Als mich mein Freund Thomas Bareiß im Mai diesen Jahres gefragt hat, ob ich bereit wäre, hier zum Tag der Deutschen Einheit die Festrede zu halten, habe ich ihm spontan und gern zugesagt.
Erstens schätze ich Thomas Bareiß als Mensch und Politiker sehr: Er ist einer der besten und kundigsten Abgeordneten im Bundestag. Ich gratuliere ihm auch zu seiner eindrucksvollen Wiederwahl.
Zweitens ist eine Einladung in den Zollernalb-Kreis besonders reizvoll: Die Region mit ihrer Landschaft ist interessant, abwechslungsreich und geologisch besonders attraktiv. Das prägt natürlich auch die Menschen, die hier leben und arbeiten – mit ihrem schwäbischen Dialekt, mit Romanes und Pleißne.
Drittens bin ich gern hier und heute bei Ihnen in diesem Staufenberg-Schloss, um mit Ihnen den Tag der Deutschen Einheit zu feiern. Wer die Nachkriegsgeschichte Ihres Kreises studiert, wird feststellen, dass Ihre Region hier gleich mehrfach Vereinigungsprozesse erlebt hat: Nach 1945 lebten die Menschen hier in der französischen Besatzungszone, dann wurde 1947, also vor 70 Jahren, das Bundesland Württemberg-Hohenzollern gegründet. Nur 5 Jahre später gingen die ehemals württembergischen und zollerischen Gebiete im neuen Südweststaat Baden-Württemberg auf.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben Sie hier ebenso wie Ihre Landsleute im Westen große Herausforderungen in einem stetigen Wandel angenommen und gemeistert. Seit der Gründung unserer Bundesrepublik im Jahre 1949 lebten die Menschen in Westdeutschland in Frieden und Freiheit. Mit unserer Demokratie haben wir die beste Verfassung, die es je in der deutschen Geschichte gab. Mit unserer Sozialen Marktwirtschaft haben wir eine der besten und erfolgreichsten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen. Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland – so haben wir es im Lied der Deutschen stets gesungen. Doch im Glanze dieses Glückes blühte es nicht im östlichen Teil unseres Vaterlandes. Gute Patrioten empfanden die Teilung Deutschlands als schwärende und schmerzliche Wunde.
Als vor fast genau 30 Jahren Erich Honecker nach Bonn kam und bei seinem Besuch das Wachbataillon vor dem Bundeskanzleramt unsere Hymne spielte und danach die der DDR, war das nicht nur für Helmut Kohl, sondern für uns alle fast wie ein Stich ins Herz. Honecker hatte jedoch darauf bestanden. Und wir in der Bundesregierung mussten es akzeptieren, weil wir mit der DDR-Führung zumindest einige Erleichterungen – etwa im Reise- und Besuchsverkehr – für unsere Landsleute jenseits von Mauer und Stacheldraht erreichen wollten.
I.
Heute feiern wir den 27. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands.
Einigkeit und Recht und Freiheit für unser ganzes deutsches Vaterland – dieses Glück ist unserer Nation erst seitdem zuteilgeworden.
Als sich die Mauer in Berlin am Abend des 9. Novembers 1989 öffnete, als der Stacheldraht an der innerdeutschen Grenze niedergerissen wurde, war das für uns alle in Ost und West ein fast unfassbares Wunder.
Mehr als 28 Jahre hatte die Mauer Berlin geteilt, war der Stacheldraht nahezu unüberwindbar. Mauer und Stacheldraht hatten unseren ostdeutschen Landsleuten den Weg nach Westen verwehrt. Die Berliner Mauer war rund 160 Kilometer lang; an ihr starben mindestens 136 Menschen. Die innerdeutsche Grenze erstreckte sich von der Lübecker Bucht bis ins bayerische Hof über 1.378 Kilometer. Von 1949 bis 1989 verloren mindestens 116 Menschen an dieser Demarkationslinie ihr Leben.
Der Eiserne Vorhang trennte West und Ost in eine bipolare Welt – in „das Reich des Bösen“ – wie Ronald Reagan als US-Präsident immer wieder betonte –, also in die Welt des Kommunismus und in die Welt der freien Demokratie.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit den Revolutionen in Polen, in der Tschechoslowakei, Ungarn und anderen mittel- wie osteuropäischen Ländern, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor allem mit dem Untergang der DDR haben wir eine Welt der Multipolarität mit neuen politischen Kräftezentren – nicht mehr nur Washington und Moskau! –, allerdings auch mit neuen Krisenregionen, wenn wir nur an Syrien, den Irak, an die Ukraine, an Afghanistan, an Nordkorea und an einige Staaten in Afrika denken.
Die Welt steht vor neuen Herausforderungen und Chancen zugleich. Auch wir Deutschen müssen mehr denn je global denken und national handeln.
Ob und wie wir das alles schaffen, das ist nicht so einfach vorauszusagen. Denn wir haben in unserem wiedervereinigten Vaterland aktuell und in den nächsten Jahren gewaltige Aufgaben zu bewältigen – von der Lösung der Flüchtlingsprobleme über die Integration vieler hunderttausend Menschen aus fernen Ländern bis hin zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme, was angesichts der demographischen Veränderungen nicht leicht sein wird, aber auch die Modernisierung unserer Infrastruktur und die Digitalisierung in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, um nur einige wenige dieser Felder zu nennen.
II.
Ich bin Erich Honecker zweimal persönlich begegnet:
Das erste Mal 1986 in Stockholm anlässlich der Trauerfeier für den ermordeten Schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme. Das zweite Mal im September 1987 in Bonn, als Erich Honecker seinen Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland machte.
Bei diesem Besuch im Jahre 1987 ging es um Verbesserungen im innerdeutschen Reiseverkehr, um Umweltfragen (z. B. Versalzung der Werra, Probleme im Kalibergbau in den hessisch-thüringischen Grenzregionen), um den innerdeutschen Handel u. ä.
Bei diesem Besuch konnte Helmut Kohl dem SED-Generalsekretär auch eine Reise „abhandeln“ – eine geheime Reise in die DDR, auf der ich den Bundeskanzler im Mai 1988 begleitete; sie führte uns nach Gotha, Erfurt, Weimar und Dresden.
Zwei MDR-Redakteure, Jan Schönfelder und Rainer Erices, haben in dem Buch mit dem Titel „Westbesuch – Die geheime DDR-Reise von Helmut Kohl“ recht gut nachgezeichnet. Dafür haben sie auf die ausführliche Stasi-Akte zurückgegriffen. Aus diesen Akten erfahren wir, dass 156 Stasileute uns bei dieser Reise „begleiteten“ – vor allem um Kontakte von Menschen in der DDR zu uns zu verhindern. Doch das gelang der Stasi nicht ganz!
