Sanktionen: Wirtschaftspolitische Selbstverstümmelung
Die von der EU beschlossenen Sanktionen gegen Russland können im Endeffekt zu einer wirtschaftspolitischen Selbstverstümmelung führen. Die in der letzten Woche angestoßene interaktive Sanktionsspirale kann in einen unkontrollierbaren Wirtschafts- und Finanzkrieg münden, der nicht nur Russland hart trifft, sondern über Sekundäreffekte ganz Europa und die Weltwirtschaft wirtschaftlich zurückwirft. Die jetzt im Schulterschluss mit den USA in Kraft gesetzten „Strafmaßnahmen“ werden aber auch keinerlei politische Fortschritte in der neuen West-Ost-Konfrontation oder im leidvollen Ukrainekonflikt bringen. Ganz im Gegenteil: Sie werden die gefährliche politische Konfrontation zwischen Nato und Russland weiter anheizen.
Gefährliche politische Strategie
Anscheinend sind genügend politische Spitzenvertreter(innen) der EU so leichtgläubig oder opportunistisch folgsam, auf die gefährliche Strategie zu setzen, dass durch die jetzt ausgelösten wirtschaftlichen und persönlichen Nachteile für die einflussreichen russischen Oligarchen und die neue Mittelschicht Präsident Putin in Russland politisch unter Druck gesetzt und ausgebremst werden kann. Das Kalkül der Sanktionen setzt auf die naive Annahme, dass sich in Russland wegen der wirtschaftlichen Nadelstiche und Einbußen die Mehrheit der Bevölkerung dann schnell gegen den gegenwärtig noch hochpopulären Putin wendet und dieser zumindest vor der EU politisch zu Kreuze kriecht oder gar das Handtuch wirft. Im Idealfall soll die an der Achillesferse ihrer Privilegien getroffene Machtelite Putin gar aus dem Sattel heben.
Welch eine gefährlich naive politische Strategie! Das genaue Gegenteil wird zumindest kurz– und mittelfristig geschehen:
Erstens wird Putin in den nächsten Wochen schon zur Aufrechterhaltung seiner politischen Autorität kurzfristig kühl, konzentriert und gezielt mit unangenehmen punktuellen Gegenmaßnahmen reagieren und mittelfristige schmerzliche Reaktionen zuerst nur diffus andeuten.
Zweitens wird sich die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung inklusive der privilegierten Eliten und neuen Mittelschicht angesichts der einmaligen Flut ausländischer Negativberichterstattung über die russischen Verhältnisse und das Agieren Moskaus in der Ukrainekrise hinter ihren Präsidenten stellen. Dazu trägt übrigens die ständige Expansion von EU und Nato in Richtung der Grenzen der Russischen Föderation bei. Und auch Obama hat Putin legitimatorisch mit seiner unüberlegten Schmähung Russlands als einer nur regionalen Macht sehr geholfen. Die Tatsache, dass die aktuell bestimmt kritikwürdigen gesellschaftlichen Strukturen in Russland vom „Westen“ heute um ein Vielfaches stärker attackiert werden als die chaotischen Zustände unter Boris Jelzin oder gar die völlig totalitären Strukturen unter Breschnew, trifft die Mehrheit der Russen in ihrem Selbstwertgefühl und führt zu einer stärkeren Solidarisierung mit ihrem Präsidenten: Denn trotz aller Defizite und Auswüchse im System Putin ist ja in den Augen der Menschen die Situation um ein Vielfaches besser als in den früheren Jahrzehnten.
Drittens wäre die Folgeabschätzung der Sanktionen ja noch viel beunruhigender, wenn die naive Rechnung, man könne mit der neuen Sanktionsschraube Putin in die Isolation, ja in die Ecke treiben, aufginge: Was könnte alles passieren – auch militärisch – wenn der Präsident Russlands und sein engerer Zirkel aufgrund ihrer durch Sanktionen schnell erodierenden Machbasis nichts mehr zu verlieren hätten! Welche Folgen hätte ein einschneidender Autoritäts-, Gesichts- und Machtverlust des Systems Putins wirklich? Wer kann denn in Europa oder Deutschland ein unkontrolliertes Handeln eines in die Ecke gequetschten Putins verantworten wollen? Schließlich ist Russland zwar „nur“ ein riesiges Land mit ungeheuren Bodenschätzen und einer mittelmäßigen Wirtschafts- und Innovationskraft, aber immerhin ist dieses Land neben den USA die größte Militär- und Nuklearmacht der Welt!
