt allein bei der AfD ein.
Hier sollen die Probleme der Integration weder geleugnet noch kleingeredet werden. Doch eines ist klar: Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten nicht weniger sondern mehr Einwanderer brauchen! Die Gesellschaft altert dramatisch und schon heute fehlen Hunderttausende Arbeitskräfte. Diese Entwicklung wird sich ohne Zuwanderung dramatisch zuspitzen. Noch ein Aspekt: Glauben wir denn wirklich, dass die dringend benötigten Fachkräfte und Experten aus dem Ausland kommen, wenn ihnen hier eine massiv fremdenfeindliche Stimmung entgegenschlägt?
Verquere Logik: Die Migration – „Mutter alles Probleme“?
Die Migration als „Mutter aller Probleme“? Welch eine verquere Logik! Deutschland altert immer stärker, mit dramatischen Folgen:
- Wer wird künftig Wohnungen und Straßen planen und bauen?
- Wer wird künftig die alten Menschen in den Heimen betreuen und die Kranken in den Kliniken pflegen?
- Wer wird all die Arztpraxen weiter betreiben, die schon heute keinen Nachfolger oder Nachfolgerin mehr finden?
Diese Reihe ließe sich fast endlos fortsetzen, denn der Mangel an Arbeitskräften hat längst einen Kipppunkt erreicht. Das ist – neben der Klimakatastrophe – tatsächlich einer der „Mütter aller Probleme“ für Deutschland. Eine in die Zukunft gerichtete Migrations-, Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik ist also nicht nur eine Frage der Humanität, sie ist eine für Deutschland existentielle ökonomische Notwendigkeit.
Auf alle diese Fragen hat die AfD keine Antwort. Sie lügt und hetzt weiter – und schadet diesem unseren Land. Schon heute scheuen Unternehmen Neuansiedlungen in AfD-Hochburgen. Und ausländische Fachkräfte werden es sich zweimal überlegen, ob sie sich in Nazi-Nestern niederlassen.
Das alles wissen die Parteien der politischen Mitte, doch aus Feigheit und panischer Angst vor der AfD spricht das niemand vom Führungspersonal so deutlich aus. Doch nach den Ost-Wahlen ist nun die Zeit gekommen, in der Migrations- und Integrationspolitik eine dramatische Kurskorrektur vorzunehmen. Weg von der Abwehr hin zur planvollen Gestaltung. Weg von der tumben Abschottung, hin zur offenen und pluralen Gesellschaft.
Denn das teils aggressive „Ausländer raus“-Klima richtet sich ja nicht nur gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. Es richtet sich gegen alle, die schwarze Haut oder schwarze Haare haben, die nicht so aussehen, wie sich der Faschist Höcke und seine Konsorten einen „richtigen Deutschen“ vorstellen. Millionen Menschen in Deutschland entsprechen nicht dem Rasse-Ideal der AfD – und viele dieser Menschen fühlen sich in den letzten Monaten dramatisch unwohler in diesem – ihrem – Land. Da ist es egal, ob die Betreffenden hier geboren sind, einen Doktor-Titel haben oder als Putzkraft arbeiten: Sie fühlen sich nicht nur ausgegrenzt, sie sind es viel zu oft.
Hier wäre eine große Chance für die Politik, namentlich den SPD-Bundeskanzler. Olaf Scholz – und nicht etwa der stets zu pastoral sprechende Bundespräsident Steinmeier – wäre zwingend der Richtige, eine Rede an all die Migranten zu halten, eine Rede, die er nicht pflichtbewusst vom Blatt ablesen sollte, sondern eine Rede, an die man sich auch in Jahrzehnten noch erinnern mag. Eine Rede mit dem Anspruch der Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1985. Der Konservative hatte am 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 von einem „Tag der Befreiung“ gesprochen, wo doch die Rechte in Deutschland den Untergang der Nazi-Diktatur immer noch als „Niederlage“ sah. An nichts erinnert man sich beim Namen Richard von Weizsäcker mehr als an sein Wort vom „Tag der Befreiung“. Dieser Satz war tatsächlich selbst eine Art Befreiung in dieser bis dahin so bleiernen Debatte.