Es ist ein wahrlich spannendes Buch und gewiss lesenswert – vor allem vor dem Hintergrund, dass die meisten von uns sich heute kaum noch richtig vorstellen können, wie es denn vor fast drei Jahrzehnten im geteilten Deutschland zuging.
Die beiden Autoren kommen in ihrem Buch zu einem richtigen Fazit: „Kohls DDR-Reise ist deshalb nicht ins kollektive Gedächtnis eingegangen, weil sie für die Masse der Menschen zunächst keine spürbare Bedeutung hatte. Die Reise war zunächst nur für eine einzige Person wichtig: für Helmut Kohl selbst. Die Stimmung, die er erlebte und verinnerlichte, wurde wenige Monate später zu seinem inneren Wegweiser. Sie wurde zur Triebkraft. Aus ihr zog er die Energie für sein Auftreten im Winter 1989/ 1990, die ihn dann für immer ins kollektive Gedächtnis als Kanzler der deutschen Einheit eingehen ließ.“
III.
Niemand hier in Westdeutschland hatte mit der Grenzöffnung am 9. November 1989 gerechnet. Im Oktober 1988 begleitete ich Helmut Kohl nach Moskau: Dort hatte Michail Gorbatschow brüsk die Thematisierung eines besseren Miteinanders der beiden Staaten in Deutschland abgelehnt. Viele hatten die Wiedervereinigung längst abgeschrieben.
Dann gab es die Demonstrationen in Leipzig, in Ostberlin und anderen Städten der DDR seit Anfang 1988. Vor allem Kirchenvertreter verlangten immer deutlicher eine Umgestaltung der Gesellschaft. Der Ausreisedruck stieg. Der Ruf nach Reisefreiheit wurde immer lauter. Die Empörung der Menschen über die im Mai 1989 festgestellten Fälschungen bei den DDR-Kommunalwahlen machte sich Luft. In Polen hatte der Revolutionär Lech Walesa den Kommunismus besiegt.
Im Sommer 1989 versuchten viele tausend Landsleute aus der DDR über Ungarn und über die Tschechoslowakei in den Westen zu kommen, was dann auch gelang.
Im Sommer und Herbst 1989 gingen regimekritische Gruppen in der DDR mit Reformforderungen an die Öffentlichkeit.
In Leipzig beteiligten sich im Herbst 1989 nach den montäglichen Friedensgebeten in der Nikolaikirche immer mehr Menschen an Demonstrationen. Forderten zunächst Hunderte Reise-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, demonstrierten bald Tausende für Demokratie und Menschenrechte.
Vor dem Protestmarsch am 9. Oktober fürchteten viele, dass die Demonstration mit Gewalt niedergeschlagen werden könnte. 70.000 Menschen bewegten sich, „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ skandierend, auf die Sicherheitskräfte zu. Angesichts dieser riesigen Teilnehmerzahl entschied die Bezirkseinsatzleitung, die Demonstration nicht aufzulösen. Spätestens jetzt hatte begonnen, was als „friedliche Revolution“ in die Geschichte eingehen sollte.
In einer „Palastrevolution“ wurde Honecker am 17./ 18. Oktober zum Rücktritt gezwungen. An seine Stelle trat Egon Krenz, der die “SED als führende Kraft“ noch retten wollte.
Am 9. November hieß es in einer ZK-Vorlage u. a. wörtlich: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt….Ebenso wird in Fällen verfahren, in denen die ständige Ausreise verlangt wird…“
Danach war also nicht damit zu rechnen, dass damit Mauer und Stacheldraht schon in der Nacht endgültig fallen sollten. Es ist wohl nur deshalb dazu gekommen, weil der ZK-Sprecher Günter Schabowski bei der entscheidenden Sitzung erst verspätet – gegen 17 Uhr – eintrat und den Text von Egon Krenz dann einfach zugeschoben bekam. Für 18 Uhr war eine Presse-Konferenz angekündigt, auf der Schabowski die ZK-Erklärung, auf der die Sperrfrist 10. November 1989 (!) stand, bekannt geben sollte.
Schabowski hatte diese Sperrfrist übersehen und antwortete auf die Frage eines italienischen Journalisten, wann denn das alles in Kraft treten solle: „Ab sofort…sofort, unverzüglich…“
Um 20 Uhr präsentierte die ARD-Tagesschau die Schlagzeile „DDR öffnet Grenze“. Darauf hin machten sich viele Ost-Berliner auf den Weg.
Die meisten Beobachter – auch die Bundesregierung – hatten erst am kommenden Tag also am 10. November 1989, mit diesem Ansturm gerechnet, weil die Menschen aus der DDR zur Ausreise einen Stempel der Volkspolizei benötigten und deren Dienststellen ja schon geschlossen waren.
Im Deutschen Bundestag diskutierte das Parlament zur Abendstunde des 9. Novembers 1989 in einer Aktuellen Stunde über die EG-Getreideernte und die Vereinsförderung. In den Reihen der Abgeordneten sprachen sich die Nachrichten von der Schabowski-Pressekonferenz herum. Um 20 Uhr 46 trat Rudolf Seiters an das Rednerpult und verkündete, „dass Mauer und Grenze in Deutschland jetzt durchlässiger werden.“
Von der deutschen Einheit sprach niemand. Aber es gab Beifall bei allen Fraktionen. Und das Protokoll des Bundestages vermerkte: „Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne.“
IV.
Mit der Maueröffnung begann für uns Deutsche in Ost und West ein neuer historischer Abschnitt.
Helmut Kohl hatte wie nur wenige stets an dem Ziel „Wiedervereinigung Deutschlands“ festgehalten.
Bevor Helmut Kohl am 10. November 1989 vom Balkon des Schöneberger Rathauses zu den Deutschen aus Ost und West sprach, hatte ihn über den damaligen sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski eine Nachricht von Michail Gorbatschow erreicht: Darin sprach der sowjetische Generalsekretär die aktuelle Entwicklung an und bat Kohl beruhigend auf die Menschen einzuwirken, ja er warnte davor Emotionen zu wecken, um ein Chaos zu vermeiden. Als der Bundeskanzler vor dem Schöneberger Rathaus schließlich redete, wurde er regelrecht niedergeschrien. Nicht wenige begriffen, dass der Sozialismus der DDR kurz vor der Beendigung stand.
Noch am Abend des 10. November 1989 flog Helmut Kohl von Berlin nach Bonn; von dort aus telefonierte er mit den Staats- und Regierungschefs der drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich:
- Margret Thatcher äußerte Unbehagen, regte ein Sondertreffen der 12 EG-Staaten an.
- US-Präsident George Bush war bereits gut informiert, ließ seine positive Haltung erkennen und wünschte den Deutschen viel Erfolg und Gottes Segen. Seine einzige Bedingung war, dass Deutschland zu seiner Westbindung steht, dass wir in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft bleiben.