Fehlerhafte ökonomische Grundannahmen
Neben der politisch naiven und gefährlichen Strategie sind auch die ökonomischen Grundannahmen der Sanktionen unreflektiert und fehlerhaft. Der Betrachtungshorizont der politischen Akteure der EU reicht kaum noch bis zum zweiten Zug: Natürlich ist es leicht, die russische Wirtschaft kurz- und mittelfristig durch Kappung von High-Tech-Lieferungen empfindlich zu treffen – nicht nur im Energiesektor. Trefferwirkung hat auch die Schwarze Liste zur Sperrung von Vermögen und die Erweiterung der Personenliste für Reisebeschränkungen. Am meisten freuen sich kurzsichtige Strategen jedoch über die schmerzlichen Folgen der künftigen Aussperrung russischer Banken und Firmen von unserem Kapitalmarkt, die zu tiefen Bremsspuren führen wird.
Das Unseriöse an diesen kurzsichtigen Planspielen ist aber, dass absehbare negative Rückwirkungen derartiger „Strafmaßnahmen“ auf die EU, am meisten aber auf Deutschland, völlig verharmlost werden. Die Sanktionen werden über kurz- und mittelfristige Rückkopplungseffekte vielen Unternehmen in Deutschland und der EU schwer schaden: D.h. die „Strafmassnahmen“ in Form der Kappung von Lieferbeziehungen und Finanzströmen bestrafen im Rückstoß uns ja selbst – und zwar viel schneller als manche denken, was einer Art „wirtschaftlichen Selbstverstümmelung“ als Folge des jetzt losgetretenen Wirtschafts- und Finanzkriegs gleich kommt.
Die wahren Wirkungen eines Wirtschafts-und Finanzkriegs
Durch die Sanktionen droht in Wahrheit ein unkontrollierter Wirtschafts-und Finanzkrieg: Denn es sind ja nicht nur die im ersten Zug von Sanktionen betroffenen deutschen Lieferfirmen, die Umsätze und Erträge verlieren. Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft rechnet hier mit „nur“ 25000 gefährdeten Arbeitsplätzen. Die dabei oft verbreitete Beschwichtigung, dass der deutsche Außenhandel mit Russland ja nur 4 Prozent unseres Exports ausmache, spiegelt aber nicht die gravierenden Wirkungen in den auf Osthandel stärker ausgerichteten Branchen und Unternehmen wieder: Im Maschinenbau und Kfz-Gewerbe geht es immerhin schon um 8 Prozent des Geschäftsvolumens und in Einzelfirmen schlagen die Nachteile noch viel stärker durch: 36 Mrd Euro Handelsvolumen mit Russland im letzten Jahr sind kein Pappenstiel! Und nicht berücksichtigt dabei sind doch die vorgelagerten Rückwirkungen von Ausfällen über die gesamten Zulieferketten, die viel einschneidender als der Primäreffekt ausfallen.
Völlig außen vor bleiben in solchen Berechnungen die psychologischen Negativfolgen in der Gesamtwirtschaft, die durch die mediale Wirkung in Form von Ängsten und Abwarten bei den wirtschaftlichen Entscheidungsträgern ausgelöst werden. Wirtschaft ist doch vor allem nach Ludwig Erhard und Karl Schiller Psychologie, sowohl in der Realwirtschaft wie auch in der Finanzwirtschaft!
Was passiert dann eigentlich im Finanzsektor der EU? In der Eurokrise war ja nicht nur das kleine Griechenland oder gar das noch kleinere Zypern schon ein systemisches Risiko für den gesamten europäischen Finanzmarkt. Warum soll es vor diesem Hintergrund plötzlich völlig ungefährlich sein, wenn russische Schuldner nach der Aussperrung von unserem Kapitalmarkt als Antwort die Rückzahlung ihrer 155 Milliarden Dollar Kredite bei europäischen Banken einstellen – und dies mit politischer Rückendeckung ihrer Regierung. Deutsche Banken wären „nur“ mit anscheinend schlappen 17 Milliarden Dollar betroffen, aber die Banken unseres wirtschaftlich wackligen französischen Nachbarn müssten doch immerhin 47 Milliarden Dollar abschreiben!