Was der Kanzler sagen könnte
Wie wäre es mit einer einer entsprechend historischen Rede des Bundeskanzlers am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“?
Kein Titel als „Tag der Einheit“ würde besser zu dem passen, was Scholz sagen sollte:
- Liebe Migranten, nicht ihr seid das Problem, sondern die Rechtsextremisten.
- Dieses Land ist unser aller Land, wir lassen uns nicht auseinander dividieren.
- Das Land gehört keiner Partei, keiner Ethnie, keiner Religion.
- Die AfD greift euch an, doch sie meint uns alle. Die AfD bekämpft alles, was wir schätzen, bauchen und lieben: Freiheit, Demokratie, Menschenwürde.
- Wann und wo immer immer ein Mensch wegen seiner Herkunft, seiner Religion, seiner sexuellen Orientierung oder seines Geschlechts attackiert wird: Wir stehen zusammen. Wir werden nie schweigen.
- Wir respektieren jeden Menschen guten Willens – doch wir verachten die Rassisten und Menschenfeinde.
- Lasst uns alle unterhaken und ein mächtiges Bollwerk errichten gegen die Extremisten, die uns bedrohen.
- Liebe Migranten: Wir brauchen euch.
Das alles kann man natürlich besser formulieren und ausbauen, doch wofür hat ein Kanzler denn hoch bezahlte Redenschreiber? Und wofür hat er seinen Vize Robert Habeck? Der könnte ja mit an der Rede feilen. Denn überzeugend reden kann der Habeck ja. Mit Emotionen und mit einer kleinen Prise Pathos: „I have a dream“.
Aber eine solche Rede muss der Chef natürlich selbst halten. Scholz kann es ja, wenn er nur will. Das hat er kürzlich im Bundestag bewiesen, als er den CDU-Chef Merz verbal verprügelte. Der Kanzler sollte Deutschland endlich die Vision einer modernen und demokratischen Zuwanderungsgesellschaft aufzeigen – denn eine Zuwanderungs-Gesellschaft sind wir schon längst. Doch trotz jahrzehntelanger Geschichte noch immer ohne jedes Konzept.
Eine solche Rede müsste nicht klein-klein werden. Sie müsste groß angekündigt und dann simultan in viele Sprachen übersetzt werden. Ein Ruck müsste durch die teilweise apathisch frustrierte und neuerdings auch ängstlich zweifelnde Migranten-Community gehen: Ja, Deutschland ist auch unsere Heimat. Und für die kämpfen wir: Für besseren Unterricht an den Schulen, für bessere Wohnungen und bessere Wohnviertel, für mehr Gleichberechtigung und gegen Rassismus, für mehr Miteinander. Und – ja – auch gemeinsam gegen den fürchterlichen Islamismus und auch die verbrecherischen Clans.
Nach einer solchen Rede müssten natürlich Taten folgen, beim Bund, in den Ländern, in den Kommunen. Noch ist die Mehrheit bereit, sich aktiv gegen die AfD zu stemmen. Noch lebt die Zivilgesellschaft. Sie würde ein solches Signal, eine solche Rede vielleicht staunend, vielleicht aber auch begeistert aufnehmen – als Startschuss für ein neues Miteinander.
Ich befürchte allerdings, wir warten vergeblich auf so eine solche „große“ Rede. Stattdessen schließt man weiter Grenzen, spricht weiter abwertend über Migration und MIgranten und nährt so weiter die AfD. Bis zur Bundestagswahl im nächsten Jahr. Bis zum nächsten Schock.
Hallo Herr Heuken, vielen Dank für diesen Weckruf an unseren Bundeskanzler. Hoffentlich liest er Ihren Artikel (oder sein Stab) und handelt danach.
Ich hoffe, Ihr Rat kommt an.
Es wird Zeit!