- Den Präsidenten der Französischen Republik, Francois Mitterand, erreichte der Bundeskanzler erst am Morgen des 11. November 1989: Dieser wirkte im Telefonat eher zurückhaltend, aber sprach von einem „großen Augenblick der Geschichte, von einer Stunde des deutschen Volkes, von einer Chance für die Entwicklung Europas“ und versicherte dem Bundeskanzler seine Freundschaft.
An diesen Ereignissen wird auch klar, dass Gorbatschow kein „grünes Licht“ für die Grenzöffnung gegeben hatte; der sowjetische Außenminister ließ indessen verlauten, dass die Grenzöffnung „ein souveräner Akt der DDR“ gewesen und die neuen Reiseregelungen „weise“ seien: Sie bedeuteten jedoch nicht, dass die Grenzen verschwinden, sondern Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage seien.
In Ost-Berlin agierte in diesen Tagen Egon Krenz als DDR-Staatsrats-vorsitzender. Er suchte den Kontakt zu Helmut Kohl – in der Hoffnung, als Mann der Stunde mit Milliarden aus Bonn die desaströse Lage in der DDR verbessern zu können. So kam es zu einem Telefonat Krenz-Kohl: Krenz wollte finanzielle Zugeständnisse, aber für ihn stand „die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung“. Helmut Kohl stimmte ihm darin nicht zu.
Zwei Stunden nach diesem Telefonat mit Egon Krenz telefonierte der Bundeskanzler mit Michail Gorbatschow: Dieser äußerte die Ansicht, dass die neue DDR-Führung das Land demokratisieren und wirtschaftlich erneuern wolle. Er äußerte Sorgen, dass diese Veränderungen zu einer Instabilität führen könnten, ja, dass eine Beschleunigung der Ereignisse zu einem Chaos führen könnte. „Das wäre schlecht für die deutsch-sowjetischen Beziehungen“, mahnte Gorbatschow und bat den Bundeskanzler, sein politisches Gewicht im Sinne einer Stabilisierung der Lage in der DDR einzusetzen.
Auf einer Pressekonferenz am 11. November 1989 in Bonn berichtete Helmut Kohl über seine Erlebnisse in Berlin, über die Telefonate mit Thatcher, Bush und Mitterand. Er machte dann klar, wie wichtig für ihn die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes als Voraussetzung für die Wiedervereinigung in Freiheit sei: „Unsere Landsleute in der DDR wollen und müssen selbst entscheiden. Sie haben keinerlei Belehrung nötig…Jede Entscheidung, die unsere Landsleute in der DDR treffen, werden wir selbstverständlich respektieren.“
In den Wochen danach folgte eine rege Diplomatie mit Kanzler-Gesprächen in Paris, auf dem EG-Gipfel, im Europa-Parlament usw., unzählige Telefonate mit verschiedenen Staats- und Regierungschefs.
Am Abend des 23. Novembers wurde zum ersten Mal in einer kleinen Runde im Bonner Kanzler-Bungalow über eine Leitlinie für den Weg zur Einheit diskutiert. Es entstand ein erster Entwurf für das „Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit“, das Helmut Kohl am Wochenende des 25./ 26. Novembers am heimischen Schreibtisch in Oggersheim überarbeitete – übrigens mit tatkräftiger Hilfe von Hannelore Kohl.
In diesem Programm standen u. a. Sofortmaßnahmen für einen „Devisenfonds“, um den Reiseverkehr zu erleichtern, Vorstellungen über eine Zusammenarbeit mit der DDR – etwa im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen Bereich, Formen der politischen Zusammenarbeit, Einbettung der innerdeutschen Beziehungen in den gesamteuropäischen Prozess und in das Ost-West-Verhältnis, die Bedeutung der EG, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Im Punkt 10 wurde die Zielsetzung dieses Programms definiert: „Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung bleibt das politische Ziel der Bundesregierung…Wir sind uns bewusst, dass sich auf dem Weg zur deutschen Einheit besonders viele schwierige Fragen stellen, auf die heute niemand eine abschließende Antwort geben kann.“
Ganz bewusst war in diesem Zehn-Punkte-Plan auf eine zeitliche Festlegung verzichtet worden. Aber, wer im November, Dezember 1989 vertraulich mit Helmut Kohl sprach, konnte heraushören, dass er mindestens noch 3 bis 4 Jahre schätzte, bis es zur deutschen Einheit kommen könnte.
Am 28. November stellte der Bundeskanzler den Zehn-Punkte-Plan im Bundestag vor. Und das war der historische Moment, in dem Helmut Kohl sich die Initiative in Richtung deutsche Einheit nicht mehr aus der Hand nehmen ließ. Übrigens wurde am 1. Dezember 1989 im Bundestag über diesen Plan abgestimmt: Die CDU/ CSU/ FDP-Koalition votierte mit Ja. Die SPD enthielt sich der Stimme; Oskar Lafontaine verurteilte damals als SPD-Vorsitzender den Vorstoß von Kohl als „größten diplomatischen Fehlschlag“. Es gab allerdings auch einige Bedenken aus der FDP und sogar von wenigen aus der CDU. Das Echo aus der DDR-Führung war ebenfalls ablehnend – von Krenz über Modrow bis hin zu Stefan Heym wurde vom „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte in der DDR“ gesprochen. Zwiespältig war auch das Echo aus dem Ausland: Moskau warnte vor einem „neuen deutschen Revanchismus“, Rom vor den Gefahren „eines aufkommenden Rechtsradikalismus“. In der Londoner Times war gar vom heraufziehenden „Vierten Reich“ zu lesen. Es musste also viel Überzeugungsarbeit geleistet werden – im Ausland wie hierzulande. Denn es gab in Westdeutschland offene Briefe und Unterschriftenaktionen mit Warnungen „vor den Folgen eines hastigen Anschlusses der DDR an die BRD.“ Günter Grass plädierte für eine „Konföderation und gegen das Einheitsgeschrei.“ Willy Brandt hatte einige Monate zuvor den Wunsch nach der Wiedervereinigung als die „größte Lebenslüge“ der Deutschen bezeichnet.
Anfang 1990 haben wir mit Helmut Kohl und manchen Experten über ein mögliches Austauschverhältnis von D-Mark und Mark der DDR intensiv diskutiert. Bundesbankpräsident Pöhl hielt eine Währungsunion für verfrüht, Wissenschaftler schlugen Stufenpläne vor. In der DDR gab es derweil öffentliche Demos, auf denen folgendes laut wurde: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, dann kommen wir zur D-Mark.“ Die Zahl der Übersiedler stieg von Woche zu Woche ohnehin stark an.
Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt. Lothar de Maizière wurde der erste Ministerpräsident, Sabine Bergmann-Pohl Parlamentspräsidentin und Staatsoberhaupt der DDR.