Warum droht da eigentlich kein Systemrisiko? Oder wollen wir dieses Risiko dann mit der strammen Abmahnung an Russland unterbinden, sich an die korrekten Spielregeln eines geordneten internationalen Finanzmarkts zu halten, die wir ja für russische Banken und Firmen bei uns selbst außer Kraft gesetzt haben? Da kann man nur noch fassungslos über die Einfalt der Maßnahmenliste der EU-Botschafter staunen: Wenn das in die Hose geht, werden die Regierungsspitzen im Falle öffentlicher Kritik natürlich die Verantwortung über die absehbaren Kollateralschäden elegant an die EU- Botschafter weiterreichen.
Störungen am Energiemarkt
Oder was ist mit den Folgen möglicher Transitstörungen und der spekulativ schnell wirksamen russischen Ankündigung steigender Preise auf dem Energiemarkt? Dagegen ist doch auch mit der lebensfremden Beruhigung des DIW kein Kraut gewachsen, daß sich die Russen an aktuelle Verträge halten müssten. Warum müssen und werden die Russen das eigentlich tun, wenn wir uns nicht – durch die Sanktionsbeschlüsse offiziell vorher verkündet- mit „Strafmaßnahmen“ an Verträge oder marktwirtschaftliche Spielregeln halten, in dem wir vereinbarte Lieferungen unterbinden oder ausländische Gelder auf Konten in der EU sperren und russischen Firmen sowie Banken den Zugang zu unserem Geldmarkt abschneiden? Und wie sieht kurzfristig eigentlich die Ersatzbeschaffung auf dem Energiemarkt aus – ohne entsprechende Transportinfrastruktur?
Fazit: Wenn der Spuk mit den Sanktionen nicht umgehend gestoppt wird, werden wir eine unüberschaubare und unkontrollierte wechselseitige Reaktionsspirale zwischen EU und Russland erleben, wobei die richtungsgebende Führungsmacht USA am Anfang am wenigsten betroffen ist. Eine Eskalation, die übrigens gar nichts mehr mit den ursprünglichen Zielbereichen der Sanktionslisten zu tun hat, sondern die sich über reale und psychologische Sekundäreffekte in das gesamte Geflecht der deutschen, europäischen und internationalen Wirtschaft negativ bremsend ausdehnen wird.
Berliner Wunschdenken oder Beschwichtigung?
Der „Spiegel“ referiert in der letzten Ausgabe die angebliche Strategie in Berlin: “dann kann man jetzt Russland und Putin sehr kontrolliert den Hahn zudrehen“. Und dann offenbart das Magazin noch den Höhepunkt ökonomischer und politischer „Kompetenz“ aus dem Berliner Regierungsviertel. „Es soll bei denen wehtun, aber nicht bei uns“.
Handelt es sich hier nur noch um ahnungsloses Wunschdenken oder fachlich unbeleckte Beschwichtigung? Wer einmal auf die inzwischen an deutschen und europäischen Börsen als Folge der Ängste vor einer eskalierenden neuen West-Ost-Konfrontation eingetretene Vermögensvernichtung schaut, kann doch so einen ökonomischen Unsinn nicht mehr glauben: Die Vermögensvernichtung am Kapitalmarkt trifft uns in der EU schon heute auch bei geringeren prozentualen Kursabschlägen an den Börsen absolut gesehen viel stärker als die viel schwächere russische Volkswirtschaft bei viel größeren Kursverlusten!
Unkontrollierbare Eigendynamik
Sommer 2014. Europa steht am Abgrund. Die unkontrollierbare Eigendynamik eines durch die neuen Sanktionen losgetretenen Wirtschafts- und Finanzkriegs könnte über die durch diese Sanktionsspirale auch ausgelöste Verschärfung der politischen Konfrontation mit wachsender Emotion sowie Nervosität in einem fatalen menschlichen Fehlverhalten und damit auch militärisch im „Undenkbaren“ enden. Darauf haben international renommierte Sicherheitsexperten erst vor wenigen Tagen hingewiesen. Damit klar ist: Es handelt sich hier nicht um ein Computerspiel, wo man sich Fehlversuche leisten kann. Es geht hier um die Lebenssituation und die Zukunft ganzer Völker.
