Das Bild hätte deutlicher nicht sein können und es sprach Bände: Die abgewählte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft betrat den Plenarsaal des Landtags zur konstituierenden Sitzung, ging wortlos an den Kameras vorbei und wischte zusätzlich Mikrophone beiseite. Ihr Gesicht strahlte nicht gerade Freude aus. Kein Kommentar der SPD-Politikerin, die mit kühler Miene die Rede des neu gewählten Landtagspräsidenten André Kuper(CDU) verfolgte. Das Ende einer politischen Karriere dieser Frau aus Mülheim, die nach dem ersten Absturz der SPD in NRW 2005 couragiert in der Opposition begann und dann ihre Höhepunkte hatte, als sie 2010 und 2012 zur Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Landes der Republik gewählt wurde. Und jetzt der Absturz der einst so beliebten Politikerin, die sich als Kümmerin bundesweit einen Namen gemacht hatte und für höchste Ämter gehandelt wurde. Jetzt hat sie sich ihre offizielle Urkunde, die das Ende ihrer Amtszeit schwarz auf weiß beschreibt, während der Wahl des CDU-Mannes zum Landtagspräsidenten hinter den Kulissen aushändigen lassen.
Laschet machte Jäger zum Sicherheitsrisiko
Wie konnte das passieren? Wochen vor der Wahl lag sie in allen Umfragen deutlich vor ihrem blassen Herausforderer Armin Laschet, dem selbst die eigenen Anhängern nicht zutrauten, die NRW-Staatskanzlei erobern zu können. Aber seine Angriffs-Strategie, das Land schlecht zu reden, in dem er immer und immer wieder eine Schlusslicht-Debatte führte, in der aufgezählt wurde, wo es an Rhein, Ruhr und Lippe haperte- im Grunde überall, so Laschet- veränderte langsam aber sicher die Stimmung. Zudem hatte Kraft mit ihrem Innenminister Ralf Jäger einen Unsicherheitskandidaten in ihrem Kabinett, der vor allem seit dem Skandal auf der Kölner Domplatte zu Silvester 2015 in den Fokus der Attacken der Opposition geraten war. Und weil Frau Kraft sich weigerte, ihren Parteifreund Jäger zu entlassen und der offensichtlich auch nicht bereit war, die politische Verantwortung für diesen Skandal zu übernehmen und freiwillig zu gehen, erklärte der CDU-Chef in NRW Jäger zum Sicherheitsrisiko. Der konnte nun machen was er wollte, selbst als die Einbruchszahlen im Lande zurückgingen, winkten Laschet und Co nur ab.
Jäger saß in der Falle. Eine offene Flanke der SPD-geführten Landesregierung, Hannelore Kraft ließ es geschehen. Diskussionen darüber fanden zumindest offiziell nicht statt, andere aus der Fraktion in Düsseldorf formulieren das heute so: Sie habe Debatten zu Jäger nicht zugelassen. Man könnte fast hinzufügen im Basta-Stil des Gerhard Schröder. Aber, halt, der Vergleich hinkt, denn Schröder hatte einen Innenminister namens Otto Schily und der war ein harter Knochen.
Gegrummel wegen des Führungsstils
Gegrummel wegen des Führungsstils von Hannelore Kraft gab es schon immer. Ziemlich rigide habe sie geführt, auch schroff habe sie reagiert auf Einwände, aber solange die Politik erfolgreich war, also Wahlen gewonnen wurden, war es gut und niemand meckerte laut und vernehmlich. Jetzt aber, nach der krachenden Niederlage, sieht das anders aus. Viele Landtagsabgeordnete haben ihr Mandat verloren, sie müssen schauen, dass sie anderswo wieder einen Job bekommen. Dabei hatte die Chefin bis zuletzt Optimismus versprüht und den Eindruck erweckt, es werde alles gut gehen. Noch halten sie still, in Düsseldorf und anderswo in NRW, noch mucken sie nicht auf, aber die Aufarbeitung der Niederlage wird kommen. Und dann wird nicht nur, wie Michael Groschek sich das wünscht, nach den Gründen, sondern auch nach den Verursachern der Niederlage gesucht.