Helmut Kohl machte sich im Vorfeld für ein Bündnis aus DA, DSU und Ost-CDU, für eine „Allianz für Deutschland“ stark. Es gab Begegnungen mit Schnur, de Maizière, Diestel, Ebeling, Eppelmann und vielen anderen, von denen einige aussortiert werden mussten – wegen ihrer Stasi-Nähe.
In seinem Buch „Ich wollte Deutschlands Einheit“ schreibt Helmut Kohl: „Mit logistischer Unterstützung der Unionsparteien beginnt der Wahlkampf der Allianz für Deutschland….Friedhelm Ost koordiniert ihn vom Ost-Berliner Wahlkampfzentrum aus, Volker Rühe von der Bonner Parteizentrale aus….Sie sind es auch, die mit den Spitzenvertretern des Bündnisses an einer gemeinsamen programmatischen Linie arbeiten…“
Wir hatten zwei Schwerpunkte in das Programm „Allianz für Deutschland“ geschrieben: Die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen für den Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR und der Schutz vor negativen sozialen Folgen des schwierigen Anpassungsprozesses für die Menschen in der DDR.
Das Wahlergebnis am 18.März 1990 hat uns alle sehr überrascht: Die „Allianz für Deutschland“ erhielt 47,7 %, die CDU allein 40,5 %; die SPD kam auf gerade 21,7 %, die PDS auf 16,3 %. Die Wahlbeteiligung lag bei über 93 %! Kurz nach dieser Wahl bat mich Günther Krause, dass ich ein Gespräch mit einer Frau aus dem Team von Lothar de Maizière zum Thema “Öffentlichkeitsarbeit für die DDR-Regierung“ führen sollte. So fand mein erstes Treffen mit Angela Merkel in Ostberlin statt; sie sollte nämlich für die erste frei gewählte Regierung de Maizière Sprecherin werden.
Am 1. Juli 1990 begann die Währungsunion – als erste Stufe zur Integration des Gebietes der DDR in die EG, die vor allem der EG-Kommissionspräsident Jacques Delors durchgesetzt hatte. Jacques Delors, George Bush und Michail Gorbatschow waren am Ende diejenigen, die Helmut Kohls Weg zur Einheit positiv begleiteten und Hindernisse wegräumten.
Die Schaffung einer Währungsunion war natürlich voller Probleme, denn die DDR war seit langem Pleite. Es gab eigentlich keinen realistischen Umtauschkurs.
Auf dem „schwarzen Devisen-Markt“ konnte man 7, 10 oder gar 15 Mark der DDR gegen 1 D-Mark „wechseln“. Helmut Kohl ging bei der zentralen Frage des Umtauschkurses weit über das real vernünftige Maß hinaus; er wollte bewusst ein politisches Zeichen setzen: 1:1 Umtausch bis zu 2.000 Mark der DDR für Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr, 4.000 Mark für 15- bis 59jährige und 6.000 Mark für über 60jährige. Der Umtausch von darüberhinausgehenden Beträgen erfolgte im Verhältnis 2:1.
Formal besiegelt wurde dann nach unendlichen Verhandlungen auf der internationalen Ebene – vor allem mit US-Präsident George Bush bei einem Treffen in Camp David und mit Michail Gorbatschow im Kaukasus, dem wir enorme ökonomische Zusagen machten – und hierzulande zwischen Ost-Berlin und Bonn der Beitritt der DDR mit dem „Einigungsvertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“, dem am 20. September 1990 der Bundestag und die Volkskammer zustimmten: Die DDR war unserem Grundgesetz beigetreten.
Am 3. Oktober 1990 wurden damit auch die 144 Abgeordneten der letzten DDR-Volkskammer Mitglieder des Deutschen Bundestages. Am 2. Dezember 1990 fand die erste gesamtdeutsche Wahl zum Deutschen Bundestag statt.
Im Rückblick muss festgehalten werden: Unsere ostdeutschen Landsleute haben von innen Mauer und Stacheldraht niedergerissen, haben die Fesseln des Sozialismus und der Unfreiheit gelöst. Das war die mutige und friedliche Revolution. Doch Helmut Kohl hat in einzigartiger Weise den historisch kurzen Moment wahrgenommen und den Weg zur Wiedervereinigung freigemacht.
V.
Mit der Wiedervereinigung kam auf den Bundestag viel Arbeit zu. Als Neuling im Parlament – ich hatte mit großem Erfolg zum ersten Mal für den Bundestag im Wahlkreis Paderborn kandidiert – wurde ich auf Drängen von Helmut Kohl und anderen Politikern im neuen Bundestag gleich Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. In nahezu jeder Sitzung hatten wir neue Gesetze zu beraten, um das „Gemeinschaftswerk Aufbau Ost“ in Gang zu bringen. Die Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands war eine Herkulesaufgabe. Sie erforderte zusammen mit dem Aufbau der Infrastruktur in Ostdeutschland ein Finanzvolumen, das niemand vorher geahnt, geschweige denn auch nur annähernd beziffert hatte. Ein besonderes Beispiel bot die Treuhandgesellschaft, die 15.000 Privatisierungen durchführte, 4.300 Unternehmen an Alt-Eigentümer zurückgab, 8.400 Unternehmen entflocht, abspaltete, ausgründete oder abwickelte. Hinzu kam noch die kleine Privatisierung von über 25.000 Läden, Hotels, Apotheken usw.
Anfangs gingen die meisten Experten davon aus, dass dieses DDR-Volksvermögen einige hundert Milliarden einbringen würde. Doch schnell mussten wir feststellen, wie sehr die DDR von der Sowjetunion ausgesaugt worden war. Ja, unsere Landsleute in der DDR mussten über Jahrzehnte Reparationsleistungen erbringen; das war uns im Westen weitgehend erspart geblieben. Die Ausgaben, die der Treuhand durch die Privatisierung von Anlagen und Betrieben entstanden waren, beliefen sich am Ende auf umgerechnet 160 Mrd. Euro; die erzielten Einnahmen betrugen gerade 33 Mrd. Euro, so dass sich ein Minus-Saldo von gut 125 Mrd. Euro allein hier ergab. Insgesamt sind seit der Wiedervereinigung über 2.000 Mrd. Euro von West nach Ost transferiert worden. Viele Städte und Regionen sind renoviert und restrukturiert worden. Massive Umweltschäden wurden beseitigt. Die Qualität der Luft und des Wassers hat sich deutlich verbessert – ebenso die Qualität des Wohnens und der Natur.
