865 Schülerinnen und Schüler hat die Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn, bis auf China seien alle Nationalitäten dieses schönen Planeten in ihrer Schule vertreten, wie die Leiterin Sabine Kreutzer erläutert. Wenn ich das richtig verstanden habe, haben 45 vh der Kinder auch ausländische Wurzeln, wird diese Gesamtschule ihrem Namen gerecht und ist so etwas wie eine Schule der Vereinten Nationen. Die Schülerinnen und Schüler, gleich ob Syrer oder Iraker, Mädchen oder Jungen aus Somalia oder woher auch immer, vertragen sich blendend. Was sich auch zeigt beim Antritts-Besuch des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Bonn. Da sitzen sie einträchtig nebeneinander, Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Ein farbiges Bild vor und hinter der Villa Hammerschmidt, dem zweiten Dienstsitz des deutschen Staatsoberhauptes.
Es ist natürlich, möchte man sagen, Kaiserwetter, wenn der Bundespräsident Bonn besucht. Die Sonne lacht, blauer Himmel. Bonn, das war ja 40 Jahre die politische Hauptstadt der Deutschen im Westen, bis die Mauer fiel. Die Villa Hammerschmidt war der Sitz des Bundespräsidenten von 1949 bis zur deutschen Einheit, von Prof. Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel bis Karl Carstens. Richard von Weizsäcker verlegte den ersten Dienstsitz dann nach Berlin, wie es die Westdeutschen stets versprochen hatten, und wie es das Votum des Deutschen Bundestages auch besagte. Die Villa in Bonn, direkt am Rhein, ist ein wunderschöner Platz, umgeben von einem großen Park, der an den Park des Kanzleramtes angrenzt und hinunter zum Rhein verläuft.
Nein, Streit hätten die Schülerinnen und Schüler der Marie-Kahle-Gesamtschule kaum. Im Notfall gebe es Schlichter und Konferenzen. Eltern würden zumindest gelegentlich Fragen aufwerfen, nach denen aber hier nicht weiter geforscht werden muss. Die Kinder, das ist das Entscheidende, kommen gut bis sehr gut miteinander aus. So hört man es in den Fragen und Antworten zwischen den jungen Menschen und dem Bundespräsidenten und seiner Frau Elke Budenbender. Das mit dem Streit wäre an dieser Schule ja auch noch schöner. Steht doch der Name Marie Kahle für eine Qualität an Nächstenliebe und Menschenwürde. Die Bonner Pädagogin hatte in der Nazi-Zeit Juden geholfen und sie vor deren Zugriff versteckt. So hatte sie nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 ihrer jüdischen Nachbarin Emilie Goldstein geholfen, den Schutt ihres verwüsteten Geschäftes wegzuräumen. Dabei hatte sie ein Polizist beobachtet und sie an die Gestapo verpfiffen. Es folgte eine Hetzschrift im NSDAP-Blatt „Westdeutscher Beobachter“ gegen Frau Kahle und ihren Sohn, der mit angepackt hatte, unter der Überschrift: „Das ist Verrat am Volke/Frau Kahle und ihr Sohn halfen der Jüdin Goldstein bei Aufräumarbeiten“. Es gelang zunächst ihr samt Sohn und später ihrem Mann und den weiteren vier Söhnen die Flucht nach London. Ihre Erlebnisse hat sie aufgeschrieben, an den psychischen Folgen der NS-Zeit ist sie früh erkrankt und schon 1948 gestorben.
Da ist eine Schülerin aus Syrien, sie spricht fließend Deutsch, hat die Sprache hier gelernt. Ihre Familie flüchtete aus Syrien vor fünf Jahren, also gleich zu Beginn des Bürgerkrieges. Grund für den Bundespräsidenten nachzufragen, wie man mit dem Konflikt umgeht, ob man darüber redet, seine Geschichte erzählt oder eher für sich behält, weil sie einen belastet. „Wir kriegen das gut hin“, hört Steinmeier. „Es gebe keine Konflikte“. Natürlich holt der Bundespräsident ein bisschen aus, äußert die Hoffnung-wer hat die nicht?-dass irgendwann in naher Zeit der Krieg zu Ende geht und dann müssten sich die einst verfeindeten Parteien an einen Tisch setzen und in einem Versöhnungsprozess beraten, wie es weitergehen solle, damit man wieder miteinander leben könne. In Frieden. Da hört man den einstigen Außenminister heraus, der viel um die Welt flog, um daran mitzuarbeiten, dass diese nicht auseinanderfliege. An Kriegen ist ja kein Mangel.
