Eine Reise durch Nordpolen, wie sie der Veranstalter bezeichnet, ist natürlich auch eine Reise durch die deutsch-polnische Geschichte. Städte wie Thorn, Danzig, Allenstein, um nur diese zu nennen, stehen dafür. Eine Geschichte voller Konflikte, die aber auch zeitweilig geprägt war von friedlicher Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen. Man denke nur an den „Akt von Gnesen“, als im Jahre 1000 beim Treffen zwischen Kaiser Otto III und dem polnischen Fürsten Boleslav Chrobry am Grab des Märtyrers Adalbert Polen durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation diplomatisch anerkannt worden war. Im Jahr 2000 gedachten europäische Staatschefs dieses historischen Treffens, darunter Polens Präsident Kwasniewski und der deutsche Bundespräsident Johannes Rau.
Erinnerung an deutschen Ritterorden
Eine Reise durch Nordpolen ist nicht denkbar, ohne dass man an den deutschen Ritterorden erinnert, der hier vieles aufgebaut hat, was heute, zugegeben restauriert nach totaler Zerstörung, wieder besichtigt werden kann. Man wird erinnert an den langen Kampf des stolzen Volkes der Polen um seine Souveränität, an die Teilungen Polens durch Preußen, Russland und Österreich, was dazu führte, dass Polen für viele Jahre von der Landkarte verschwand. Der Zweite Weltkrieg und der Überfall von Nazi-Deutschland hat viele Städte vernichtet und Millionen Polen das Leben gekostet, der Krieg hat die Ostgrenze Polens nach Westen verschoben und die Oder-Neiße-Linie zur neuen Westgrenze Polens werden lassen. Millionen Deutsche wurden aus den Ostgebieten vertrieben. Der Überfall war ein Verbrechen, die Vertreibung auch, wenngleich man beides nicht miteinander vergleichen darf. Hitler-Deutslchand hat den Krieg begonnen, hat Polen überfallen mit der Absicht, das Volk zu vernichten, ein Ziel, das auch der Krieg gegen Russland hatte. Heute, da Polen Mitglied der EU ist wie Deutschland, spielt die Grenzfrage, die das Verhältnis zwischen Warschau und Bonn jahrelang belastet hatte, keine Rolle mehr.
Eine Reise durch Polen beginnt natürlich in Warschau, der Hauptstadt mit 1,7 Millionen Menschen. Die Altstadt ist längst ein Schmuckstück des Landes. Damals, im Sommer 1944, ließ Hitler die Stadt zerstören, das Schloß inbegriffen. Nahezu alles wurde zu Schutt und Asche gemacht, der Warschauer Aufstand blutig niedergeschlagen, Zigtausende Polen fanden den Tod. Und die Rote Armee Stalins, die am anderen Ufer der Weichsel lag, schaute dem Massensterben tatenlos zu. Die Todfeinde Nazi-Deutschland und Sowjetrussland hatten es so im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verabredet. Ein Denkmal als Mahnmal.
Wo einst Willy Brandt niederkniete
Ein anderes Mahnmal ruft den Mord an den polnischen Juden in Erinnerung, das Ghetto-Denkmal. In Warschau lebten einst 360000 Juden, die meisten wurden mit Zügen in das Vernichtungslager Treblinka transportiert und dort ermordet. 1970 kniete hier der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt(SPD) dort nieder, ein Bild, das durch die Welt ging. Ausgerechnet Brandt, der selber vor den Nazis geflohen war, weil er als Sozialdemokrat um sein Leben fürchtete, bat um Vergebung für die Schandtaten der Nazis. Die Polen haben ihm ein kleines Denkmal errichtet, gleich hinter dem eindrucksvollen jüdischen Museum.
Übrigens wussten die Alliierten sehr wohl über die Gräuel der Nazis im besetzten Polen Bescheid. Ein gewisser Jan Garski, ein Schriftsteller, lieferte Berichte über die Morde an Juden, aber die Staatsmänner in London und Washington glaubten den Schilderungen von Garski nicht. Sechs Millionen Polen wurden im Zweiten Weltkrieg getötet, die meisten waren Zivilisten, „nur“ 500000 Soldaten. Eine Garski- Plastik im Park neben dem jüdischen Museum erinnert an den Autor.