Die Lebenserwartung der Menschen, die in der alten DDR gut 5 Jahre niedriger war als im Westen, ist inzwischen überall gleich. Wer mit offenen Augen durch die Neuen Bundesländer fährt – nach Erfurt oder Potsdam, nach Dresden oder Rügen, nach Weimar oder in andere Regionen-, der kann blühende Landschaften sehen und erleben. Allerdings gibt es noch Regionen, aus denen viele Menschen weggezogen sind, die immer noch keine gute Infrastruktur haben und zum Teil zurückgeblieben sind.
Als ich Ende 1989/ Anfang 1990 viel Zeit in der DDR verbrachte, roch und sah ich nicht nur die dicke Smogschicht aus den Brikettöfen, sah ich die verwüsteten und verseuchten Landschaften – etwa in Bitterfeld und im Wismut sowie in den Braunkohlerevieren, besichtigte ich Werkshallen, die kurz vor dem Zusammenbruch standen, fuhr ich an Straßenzügen vorbei, an denen ruinenhafte und verfallene Häuser standen. Das alles hat sich weitgehend zum Positiven verändert. Auch Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen, Kindergärten, Schulen und Universitäten sind inzwischen häufig moderner als in Westdeutschland. Dasselbe gilt für das Autobahnnetz – seit 1940 war kein Kilometer neu gebaut worden – und die Kommunikationsnetze mit Glasfaserkabel. Als ich vor mehr als 27 Jahren als Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages zum ersten Mal mit dem Uranerzbergbau in Wismut konfrontiert wurde – vor allem mit den Hinterlassenschaften des Uranerzbergbaus in Sachsen und Thüringen-, da waren sich alle Experten einig, dass die Probleme nicht mit einigen Millionen DM zu lösen wären. In den vergangenen 2 Jahrzehnten sind enorme Sanierungsarbeiten geleistet worden, die den Menschen, der Umwelt und der wirtschaftlichen Entwicklung der Region um Wismut zugute kommen. All das ist indessen noch nicht beendet, es gibt noch viel zu tun. Aber die finanzielle Absicherung der Sanierung durch die Wismut GmbH erfolgte durch den Bund: Bis heute werden hierfür rund 5,6 Mrd. Euro aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt. Die Sanierungsarbeiten werden voraussichtlich erst nach 2020 abgeschlossen sein.
Seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 haben sich die Lebensverhältnisse in den ostdeutschen Ländern deutlich verbessert. Allerdings gibt es immer noch gewisse Unterschiede, das sollte nicht verschwiegen werden. So sind zum Beispiel die ostdeutschen Länder bei der Bildung, bei der Umweltqualität und auch bei der Qualität des Wohnens inzwischen vielfach besser als viele andere Regionen in Westdeutschland.
Die Wirtschaftskraft nähert sich mehr und mehr an: So ist das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Ostdeutschland das 1991 nicht einmal bei 43 % des westdeutschen Niveaus lag, auf inzwischen rund 75 % gestiegen. Die Wirtschaftsstruktur Ostdeutschlands ist geprägt von kleinen und mittleren Betrieben. Es gibt keine Zentrale von Großunternehmen in Ostdeutschland. Von den 138 als strukturschwach eingestuften Regionen in Deutschland liegen rund 60 % in Ostdeutschland, obwohl es nur 30 % der Fläche und 20 % der Bevölkerung von ganz Deutschland aufweist.
Im jüngsten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017 wird zu Recht auf eine Entwicklung in Ostdeutschland hingewiesen, die nicht nur zur Nachdenklichkeit, sondern auch zum Handeln Anlass gibt. Bereits seit der Wiedervereinigung zeigten sich dort in besondere Weise Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz. Fremdenfeindliche, rassistische und rechtsextremistische Übergriffe gab es dort in manchen Regionen.
Leider gab und gibt unzählige „Angriffe“ auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte.
Die zweistelligen Ergebnisse, die die AfD bei den jüngsten Wahlen in den ostdeutschen Ländern und bei der Bundestagswahl am 24. September erzielte, spiegeln diese Fehlentwicklungen in Ostdeutschland mehr als deutlich wider. Dass diese zum Teil rechtsextremistischen Aktionen Investoren aus dem Inland und vor allem aus dem Ausland nicht in Richtung Ostdeutschland locken, wird wohl niemanden überraschen.
27 Jahre Deutsche Einheit – gemeinsam sollten wir diesen Tag als unseren Nationalfeiertag begehen: mit Stolz, dass wir bislang so viel gemeinsam geschafft haben, mit Genugtuung, dass die Entwicklung in unserem gemeinsamen Vaterland insgesamt in dir richtige Richtung geht.
Allerdings sollten die erzielten Fortschritte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch erheblicher Anstrengungen bedarf, um die gewünschte Ost-West-Angleichung vollends zu erreichen. Nichts macht das deutlicher als der Umstand, dass die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern im Schnitt noch immer wesentlich höher ist als im Westen – vielfach sogar fast dreimal so hoch wie in Baden-Württemberg.
Die friedliche Revolution unserer Landsleute in der DDR, die zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes führte, war das große Ereignis unserer Geschichte. In den fast 28 Jahren seit dem Fall von Mauer und Stacheldraht haben wir gemeinsam viel erreicht. Dennoch bleibt vieles noch zu tun.
Um das Gemeinschaftswerk „Aufbau Ost“ wirklich zu vollenden, werden wir uns noch auf weitere 2 bis 3 Jahrzehnte einrichten müssen. Denn es geht vor allem um die volle Integration unserer ostdeutschen Landsleute in unsere Demokratie, in unser Wirtschaft- und Gesellschaftssystem.
Wir Deutschen können seit der friedlichen Revolution, dem Fall der Mauer und der Wiederherstellung der Einheit in Frieden und Freiheit leben. Und das haben wir mit Zustimmung unserer Partner und Verbündeten in der Welt erreicht. Das war nicht selbstverständlich, es hätte auch alles anders kommen können. So sind Jahrestage des Mauerfalls und der Wiedervereinigung vor allem Tage der Freude und der Dankbarkeit – Dankbarkeit für den Sieg der Freiheit, für die Wiedervereinigung unseres Landes und für das Zusammenwachsen Europas.
„Mit dem 3. Oktober 1990 erhielten wir Deutsche endlich unseren Friedensvertrag, und der Zweite Weltkrieg wurde völkerrechtlich beendet“, so hat es der Berliner Sozialdemokrat Richard Schröder gesagt. Deutschland hat damit seine volle Souveränität erlangt.
Als gute Patrioten können sie alle am heutigen Tag bekennen: Zollernalb-Kreis ist unsere Heimat, Deutschland ist unser gemeinsames Vaterland, Europa ist unsere Zukunft!
Unsere Kinder und Enkel sollen dereinst von uns, die wir das historische Glück der friedlichen Wiedervereinigung unseres gemeinsamen Vaterlandes erleben durften, sagen: Sie waren gute Patrioten, die alles Menschenmögliche getan haben, dass Deutschland im Glanze seines Glückes blüht – mit Einigkeit und Recht und Freiheit.