Ein illustrer Rat und ausgestopfte Tiere
Über Demokratie wird in diesem kleinen Kreis geredet. Da ist es kein Zufall, dass Frank-Walter Steinmeier vor dem Treffen mit den Schülern im Museum König war, das ist nur ein paar hundert Meter von der Villa Hammerschmidt entfernt. Das ist nicht nur der Ort, wo damals wie heute ausgestopfte Tiere herumstehen, sondern wo auch am 1, September 1948 die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates stattfand, die konstituierende Sitzung wie auch die anderen Plenar- und Ausschusssitzungen des Rates fanden in der Pädagogischen Akademie statt, dem späteren Bundeshaus. Dort wurde binnen weniger Wochen das entscheidende Fundament der Bundesrepublik gelegt: das Grundgesetz, das wiederum basierte auf Überlegungen der Chiemseekonferenz. Übrigens war Konrad Adenauer der Präsident dieses illustren Rates, der spätere erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz sei, so würdigt Steinmeier das Werk heute vor den Schülern, „die wichtige Grundlage für unser Zusammenleben.“ Das alles geschah nur wenige Jahre nach dem Krieg, als vieles in Trümmern lag und der NS-Terror endlich besiegt war.
Die Schüler interessiert die Frage, wie Gesetze entstehen. Sie sind überhaupt an Politik interessiert, so der Eindruck, möglich, dass sie auch gut vorbereitet wurden auf das Treffen mit dem hohen Gast aus Berlin. Ja, das hört man heraus, sie kriegen was mit, weil sie Zeitungen lesen- eine positive Überraschung, dass so viele Schüler das zugeben-, weil sie Radio hören, Nachrichten im Fernsehen verfolgen und das, was daheim und in der Welt passiert, auch im Internet nachlesen. Aus mancher Antwort eines Schüler hört man heraus, dass sie sich Nachrichten und Informationen wünschten, die man besser, leichter verstehen würde, dass die Politiker weniger Fachbegriffe verwenden, das Ganze besser gestalten und mehr Visuelles einsetzen sollten. Aber sie sehen auch an dem einen oder anderen Punkt ein, dass die Dinge in der Welt und auch zu Hause zumindest gelegentlich derartig komplex sind, dass sie mit einem Wort oder einem Satz kaum erklärt werden können. Die Wege der Gesetzgebung sind eben nicht immer kurz und manche Gesetze bedürfen zusätzlich der Zustimmung der Länder.
Wie wird man Chef in diesem Land?
In einem Buch, das Politik erklärt, hat ein Schüler die Frage gefunden, die er nun dem Bundespräsidenten stellt: Wie wird man Chef vom Land? Der Präsident, der wie andere auch sich das Lachen kaum verkneifen kann, antwortet nur kurz: „Frag mich nicht.“ Um dann hinzuzufügen: „Aber Du lässt mir noch ein paar Jahre Zeit. “ So banal die Frage klingen mag, hinter dem Thema verbirgt sich das Grundmuster der parlamentarischen Demokratie: man tritt in eine Partei ein, lässt sich aufstellen, wobei man Gegenkandidaten hat, tritt zur Wahl gegen die Kandidaten der anderen Parteien an und wird gewählt oder auch nicht. Die Schüler werfen diese Fragen auf, weil sie gern mehr direkte Demokratie hätten, mehr Möglichkeiten für den Bürger, sich direkt an Entscheidungen zu beteiligen, sie zu befördern oder zu verhindern. Steinmeier ist bei dem Thema eher zurückhaltend: Mehr Mitsprache und mehr direkte Mitwirkung seien schon möglich, aber ein Land mit 82 Millionen sei mit Quoren und pausenlosen Abstimmungen wie in der Schweiz kaum zu regieren. Da müsse schon genau hinschauen, wo das Sinn mache. In der Schweiz gebe es inzwischen Agenturen, die böten den Parteien zu ganz bestimmen Fragenkomplexen Abstimmungen an, was bedeute, dass es den Menschen aus der Hand genommen und im Grund fremd gesteuert werde. Ob das besser ist? Zumindest ist es keine direkte Demokratie.
