Nein, die AfD hat die Bundestagswahl nicht gewonnen, die überwiegende Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler hat für die demokratischen Parteien gestimmt. Da hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schuster, Recht mit seiner Behauptung, 87 Prozent hätten nicht die AfD gewählt. Also möge man die Kirche im Dorf lassen. Die SPD wird in die Opposition gehen und das ist staatspolitisch klug und richtig, sie hat das schwächste Ergebnis nach dem Zweiten Weltkrieg kassiert, der Wähler will sie nicht in der Regierung sehen. Die Union wird trotz herber Verluste mit Kanzlerin Angela Merkel eine neue Regierung bilden, wohl eine Jamaika-Koalition, also eine Allianz mit der FDP und den Grünen, auch wenn das nicht nach dem Geschmack der beiden kleineren Parteien ist. Alles andere wäre verantwortungslos und könnte zu Neuwahlen führen- mit allen Risiken für die beteiligten Demokraten.
Wer am Sonntagabend den Wahlabend verfolgte, war zeitweilig irritiert über die Schwerpunktbildung der öffentlich-rechtlichen Sender. Der Eindruck wurde vermittelt- und nicht nur mir-, als stünde die AfD vor den Toren des Kanzleramtes in Berlin. Aber ähnliches war ja schon in den letzten Monaten vor der Bundestagswahl und vor den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in NRW zu beobachten: obwohl die führenden Mitglieder der AfD in der Regel nichts oder nur sehr wenig zur Sache beizutragen hatten, wurden sie immer wieder in die Talkshows geladen, um dort zu provozieren. Das Fernsehen, vor allem das öffentlich-rechtliche, hat die AfD erst salonfähig gemacht, bewusst oder unbewusst. Die Gesellschaft musste den Eindruck gewinnen, als sei das mit der AfD gar nicht so schlimm. Ein erfahrener Medien-Mann, der in der Vergangenheit für Zeitungen wie den Rundfunk gearbeitet hat, kommentierte dazu: „Die Medien haben sie hoch gequatscht, haben sie einfach reden lassen, obwohl die AfD-Vertreter nichts zur Sache zu sagen hatten, sondern nur provozieren wollten.“ Der Verdacht lag und liegt nahe, dass sie Quote erzielen wollten.
AfD redet von Aufbruch, meint Rückschritt
Man ließ sie reden, den Staat und das Gemeinwesen nicht nur kritisieren, sondern schlecht machen. Die AfD tat so, als wollte man den Aufbruch, dabei meinte man Rückschritt. Sie schüren Ängste und Misstrauen, sie stehen für Kaltherzigkeit, Egoismus a la Trump-Ich-Ich-Ich, sie sind nationalistisch, rassistisch und in Teilen sind sie Neonazis wie Björn Höcke, der Vorsitzende der AfD-Fraktion im thüringischen Landtag. Sie bekämpfen den Islam, wollen Deutschland abschotten. Sie sind offen ausländerfeindlich und rechtsextremistisch. Sie sind gegen das moderne Deutschland, das offen ist und tolerant. Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ scheint ihnen fremd zu sein, denn die Würde des Menschen bezieht sich auf alle Menschen, auch auf Flüchtlinge. Der frisch gewählte Bundespräsident Johannes Rau hat mit diesen Worten einst seine Amtszeit begonnen, bewusst.
Der Hinweis, die Deutschen holten nun nach, was andere längst hinter sich hätten, nämlich den Einzug der Rechtspopulisten, Rassisten und Nationalisten in die Parlamente, hilft uns nicht weiter. Die Entwicklung in Polen, Ungarn, Holland, Frankreich und in vielen anderen Ländern ist zu bedauern, aber der Vergleich mit Deutschland hinkt. 72 Jahre nach Kriegsende und dem Ende der Nazi-Herrschaft, die vielen Millionen Menschen den Tod brachten, eingeschlossen den Völkermord an den Juden, 84 Jahre nach der Machtübernahme der Nazis sitzen wieder Menschen im Reichstag, die teilweise ihre braune Gesinnung nicht verbergen wollen und können. Björn Hocke sitzt zwar nicht dort, aber der starke Mann der AfD, Gauland, führt die Regie der Rechtspopulisten. Gauland hat Höckes Aussagen, das Holocaust-Mahnmal in Berlin sei „ein Denkmal der Schande“ verteidigt. Derselbe Gauland, einst Chef der Staatskanzlei unter dem hessischen Ministerpräsidenten Walter Wallmann(CDU), der vor kurzem polemisierte, die Deutschen hätten das Recht, „stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten im 2. Weltkrieg“. Was hat Gauland mit den Leistungen gemeint? In der Süddeutschen Zeitung läuft seit einiger Zeit eine Serie, in der an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Russland vor 75 Jahren erinnert wird.