Warschau, als Paris des Ostens verherrlicht, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Trümmern liegend, leuchtet heute wieder.
Wer heute Polen bereist, dem fällt die Sauberkeit des Landes auf. Der Reisende bemerkt mit ziemlichem Erstauen, dass es so gut wie keine Graffitti-Schmierereien an Gebäuden gibt, nicht an Häusern, nicht an Mauern, Denkmälern, Brücken. Der Zigaretten-Raucher wirft die brennende Kippe nicht auf den Boden, sondern er sucht den mit Sand gefüllten Eimer. Kinder schmeißen Papier-Reste nicht einfach auf den Boden, sie nehmen den Müll mit nach Hause. Bilder in Parks bestätigen das. Familien ruhen sich auf den Rasenflächen aus und wenn sie wieder gehen, hinterlassen sie keinen Müll. Man sucht vergeblich Kaugummi-Reste auf den Straßen. Überhaupt wirkt vieles sehr gepflegt, sauberer als zu Hause.
Geburtsstadt von Kopernikus
Auf dem Weg nach Danzig machen wir Station in Thorn, einer Stadt, die so gut wie verschont wurde vom Zweiten Weltkrieg. Kaum Schäden an den historischen Gebäuden der Backsteingotik. Thorn ist die Geburtsstadt von Nikolaus Kopernikus, eine Stadt, die vom Deutschen Ritterorden 1230 gegründet worden ist. Aber eben auch ein Symbol für die wechselvolle deutsch-polnische Geschichte, die einem bei der Reise ohnehin stets präsent ist. Heute, in einem Europa ohne Grenzen, spielt das eigentlich nur noch historisch eine Rolle, wer wann hier war, wem einst was gehörte. Der heutige Besucher genießt die Gastfreundschaft, die die meisten Polen den Reisenden entgegenbringen, er sieht mit Respekt, was die Polen geleistet haben. Er bewundert das Rathaus in Thorn, die Reste der Festung der Stadt, das Postamt, die Kirchen, alles in Backsteingotik. Und fast überall begegnet er einem anderen großen Polen: Papst Johannes Paul II, den sie verehren, weil mit ihm und seiner Tätigkeit das Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Polen verbunden wird, die Wiedergewinnung der polnischen Souveränität wird mit seinem Namen und dem Namen von Lech Walesa und der Gewerkschaft Solidarnosc verbunden, Namen, denen wir dann in Danzig begegnen.
Es mag sein, dass dem Reisenden die wirklichen Probleme des Landes und seiner Bewohner verborgen bleiben, vor allem, wenn er Städte wie Danzig besucht und den Glanz der Altstadt auf sich wirken lässt. Was ist hier alles aufgebaut worden, quasi aus dem Nichts. Denn diese Stadt lag am Ende des Kriegs in Schutt und Asche. Hier hatte mit der Beschießung der Westerplatte durch das deutsche Schul- oder Schlachtschiff „Schleswig-Holstein“ am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begonnen. In der Danziger Werft begannen die ersten Streiks, hier machte Lech Walesa sich zuerst einen Namen an der Spitze von Solidarnosc, man kämpfte um höhere Löhne und am Ende um mehr Freiheiten, ja um die Freiheit des Einzelnen. Polens KP-Chef Gomulka wurde im Grunde durch Walesa und die Solidarnosc gestürzt. Im November 1980 waren von den rund 16 Millionen Arbeitnehmern etwa zehn Millionen der Gewerkschaft Soliardosc beigetreten.
Danzig ist die Geburtsstadt von Günther Grass, dem Literatur-Nobelpreisträger. Die Blechtrommel spielt im Arbeiterviertel von Danzig. Man kann sich hier auf die Spuren des großen Autoren machen, der später in Lübeck lebte.