Einer der etwas älteren Schüler verfolgt die Politik mit großem Interesse, wie er einräumt. Ein Blick in die Statistik der kommenden Bundestagswahl hat ihn beunruhigt: 56 vh der Wahlberechtigten seien älter als 50 Jahre und der Anteil der 18- bis 30Jährigen betrage gerade mal 15 vh. Seine Sorge ist, und da fühlt er sich durch die Plakate und die übrige Werbung bei der NRW-Landtagswahl bestätigt: Weil die Älteren in der Mehrheit seien, kümmere sich die Politik zu wenig um die Jüngeren.Das mit der alternden Gesellschaft sieht Steinmeier auch so, auch, dass diese ältere Generation über die Zukunft anders denke, so über die Zukunft ihrer eigenen Rente. Aber er widerspricht dem jungen Mann, dass die Jugend nur eine untergeordnete Rolle in den politischen Überlegungen der Politiker spielte. Man müsse Jugend weiterfassen und dürfe sie nicht auf das Thema Schule und Lehrer und Schulausfall verkürzen. Schüler beschäftigten sich doch mit den anderen Fragen der Politik genauso, das Attentat in Kabul ginge ihnen genauso nah wie die Flüchtlingskrise oder die Problematik im Nahen Osten.
Direkte Demokratie als Ergänzung-nicht mehr
Ja, der Umweg über Volksabstimmungen ergibt sich halt aus dem Verlust an Glaubwürdigkeit, die die Politiker, die Parteien, die die Parlamente erlitten haben. Mehr Transparenz ist eine Forderung der Schüler, der Bundespräsident sieht das auch so. Er würde auch die Informationsdichte noch verstärken, damit die Bürger noch besser informiert würden, also Interviews in den Zeitungen, in Funk und Fernsehen, in der Tagesschau, den Tagesthemen, dem Heute-Journal, im Internet, um auch die jüngeren Bürger zu erreichen. Aber er mahnt auch, man dürfe sich von aktuellen Stimmungen und Launen nicht abhängig machen. Direkte Demokratie könne eine Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie, mehr aber nicht.
Den Bundespräsidenten beschäftigt die Frage, wie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden könne. Man müsse sich Gedanken machen, wie man zum Beispiel näher an die Jugend herankomme, sagt er zum Abschluss des 90minütigen Dialogs. Die Politik müsse sich das Vertrauen jeden Tag neu erwerben, sagt er, ohne Parteien oder Politiker schelten zu wollen. Er ist ja selber einer, war einer in ihrer Mitte, ehe sie ihn zum Bundespräsidenten wählten. Er hat viele Ämter bekleidet, er kennt Politik. Eine Besonderheit in Deutschland streicht er vor den Schülern heraus: 23 Millionen Menschen arbeiteten in Deutschland ehrenamtlich, für die Stadt, den Sport, die Feuerwehr, das technische Hilfswerk, in der Flüchtlingshilfe. Daran sehe man das Interesse an dieser Republik, Menschen würden anderen helfen, weil es ihnen selber gut gehe, sie übernähmen Verantwortung im Sinne der Gesellschaft. Da melden sich dann zwei Schüler zu Wort. Ein Mädchen, das aus Somalia stammt, hilft einmal pro Woche in einem Weltladen in Bonn aus, sie verkauft dann dort, ein anderer Schüler berichtet von einem Kochprojekt. Jeder Schüler, der wolle, schreibe dort ein Rezept rein aus seiner Heimat, Syrien, Irak, Somalia, Russland und ergänze das Ganze mit Informationen über die alte Heimat. So lerne man sich besser kennen. Wie gesagt, eine Schule der Vereinten Nationen. China fehlt noch.