Eine Schande waren die Nazis
„Mies und lächerlich“ verspottete Höcke die deutsche Kultur der Erinnerung. Dabei können wir froh sein, dass wir trotz des Kultur- und Zivilisationsbruchs, begangen durch die Nazis, längst wieder angesehene Mitglieder der Völkergemeinschaft sind, dass wir anerkannt und respektiert werden in Europa und der Welt, dank deutscher Politiker von Adenauer und Heuss, über Brandt, Schmidt, Weizsäcker, Kohl, Genscher, Schröder und Merkel, um nur die herauszuheben aus einer ganzen Schar von Persönlichkeiten, denen es gelang, die Schande, die die Nazis über Deutschland gebracht hatten, durch ihr Ansehen zu ersetzen. Wir dürfen nie vergessen, dass in den 30er Jahren aus dem Land der Dichter und Denker ein Land der Richter und Henker wurde. Diese Erinnerung wachzuhalten, damit es nie wieder geschehe, ist Aufgabe der Demokraten in Deutschland.
Keine Zusammenarbeit mit der AfD. Da sind sich alle anderen Fraktionen im Reichstag einig. Es geht nicht darum, der AfD hinterherzulaufen, sondern die Themen, die den Menschen Sorgen bereiten und ihnen teils Ängste einflössen, zu besetzen und zwar mit den Konzepten der Parteien CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke. Die Politiker müssen den Bürgern die Globalisierung erklären, ihnen sagen, was Digitalisierung bedeutet und dass sie nicht in die Massen-Arbeitslosigkeit führt, aber auch kein Weg an ihr vorbeigeht. Der Weg in die Moderne kann nicht durch Abschottung und Rückgriff aufs Parolen von vorgestern versperrt werden, das wäre der falsche Weg, der Blick muss in die Zukunft gerichtet werden. Dazu gehören Rentenkonzepte, die ein Abgleiten in die Armut im Alter verhindern.
Soziale Schieflage
Die soziale Schieflage wird nicht dadurch beseitigt, indem man den Staat verspottet. Es darf nicht länger tatenlos hingenommen werden, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden, dass sich Manager die Taschen voll stopfen mit Geld, während der Arbeitnehmer sich um seinen Job sorgt. Wir müssen verlangen, dass Manager ihrer Verantwortung gerecht, ja, dass sie zur Kasse gebeten werden. Und wenn sie versagen, darf man ihnen nicht noch Boni in Millionenhöhe hinterherwerfen. Diese Neiddebatte haben die da oben selber ausgelöst. Eine gerechtere Gesellschaft schafft hier Abhilfe. Solidarität ist das Stichwort, das diesen Staat bei aller Kritik ausgezeichnet hat, unsere sozialen Sicherungssysteme müssen neudeutsch nachjustiert werden, aber das System stimmt und sorgt für zusätzliche Balance.
Streit um den richtigen Weg
Die Millionen Alleinerzieher im Land bedürfen größerer Aufmerksamkeit und der Hilfe. Warum verdienen Krankenschwestern eigentlich so wenig? Warum werden Pfleger nicht besser bezahlt? Politiker müssen sich um die Arbeitnehmer zum Beispiel bei Thyssen-Krupp und anderswo kümmern, wo Umstrukturierungen die Sorgen um den Job größer werden lassen. Da muss sich die Politik stellen und darf das Thema nicht den Populisten überlassen. Es geht um Sachpolitik, darum, sich den Problemen vor Ort zu stellen und um Lösungen zu ringen. Dazu gehört der Streit um den richtigen Weg, ein Streit, der auch im Bundestag geführt werden muss.