Wir alle sind herausgefordert, die Zukunft in Europa und in der Welt, in Deutschland und damit auch hier im Zollernalbkreis zu gestalten und zu meistern.
Dabei geht es vor allem darum, im Konsens aller Demokraten allen radikalen Tendenzen die Stirn zu bieten, das bürgerliche Miteinander zu stärken, in den Familien zueinander zu stehen, die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme zu lösen.
Das alles wird ohne Zweifel mit Gesetzen und Verordnungen von Europa, von Berlin und Stuttgart als große Rahmenbedingung politisch hervorgehoben, doch muss es hier vor Ort von den Menschen umgesetzt und praktiziert werden: Nächstenliebe, nachbarschaftliche Hilfe, Unterstützung von Behinderten, Schwachen und Siechen, Engagement in Vereinen und Gemeinden – all das muss hier vor Ort tagtäglich geleistet werden. Denn wir sind keine Gesellschaft des gepanzerten Materialismus – und wollen es auch nicht werden.
VI.
Die Bundestagswahl am 24. September hat unsere Republik fast erschüttert, ja es gab tektonische Verschiebungen im politischen Jura-Gestein. Die Verluste der einst großen Volksparteien sind mehr als schmerzlich. Die wirklichen tieferen Ursachen für diese Niederschläge müssen aufgearbeitet und beseitigt werden. Der Radikalismus und Extremismus sowohl am linken Rand – mit fast 9 % der Wählerstimmen für die Linke, die Erben Honeckers und Genossen – als auch auf der rechten Flanke mit der AfD, die mit 12,6 % in den Deutschen Bundestag einzieht, sind gefährliche Menetekel.
Niemand weiß derzeit genau, wie die zukünftige Mehrheit im Bundestag, wie die nächste Koalitionsregierung letztendlich aussehen wird. Kaum noch jemand will auf Horst Seehofer und Martin Schulz, manche nicht einmal mehr auf Angela Merkel als Vorsitzende ihrer Parteien auf längere Zeit wetten. Wenn eine Partei mit ihrem christlichen, konservativen und demokratischen Wurzeln allzu sehr auf den Kurs der Beliebigkeit steuert oder gesteuert wird, wenn gar der Zeitgeist zur Mode wird, dann steht man am Ende fast nackt da, jedenfalls ohne Hemd und Hose. Mit Grauen wenden sich Stammkunden ab, wenn nur noch auf die Laufkundschaft geschielt wird. Die Angebote in den Schaufenstern einer politischen Partei wurden doch in den letzten Jahren in bisweilen atemberaubendem Tempo verändert und gewechselt – bis hin zur „Ehe für alle“. Der nächste Schritt wird die „Selbstheirat“ sein, die es gesetzlich zu beschließen gilt und die es ja schon in einigen ausländischen Staaten gibt.
Ein Konservativer ist doch wie ein guter Fußballspieler: er hat ein stabiles Standbein und ein starkes Schussbein, um sowohl in der Defensive wie in der Offensive erfolgreich zu sein. Die Union muss nicht nach Rechtsaußen rücken; diese Position gibt es im modernen Fußball auch nicht mehr. Doch muss sie mit starken rechten Außenverteidigern und Flügelstürmern auch rechts der Mitte das Wächterfeld abdecken und beherrschen. Dazu gehören politisch klare Grundwerte, verständliche Zielorientierungen und erkennbare Koordinaten.
Ich bin Thomas Bareiß sehr dankbar, dass er sich seit langem im „Berliner Kreis“ mit Wolfgang Bosbach, Christean Wagner und anderen Unionspolitikern für einen klaren werteorientierten Kurs eingesetzt hat. Leider haben viele nicht auf ihn gehört – vor allem weil manche taub oder gar tauber sind. Nun gilt es aufzupassen, damit das Profil der Union nicht noch stumpfer und flacher wird, dass es mehr und mehr zur Unkenntlichkeit gerät. Vier Parteien in einer Regierungskoalition auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, das ist wie die Quadratur des Kreises. Wer sich die Programme und Forderungen von Grünen und Freidemokraten genauer anschaut und diese mit den politischen Vorstellungen von CDU und CSU in einen gemeinsamen Koalitionsvertrag bringen und damit die Zukunft politisch gestalten will, der wagt sich wahrlich an ein Himmelfahrtskommando mit völlig ungewissem Ausgang. Auf jeden Fall müssen die Vorstellungen von CDU und CSU den Katalog der Gemeinsamkeiten deutlich bestimmen. Unionschristen müssen sich darin unbedingt wiederfinden, auch wenn manche Kompromisse eingegangen und grüne wie gelbe Kröten geschluckt werden müssen.
Wie auch immer die nächste Koalition im Bundestag aussehen wird – mit zur Zeit größter Wahrscheinlichkeit wird es die Jamaika-Formation mit CDU, CSU, FDP und Grüne sein -, Deutschland steht vor wahrlich großen Herausforderungen:
1. Wir müssen alles tun, um unsere Wirtschaft auf einem stabilen, ökologischen und inklusiven Wachstumskurs zu halten. Die Wirtschaft ist unser Schicksal, so hat es Walter Rathenau schon vor 100 Jahren gesagt. Nur mit einer florierenden Wirtschaft können wir unsere innenpolitische Stabilität und unseren Wohlstand sichern. Was nicht zuvor erarbeitet wird, kann nicht verteilt werden.
2. Wir müssen dem Ziel der Vollbeschäftigung näherkommen. Trotz guter Wirtschaftsentwicklung – das Wachstum wird 2017 bei fast 2 % liegen -, gibt es immer noch 2,5 Millionen Arbeitslose: Auf der anderen Seite haben wir einen Rekord mit etwa 44 Millionen Beschäftigten, mit über 1 Million offener Stellen. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit, die in einigen Regionen Quoten von 15 % und mehr erreicht, sind gezielte Maßnahmen erforderlich: Vom Kombilohn über Qualifizierung bis hin zu einem sozialen Arbeitsmarkt. In diesem Jahr werden die Ausgaben für das Arbeitslosengeld etwa 15 Milliarden Euro betragen. Jeder Euro, der für den Weg in Arbeit genutzt wird, ist allemal besser als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Viel stärker als ein der Vergangenheit müssen wir in die Bildung, die berufliche Ausbildung und Fortbildung sowie in die Qualifizierung investieren. Denn wichtiger als alles Finanz- und Sachkapital ist für unser Land das Humankapital, das sind die Köpfe und Hände der Menschen. Dabei müssen wir begreifen, dass Lehrer am wichtigsten dafür sind: Deshalb wird mehr Geld für mehr Lehrer und eine bessere Bezahlung von Lehrern erforderlich sein.