Liebevoll aus Ruinen aufgebaut
Anders als die Russen, die Königsberg und andere Städte und Schlösser vernichteten, um die Spuren deutscher Vergangenheit auszurotten, haben die Polen die Städte wieder liebevoll aus den Ruinen aufgebaut, Stein auf Stein. Man schaue sich nur die Danziger Altstadt an. Wunderbar! Ein Haus sieht schöner als das andere aus, als befinde man sich in einem Wettbewerb. Und die Polen erzählen heute die gemeinsame Geschichte, die sie mit den Deutschen in Danzig und anderswo verbindet. Das war nicht immer so. Als ich 1973 das erste Mal in der Stadt war und an einer Konferenz der Ostsee-Anrainerstaaten teilnahm, die sich mit der Verschmutzung der Ostsee befasste, war die deutsche Sprache noch verpönt. Wenn ich Menschen auf der Straße in Danzig auf Deutsch ansprach, schauten sie weg. Die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis, begangen an den Polen, war noch zu frisch.
Als besonders Beispiel dafür, wie die Polen zerstörte Gebäude nach dem Krieg wieder aufbauten, kann die Marienburg dienen, die 1945 zu 60 Prozent zerstört war. Die Nazis hatten diese Gebäudeanlage, die einst Sitz der Hochmeister des deutschen Ritterordens war, als Festung ausgebaut, die aber gegen die Übermacht der Roten Armee, ihrer Panzer und Geschütze keine Chance hatte. Heute steht sie wieder in alter Pracht da, auch hier ist natürlich fast alles nur nachgebaut. Aber es lohnt sich, eine Führung durch die Marienburg zu machen, sich zum Beispiel die Kirche im Innern anzuschauen und einen Altar, der aus dem afrikanischen Sambia stammt und der zu Ehren des Märtyrers des Hl. Adalbert errichtet worden ist.
Moränen-Landschaft der Masuren
Hügelig ist die Fahrt durch die Moränen-Landschaft der Masuren und durchs Ermland. Nein, Berge gibt es hier nicht, aber es geht stundenlang bergauf, bergab, bergauf, bergab, entlang von Getreidefeldern, Wäldern, Seen. Malerisch ist eine Stakenfahrt auf der Kruttina, Man lernt Ferienorte wie Nikolaiken kennen oder Götzen, geschichtsträchtige Orte und Kleinodien der Architektur wie Heilige Linde oder das ehemalige Gut der Familie Lehndorff, oder den Mauersee. Man fährt im Bus dahin, Stunde um Stunde. Man muss sich das Leben der Menschen dort vorstellen, als die meisten von ihnen im günstigsten Fall mit der Kutsche verreisten oder mit dem Pferd durch die Lande ritten, einsam wird es gewesen sein, still. Mit der Stille ist es natürlich auch hier vorbei, aber trotz des Autoverkehrs ist die Idylle, die die Landschaft vermittelt, nicht zu übersehen.
Zurück in Warschau werden wir durch das jüdische Museum geführt, was zwingend zu einer Betrachtung über die deutsch-polnische Geschichte gehört. Die über tausendjährige deutsch-polnische Geschichte ist geprägt von militärischen Allianzen, kriegerischen Auseinandersetzungen, Missverständnissen und völkerübergreifenden Annäherungsversuchen. Im frühen Mittelalter zogen deutsche Siedler nach Polen und siedelten dort. Jahrhunderte später zog es viele Polen nach Deutschland, vor allem ins Ruhrgebiet. Die Polen waren die ersten Gastarbeiter in der Zeit der Industrialisierung im 19.Jahrhundert. Daneben gab es deutsche Ansiedlungen auf polnischem Boden gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Millionen Vertriebene und Spätaussiedler brachten Polnisches nach Deutschland, später folgten die Solidarnosc-Emigranten, nach Polens EU-Beitritt zog es Zigtausende aus Polen nach Deutschland. So hat es eine Sendung in 3sat skizziert. Nachbarn, Feinde, Freunde, Polen, Deutsche, Juden. Der vor Jahren verstorbene Journalist und Polen-Kenner, Peter Bender, hat dazu ein Zitat von Marcel Reich-Ranicki geliefert, das aus einem Gespräch Reich-Ranickis mit Günter Grass hervorging. „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher, und ein ganzer Jude.“ Wäre schön, wenn sie eines Tages einfach nur noch polnische Europäer wären.
Herzlichen Dank für die „Eindrücke einer Polenreise“! Der Artikel gibt auch unsere Eindrücke wieder und ergänzt sie dazu in hervorragender Weise. Zusammen mit unseren Erinnerungsphotos eine schöne Dokumentation der Reise!
Herzliche Grüße und alles Gute für Sie und Ihre Frau!
Die Lewes