Dass der vor allem von der Staatskanzlei verbreitete Optimismus nicht nur auf fruchtbaren Boden fiel, konnte der Fernsehzuschauer wenige Wochen vor der Wahl in der Sendung „Panorama“ sehen. Da wurde die Bilanz der Regierung Kraft sehr kritisch dargestellt. Die Reporter des angesehenen Magazins gingen der Frage nach, inwieweit Hannelore Kraft den Erwartungen, sie sei eine Hoffnungsträgerin der SPD, die die Menschen begeisterte, den Erwartungen gerecht geworden? „Hat sie sich genug gekümmert? wurde gefragt.
Hoffnungen geweckt und abgetaucht
So wurde an das Schicksal des Bochumer Opel-Werks erinnert und ehemalige Opel-Werker wurden zitiert. Einer von ihnen erinnerte sich noch gut an die Betriebsversammlung, auf der Frau Kraft im Mai 2012 gesprochen und versprochen habe, für den Standort kämpfen zu wollen. Sie habe Hoffnungen geweckt und sich dann nicht mehr blicken lassen. Ein Uwe B. sagte wörtlich: „Ich denke mal, dass die Sache einfach zu groß nur für eine Ministerpräsidentin war. Aber dann hätte sie das sagen sollen und nicht einfach abtauchen und weg sein.“
Panorama wählte ein weiteres Beispiel. Der schriftlich verbreitete Nachrichtentext der Sendung beginnt mit dem Satz: „Hannelore Kraft ist in ihrer Amtszeit so manches Mal abgetaucht. Nach Silvester-Ereignissen von Köln schwieg sie über eine Woche“, und nach den Überschwemmungen in Münster 2014 war sie angeblich in einem Funkloch. Auch wenn das passieren kann, „das Bild der Kümmerin hat über die Jahre gelitten. Auch weil sozialpolitische Erfolge weit hinter den Erwartungen zurückblieben.“
Drittes Beispiel von Panorama: „Die Armutsgefährdungsquote ist in der Regierungszeit von Hannelore Kraft ebenso gewachsen wie die Kinderarmut, die in NRW von 17 Prozent in 2011 auf 18,6 Prozent in 2015 stieg.“ Wie soll da ein Projekt mit dem wirklich feinen Namen „Kein Kind zurücklassen“ zünden? Es hilft wenig, wenn Kraft zu Recht daraufhin wies, dass das Projekt immer langfristig angelegt gewesen sei. Panorama erinnert zusätzlich daran, dass die SPD-Regierungschefin „ein Jahr zuvor den Tiefpunkt ihrer Amtszeit erreicht“ habe: „null Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. NRW galt als der kranke Mann Deutschlands.“ So weit die Zitate „Das Erste. Panorama. 23.03.2017“.
Kraftproben mit der Presse
Dank Martin Schulz sei Kraft nun wieder obenauf, heißt es in dem Nachrichten-Text des ARD-Magazins weiter. Und wieder verspreche sie „Großes: Respekt und soziale Gerechtigkeit. Zu einem Interview mit Panorama war sie nicht bereit. Die Schutzwelle rollt. Da soll offenbar niemand stören.“ Zwei Anmerkungen dazu: In der SPD-Führung in Berlin wundert man sich noch heute, dass Hannelore Kraft, auch als Martin Schulz noch einen Lauf hatte, beim Wahlkampf in NRW nicht erwünscht war. Darum hatte Frau Kraft gebeten mit dem Hinweis, es handele sich um einen Landtagswahlkampf und dort spielten nur Landesthemen eine Rolle. Überhaupt habe die Ministerpräsidentin jede Anregung aus der Hauptstadt abgebügelt. Ein Zweites kommt hinzu: Dass sie „Panorama“ kein Interview gab, bezeichnen Kenner der NRW-Szene als typisch. Sie habe ja auch die Auseinandersetzung mit der Landespressekonferenz gesucht. Zugegeben, die SPD-geführte Landesregierung hatte, wie man so schön gesagt, selten eine gute Presse. Man kann sogar so weit gehen, dass Teile der Journalisten der Ministerpräsidentin nicht nur nicht freundlich begegneten, sondern ihre Berichterstattung sogar zuweilen unfair war. Aber gerade dann hätte sie den Kontakt mit den Medien und den Journalisten verstärken müssen, um Vorbehalte und Vorurteile zu korrigieren. Und: Eine kritische Presse ist mir immer noch lieber als Hofjournalisten.