Besinnung und Umkehr
Wenn daher Scharfmacher ein schreckliches Verbrechen wie den Abschuss einer Passagiermaschine über der Ukraine zynisch zum „game changer“ nutzen wollen, darf verantwortliche Politik dieser Instrumentalisierung nicht opportunistisch hinterher rennen. Ein solches Verbrechen muss ganz im Gegensatz Anlass zur Besinnung und Umkehr des aktuell fatalen politischen Paradigmas sich aufschaukelnder Eskalation auf beiden Seiten sein:
Erstens:
Bisher gibt es kein belastbares Untersuchungsergebnis zu diesem Verbrechen, sondern Annahmen, Vermutungen und Vorwürfe. Es darf aber nicht um eine Strafaktion auf der Basis von Vermutungen und Vorwürfen gehen. Die angelaufenen Untersuchungen müssen vielmehr zu einer offiziellen Aufklärungsmission dieses Abschusses im Auftrag des UN- Sicherheitsrates führen. Dieses menschliche Drama darf nicht so unaufgeklärt bleiben wie die Verbrechen der Scharfschützen auf dem Maidan, über die man auffallenderweise nichts mehr hört.
Zweitens:
Dabei muss auch dringend geklärt werden, ob ukrainische Behörden tatsächlich – wie berichtet- vor dem Abschuss davon Kenntnis hatten, dass Separatisten im Besitz von Boden-Luft-Raketen waren und warum diese Kenntnisse dann aber augenscheinlich nicht an die internationale Luftsicherung weitergegeben wurden.
Drittens:
Ein gemeinsames von der EU und Russland mit der Ukraine erarbeitetes ökonomisches Hilfsprogramm muss den drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine verhindern und eine positive Perspektive für das Land öffnen.
Vertrauensbildung und Deeskalation sind das Gebot der Stunde, nicht das Drehen an der Sanktionsspirale.
Bildquelle: Wikipedia, Geschütz Dora2 CC BY-SA 3.0 Scargill
Ich kann Dieter Spöri vollumfänglich zustimmen und würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Die Politik der USA zielt seit Einführung des Euros immer darauf ab, die europäische Wirtschaft zu schwächen, wo es nur geht, um den Dollar als EINZIGE Weltwährung(Reserve) zu retten. Dazu gibt es viele Stichworte: im Wirtschaftsbereich: Bankenkrise, Finanzcrash, sog. Eurokrise, IFRS, Ratingagenturen und vieles mehr. In der Politik NSA, das Auseinanderdividieren von Ost- und Westeuropa durch klimavergiftende Aussagen und Handlungen und jüngst durch das Hineinziehen in ein Negativsummenspiel eines Handels(Boykott)krieges mit Russland. Wie scheinheilig der Sanktionszwang der USA gegenüber Europa ist, erkennt man spätestens daran, daß die USA aus ihrem „save heaven“ eine Kooperation zwischen der US-amerikanischen Exxon und der russischen Rosneft – trotz erheblicher Umweltbedenken – in diesen Tagen ungeniert umsetzt. Wie dumm – oder abhängig – sind deutsche Politiker und Unternehmenslenker, um dieses eiseitige „Spiel“ nicht zu durchschauen?
Die bisherige politischen Maßnahmen wirken unausgereift und kurzsichtig, wie hier auch beschrieben wird. Das Primat der Politik mag ja zutreffen, mehr kritische Auseinandersetzung mit den Folgewirkungen wäre hierbei aber angebracht um auch seitens der Wirtschaft zu signalisieren, dass der aktuelle Umgang nicht im Interesse aller EU Bürger sein kann, wenn man Maßnahmen beschließt, deren Erfolgswahrscheinlichkeit gering ist und die Eintrittswahrscheinlichkeit das man sich selbst bestraft und mittelfristig schadet gesichert ist.