Junge Menschen ohne Schulabschluss, ohne beruflichen Abschluss und ohne jede Qualifizierung haben in Zukunft nur noch die Chance „Hartzer“ zu werden, ja sie landen oder stranden als Hartz IV-Leute.
3. Die Haushaltspolitik muss weiterhin solide und auf Sparsamkeit ausgerichtet sein. Der gesamte Schuldenberg aller Gebietskörperschaften beträgt immer noch fast 1.800 Milliarden Euro; allein der Bund ist mit 1.000 Milliarden Euro verschuldet. Im letzten Jahr musste der Staat trotz Niedrigzinsphase immer noch 57 Milliarden Euro an Schuldzinsen zahlen; das waren viele Milliarden mehr, als der Staat für Sachinvestitionen finanzierte. Deshalb müssen die Ausgaben der öffentlichen Hände trotz derzeit kräftig sprudelnden Steuerquellen begrenzt bleiben, die Schuldenbremse bei allen Gebietskörperschaften eingehalten werden.
Politisch ist ein Dreisprung geboten:
- Stärkung der öffentlichen Investitionen – in Bildung, Forschung, Wissenschaft, Innovationen, Infrastruktur – Straßen, Brücken, Gebäude, schnelle Internet-Netze.
- Moderate, gezielte Senkung der Einkommensteuer – vor allem Abbau des sogenannten Mittelstandsbauchs und das weitere Herausschieben des Spitzensteuersatzes sowie ein Abbau des Solidaritätszuschlages. Auch hier steht Deutschland im Wettbewerb mit anderen Ländern, die ihre Unternehmen geringer besteuern oder in Zukunft besteuern wollen – wie etwa die USA.
- Weiterer Abbau des hohen Berges an Staatsschulden, denn diese Schuldenlast kann doch nicht der nächsten Generation aufgeladen werden. Nachhaltigkeit ist hier gefordert.
4. Zukunft ist nicht Schicksal, sondern Herausforderung. Thomasso di Lampedusa schrieb in dem Roman „Der Leopard“ u. a. folgenden Satz: „Wenn wir nicht bereit sind, alles zu verändern, wird nicht so bleiben, wie es ist.“ Wir müssen den Wandel offensiv meistern. Mit der Globalisierung hat sich die Welt verändert – mit Konsequenzen for nahezu jedes Unternehmen und jeden Arbeitsplatz, für den Wettbewerb. Nur wenn wir innovativer, schneller und konkurrenzfähiger sind als andere, werden unsere Produkte – von Autos bis zu Anlagen und Maschinen – auf den Weltmärkten gekauft. Deutschland hat einen starken Mittelstand – mit vielen hidden champions; das ist eine große Stärke.
5. Wir befinden uns mitten in einer industriellen Revolution – in der Digitalisierung. Das „Internet of everything“ wird über Plattformen nahezu alles miteinander verbinden. Roboter und Sensoren werden mit dem Internet kombiniert: Sie steuern ganze Prozesse, sie kontrollieren und registrieren. 50 % aller Arbeitsprozesse werden davon betroffen sein. Autos, TV-Geräte, Haushaltsgeräte usw. sind bereits vielfach schon stark digitalisiert. Wir buchen Tickets, Reisen usw. über das Internet. Wir bestellen Geräte, Möbel, Kleidung, Lebensmittel und vieles mehr online. Deutschland hat hier durchaus in einigen Bereichen mitgehalten – etwa im Maschinen- und Anlagenbau, auch in der Autoindustrie. Im Vergleich zu den USA mit den Firmen Google, Alphabet, Microsoft, Amazon usw. liegen wir jedoch zu weit zurück, auch in der Konkurrenz zu China, Indien und anderen Staaten. Wir müssen also aufholen: Dazu brauchen wir vor allem eine Super-Infrastruktur mit Glasfasernetzen überall. Und wir müssen in der EU digital kooperieren – und zwar auf allen Feldern wie etwa bei er Entwicklung von Apps, beim Datenschutz, bei den Urheberrechten usw. So wie beim Airbus müssen sich die etwa 500 Millionen Europäer darauf besinnen, gemeinsam die Ressourcen zu bündeln und die Chancen des großen europäischen Marktes für die Digitalisierung zu nutzen.
6. Der Klimaschutz ist eine der ganz großen Herausforderungen. Dafür haben wir uns zu ehrgeizigen Zielen mit dem Pariser Abkommen verpflichtet. Die Politik sollte deshalb klare Vorgaben mit Grenzwerten etwa für Emissionen machen, aber nicht die Technologien vorschreiben; selbst der ehrgeizigste Politiker kann doch die Zeiten nicht festlegen, in denen die Sonne scheint oder der Wind weht; er kann gewiss auch nicht definieren, ob nur der Elektromotor oder der Hybrid das non plus ultra für die nächsten Autojahrzehnte sein werden oder ob nicht andere Antriebsarten, andere Treibstoffe o. ä. besser sein werden. Nachhaltigkeit ist in der Klima- und Energiepolitik gefordert; das betrifft nicht zuletzt auch die Effizienz beim Energie-, Rohstoff- und Naturverbrauchs.
7. Der demografische Wandel muss bewältigt und gestaltet werden. Vor 50 Jahren wurden etwa 1,4 Millionen Kinder in Deutschland geboren, in diesem Jahre werden es nur rund 700.000 sein. Unsere Gesellschaft wird älter – mit Folgen für viele Bereiche. Bis zum Jahr 2030 könnten zum Beispiel 3 Millionen Fachkräfte, bis 2040 sogar 9 Millionen auf dem Arbeitsmarkt fehlen. Die Auswirkungen der demografischen Veränderungen auf die Sozialsysteme sind bereits deutlich. 1957 kamen 7 aktive Beitragszahler auf 1 Rentner; heute liegt das Verhältnis bei 3:1. 1957 betrug die Rentenbezugszeit im Schnitt 10 Jahre; heute ist sie doppelt so lang – Tendenz kräftig steigend. Die mittlere Lebenserwartungszeit erhöht sich; sie lieg bei Frauen schon über 80 Jahre, bei Männern etwas darunter. Schon reichen die Rentenbeitragszahlungen nicht mehr für die Rentenzahlungen aus: Rund 80 Milliarden Euro, etwa ein Drittel der Renten, müssen aus dem Bundeshaushalt, also aus Steuern, gezahlt werden.