Die SPD muss ihre neue Rolle im Bundestag erst noch finden. Die schwerste Niederlage der Partei nach dem Krieg wird Diskussionen auslösen über den künftigen Kurs. Und auch den Kopf. Ob Martin Schulz der Mann der Zukunft ist, mit dem die Partei irgendwann wieder nach der Macht in Berlin greift? Zweifel sind angebracht, zumal Schulz selber für Führungs-Debatten sorgt, indem er in dieser schwierigen Situation auf den Fraktionsvorsitz zugunsten von Andrea Nahles verzichtet? Er hätte Partei- und Fraktionsvorsitz für sich beanspruchen müssen. Die SPD muss sich auf den Tag X vorbereiten, wann immer der ist. Es kann gut sein, dass eine Jamaika-Koalition nicht die vollen vier Jahre durchhält. Was passiert dann? Der einzige führende SPD-Politiker, der sich im Moment aber geschickt zurückhält, ist Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz, ein kluger, besonnener Mann, anerkannt in der Partei und weiten Teilen der Gesellschaft. Scholz war schon mal Generalsekretär der SPD, er kennt die Partei und all die Risiken, die mit der Politik verbunden sind.
Nachfolge von Merkel unklar
Die Union hat die Wahl gewonnen, aber Sieger sehen anders aus. Angela Merkel wird erneut versuchen, eine Koalition zustande zu bringen, wahrscheinlich mit der FDP und den Grünen, also den kleineren Parteien, die sich gar nicht grün sind, die teils eine ähnliche Wähler-Klientel bedienen. Es könnte zudem passieren, dass die Nachfolgedebatte einsetzt, vor allem, wenn eine mögliche Jamaika-Koalition nicht durchhält. Noch ist im Ansatz nicht geklärt, wer Merkel ersetzen könnte. Eine spannende Frage. Merkels zusätzliches Problem wird CSU-Chef Horst Seehofer sein. Der bayerische Ministerpräsident hat das Abschneiden der AfD mit großer Sorge beobachtet. Dass die AfD im Bundestag sitzt, wollte er verhindern, wie das sein Vorbild Franz Josef Strauß schon vor Jahrzehnten gefordert hatte: Rechts neben der CSU dürfe es keinen nennenswerten Konkurrenten geben. Vorbei, Horst Seehofer, die AfD ist drin und sie schickt sich an, auch bei der bayerischen Landtagswahl im nächsten Jahr zu punkten. Wenn den Populisten das gelingt, dürfte die absolute Mehrheit der CSU dahin sein. Und dann gerät auch Seehofer in arge Nöte, auch weil er die Nachfolge verschleppt, in dem er Karl-Theodor von und zu Guttenberg hofiert, um seinen Finanzminister Söder als Ministerpräsidenten zu verhindern. Seehofer hat schon damit gedroht, eine alte Debatte wieder aufleben zu lassen, also muss Merkel mit der Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge rechnen. Als wenn ein Asylrecht eine Obergrenze zuließe. Besser, er würde endlich dafür sorgen, dass wir ein Einwanderungsgesetz bekommen. Ein fertiger Entwurf liegt vor. Überhaupt verlangt er eine Kurskorrektur in Richtung Mitte-Rechts. Das könnte sich als falsch erweisen, wenn er den Rechten nachläuft.
Dem Bundestag stehen andere Zeiten bevor, es könnte laut werden, giftig im mit 709 Mandatsträgern größten Parlament nach dem Krieg. Es wird auf die Demokraten ankommen, einen leidenschaftlichen Streit um den richtigen Weg zu führen, ohne dass dieser Streit in persönliche Angriffe verfällt und das Hohe Haus durch eine radikal sich gebende AfD zu einer Krawallbude verkommt. Die Demokratie muss das aushalten, die deutsche Demokratie ist gefestigt genug für diese Auseinandersetzung.
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