Es bleibt ein Rätsel, warum die Ministerpräsidentin quasi tatenlos zusah, wie die Grünen-Ministerin Löhrmann den Schulen ihr Inklusions-Konzept aufzwang. Das Aufheulen darüber war nicht zu überhören, Lehrer, Eltern, Schüler, es war ein Riesen-Chor, der das Schulthema mit einer Musik begleitete, die einem pausenlosen Pfeifkonzert gleichkam. Und dass ein Schulthema die Stimmung beeinflussen kann und dass dieses Thema die Stimmung radikal verändert hat, muss jeder gespürt haben, der mit offenen Ohren durchs Land ging.
Zweitmächtigste Frau der Republik
Hannelore Kraft war nach Angela Merkel die zweitmächtigste Frau in Deutschland, in der SPD war sie sogar Stimmführerin. Zur Parteivizin war sie mit fast 100 Prozent gewählt geworden, sie wäre, wenn sie es denn gewollt hätte, Kanzlerkandidatin der Partei geworden. Aber das hatte sie mit den Worten „ich werde nie, nie, nie Kanzlerkandidatin der SPD“ frühzeitig ausgeschlossen. Ihre Begründung war aller Ehren wert: Sie habe im Land noch vieles zu erledigen. Es muss ja auch nicht jeder Weg nach Berlin führen. NRW zu regieren ist schon eine Riesen-Aufgabe, den Strukturwandel zu einem Erfolg zu führen, damit es den Menschen besser geht, ist Verantwortung genug.
Beliebt, respektiert, aber auch gefürchtet, das war Hannelore Kraft. Sie konnte nicht nur nett sein, vor allem dann, wenn ihr was nicht passte, konnte sie schneidend und laut werden. Aber das kennen wir von anderen Amtsträgern auch. Wer erinnert sich nicht an eine Reportage im Fernsehen, die Wolfgang Clement, den ehemaligen Ministerpräsidenten von NRW und späteren Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit im Kabinett von Gerhard Schröder, zeigte. Clement hatte sich derartig über eine Frage oder Anmerkung eines Journalisten geärgert, dass er ihn mit den Worten anging: „Was glauben Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?!“ Von anderen politischen Würdenträgern ist bekannt, dass sie schon mal mit einem Aktenordner nach einem Mitarbeiter warfen. Ein Präsident -wer auch immer- soll nach Schilderung eines engen Vertrauten in der Morgenrunde einen Redeentwurf dem Autoren vor die Füße geworfen haben.
Staatskanzlei als Wagenburg
Sie galt als bodenständig, gut geerdet, sie nahm Stimmungen auf, war nah dran am Volk. So wurde sie oft beschrieben, weil sie auch so klar und gerade heraus sprechen konnte. Wie man das im Revier kennt. Aber am Ende, heißt es in der SPD im Bund wie in NRW, habe sie sich abgekapselt mit ihren engsten Mitarbeitern, sei die Staatskanzlei eine Art Wagenburg geworden, in der kaum noch jemand Zutritt gehabt habe. Es habe kaum noch jemand mit Kompetenz Einfluss auf den Wahlkampf gehabt, nicht auf die Bilder, die ziemlich unverständlich waren-Beispiel: #NRWIR mit dem Foto der Chefin-, nicht auf den von Experten als unterirdisch beurteilten Internet-Auftritt.
Und so kam es, wie es kaum jemand vorhergesehen hatte: die ausgesprochen beliebte Ministerpräsidentin erlitt eine krachende Niederlage, die SPD erzielte ihr schwächstes Ergebnis nach dem Kriege. Und wenn es am Wahlabend einen Hinweis auf mögliche Gründe gab, dann lieferte ihn Infratest-dimap: nur 59 Prozent der Wähler bescheinigten der Regierungschefin, eine gute Ministerpräsidentin zu sein. Wie schwach dieser Wert ist, zeigt der Vergleich mit ihrem blassen und arrogant auftretenden Amtskollegen aus Kiel, Torsten Albig, der eine Woche zuvor die Wahl in Schleswig-Holstein gegen einen CDU-Neuling vergeigt hatte: Albig kam auf eine Zustimmung von 62 Prozent. Erfolgsbilanzen lesen sich anders.