Bis 2029 wird das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre schrittweise erhöht. Bis dahin sind die Renten sicher, wird das Rentenniveau nicht dramatisch sinken, werden die Rentenbeiträge nicht wesentlich steigen. Doch nach 2029 werden die sogenannten Babyboomer, also die in den 60er und 70er Jahren Geborenen, in Rente gehen. Um das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung auch bei denen, die jetzt Beiträge zahlen, zu erhalten, sind weitere Weichenstellungen erforderlich, sind ergänzende Maßnahmen – wie etwa die Stärkung der Betriebsrente und die private Vorsorge – geboten. Auf lange Sicht – also für die Zeit nach 2030 – sollte auch niemand eine flexiblere Zeit für den Eintritt in das Rentenalter ausschließen. Schon jetzt gibt es immer mehr Arbeitnehmer, die 65 Jahre und älter sind und gerne noch arbeiten bzw. Teilzeitjobs machen. Wichtig ist, dass wir bessere finanzielle Lösungen für diejenigen finden, die wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit früher in Rente gehen müssen. Was für das Renten-System, gilt, das gilt ebenso für die Bereiche Gesundheit und Pflege, für den Wohnungsbereich, für die Mobilität usw.
8. Wir müssen unsere innere Sicherheit wesentlich verbessern – etwa den Schutz gegen Kriminalität, Gewaltdelikte, Raub und Diebstahl. Ohne Sicherheit wird die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt. Dafür sind mehr Polizisten im Einsatz dringend erforderlich; dafür sind die Bezahlung und die technologische Ausstattung der Polizei notwendig. Recht und Gesetz müssen von einem starken Staat durchgesetzt werden.
9. Neben der innenpolitischen Sicherheit spielt die Außen-Sicherheit eine immer größere Rolle. Dafür müssen wir unseren Verpflichtungen in der NATO entsprechen, dafür sollten wir alles daran setzen, um mit den Partnern in der EU eine gemeinsame Sicherheitspolitik umzusetzen. Auch unseren Soldaten sollte wieder eine höhere Wertschätzung zu teil werden.
10. Die Stärkung der EU ist last but not least besonders wichtig. Denn zum einen haben wir nur mit einer starken EU gute Chancen in der Weltpolitik: Die Weltbevölkerung zählt heute 7,5 Milliarden Menschen; schon bald werden es 9 Milliarden sein. Deutschland stellt davon gerade gut 1 %, die EU immerhin noch 8 %.
Wenn wir in der UNO, im IWF, in der Weltbank, in der WTO usw. noch entscheidend mitreden wollen, geht es nur, wenn die EU dort als geschlossene Einheit auftritt. Nahezu alle großen Probleme sind kaum oder gar nicht mehr rein national zu lösen: das gilt für die Bekämpfung des Internationalen Terrorismus und die grenzüberschreitende Kriminalität, das gilt für den Klima- und Umweltschutz, für den Außenhandel und die Auslandsinvestitionen, für die Bewältigung und Begrenzung der Migrantenströme und vieles mehr.
Kein anderes vergleichbares Land der Welt ist so stark auf freien Handel angewiesen wie Deutschland: Wir liegen in der Spitzengruppe der Export-Champions, aber wir benötigen viele Rohstoff-, Energie-, Nahrungsmittel- und andere Importe aus dem Ausland. Wir Deutschen sind ohne Zweifel die größten Profiteure der Globalisierung, aber eben auch des europäischen Binnenmarktes.
Deshalb sollten wir die EU als unsere Zukunft sehen und gestalten. Es gibt hier neue Chancen, mit der Antriebsachse Paris-Berlin wieder neue dynamische Kräfte zu entfesseln und die europäische Gemeinschaft weiterzuentwickeln – nicht unbedingt zu den Vereinigten Staaten von Europa, doch zu einem Europa starker Vaterländer. Es gilt, die zentrifugalen Kräfte zu überwinden. Patriot und Europäer zu sein – das passt bestens zusammen. Denn nur der, der sein eigenes Vaterland liebt, kann auch andere Länder verstehen und respektieren. Deshalb lassen Sie uns deutlich und mutig Front machen gegen Nationalismus und Chauvinismus, insbesondere gegen jede Form des Rassismus! Vielmehr wollen wir ein europäisches Deutschland, beweisen auch unseren Patriotismus und unsere Vaterlandsliebe, bekennen uns zu den Werten unseres Kontinents, des christlichen Abendlandes.
Gerade hier in Zollernalb-Kreis wollen Sie alle doch im Miteinander und Füreinander zusammenstehen, Solidarität beweisen und das mit innerer Hingabe realisieren, was eben Einigkeit und Recht und Freiheit beinhaltet und bedeutet. Wenn dies nicht in Ihren Familien und in Ihrer Gemeinde gelingt, dann wird es auch nicht in unserem wiedervereinigten Deutschland gelingen. Viele von uns erinnern sich gewiss an den Ruf unserer Landsleute in der DDR im Jahre 1989: Wir sind das Volk! Nur wenige Tage nach der Öffnung der Mauer und dem Niederreißen des Stacheldrahtes riefen sie dann: Wir sind ein Volk! Ja, wir sind ein Volk, wir gehören zusammen, wir leben gern in unserem Deutschland und gestalten es gemeinsam – für uns und für die Generationen unserer Kinder und Enkel. Befolgen wir also die Erkenntnis des weisen Philosophen Dante: Der eine wartet, wie die Welt sich wandelt, der andere sieht die Chance und handelt. Lassen wir uns dabei von dem edlen Mut von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der vor 110 Jahren hier in der Nähe, in Jettingen, geboren wurde, zumindest ein wenig anstecken! Auch unsere Demokratie, ja unser Land ist nicht mit Wutbürgern, sondern nur mit Mutbürgern zukunftsfähig zu gestalten.
Ich bin jedoch sicher, dass Sie alle hier geradezu beispielhaft weiterhin beweisen, dass jeder, der hier lebt, von der Gemeinschaft angenommen und aufgenommen wird, dass jeder, der hier lebt, spürt, dass er in dieser Gemeinschaft mit Toleranz und Achtung akzeptiert wird, ja dass er tagtäglich in der Lebensqualität begreift, was in unserem Grundgesetz in dem Artikel 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und zwar die Würde eines jeden Menschen, ganz gleich ob jung oder alt, ganz gleich ob Mann oder Frau, ganz gleich ob arm oder reich, ganz gleich ob Deutscher oder Ausländer, ganz gleich ob Christ oder Muslim. So müssen wir unsere Landsleute aus den Neuen Bundesländern in unsere Republik viel besser als bisher integrieren, ihnen mit viel Herzblut das Gefühl der Gemeinsamkeit und des Miteinanders vermitteln. Denn echte Patrioten lieben ihr Vaterland und die Menschen, die mit ihnen hier leben und schaffen. Wir gehören zusammen, wir müssen jedoch auch zusammenwachsen. Weder Links- noch Rechtsextremisten dürfen eine neue Spaltung erreichen. Das dürfen wir nicht zulassen. Vielmehr sollten wir mehr denn je die alte Weisheit befolgen: Wenn Freunde zusammenhalten, können sie Berge versetzen!
Bildquelle. Wikipedia, gemeinfrei