„Rechtsextremismus ist im Osten ein größeres Problem als im Westen – aber
nicht nur dort“, heißt es in einer aktuellen Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, im Auftrag der Bundesbeauftragten für die neuen Bundesländer Iris Gleichke (SPD).
Wer die gegenwärtigen Befindlichkeiten in unserer Gesellschaft verstehen will, sollte nicht nur auf die politischen Großereignisse schauen, die im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Ebenso wichtig ist es, sich die subjektive Seite der Veränderungen klarzumachen, die sich in den letzten Jahren in beiden Teilen Deutschlands vollzogen haben. Der Schriftsteller Kurt Drawert, kennt beide Seiten; er hat sie intensiv erlebt und beeindruckende Texte darüber geschrieben. In seiner Lyrik und Prosa finden sich zahlreiche Zeugnisse eines verzweifelten Kampfes um persönliche und politische Orientierung in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit (Habermas). Drawert erhielt viele Auszeichnungen; u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis; den Uwe-Johnson-Preis und vor kurzem den Lessing-Preis 2017 des Freistaats Sachsen.
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Ich lernte Kurt Drawert 2005 in München auf einer Lyrik-Tagung der Zeitschrift Das Gedicht kennen. Er las einige seiner Gedichte vor – z.B. aus der Gedichtsammlung Frühjahrskollektion (2002). Ihnen merkte man an: das ist ein Autor, der etwas zu sagen und zu verarbeiten hat; der Verletzungen erlitt, die nicht verheilt sind; der ein Ventil sucht für die Demütigungen und Zurichtungen, denen er in seiner bisherigen Lebensgeschichte offenbar hilflos ausgeliefert war. Man spürt fast in jeder Zeile das Ringen des Schriftstellers um eine adäquate Sprache für sein Streben nach Selbstvergewisserung. Der Autor ist ein Suchender, der zu wissen scheint, dass er nicht findet, wonach er sucht.
Drawert weiß um seine Herkunft. Sein Erfahrungsraum war lange Zeit der Osten Deutschlands. Hier hat er eine unglückliche Kindheit erlebt; unter der geistigen Enge gelitten und versucht, den Zumutungen von Elternhaus, Schule und Behörden zu widerstehen. Voller Verbitterung berichtet er von diesen Erfahrungen; ihm geht es darum, sie endlich abzustreifen; vergessen zu machen. In seinem Prosatext Spiegelland (1992) hat Drawert die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend in der DDR reflektiert und eindringlich geschildert. Es sind Zeugnisse des (Selbst)Hasses und eine einzige Anklage – insbesondere adressiert an den regimetreuen Vater, der seinem Sohn ohne jedes Verständnis begegnet und an eine soziale Umgebung, die in einer Mixtur aus Anpassung und Gleichgültigkeit die Existenz des Heranwachsenden bedroht.
DDR-Wirklichkeit und Nazi-Zeit
Drawert konfrontiert schon früh die DDR-Wirklichkeit mit der Nazi-Vergangenheit, die sich hinter der sozialistischen Welt nur zu kaschieren versucht. Der behauptete Antifaschismus könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass man es versäumt hatte, sich ernsthaft mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Damit knüpft Drawert an Brecht an, der nach dem 17. Juni 1953 bemerkt hatte: Es ist einer der Hauptfehler der SED und der Regierung, dass sie diese Nazielemente in den Menschen und in den Gehirnen nicht wirklich beseitigt hat. Brecht beschwerte sich darüber, dass es ein Tabu war, von der Nazizeit zu sprechen und dass Bücher am Erscheinen gehindert wurden, wenn diese davon handelten.
Drawert konstatiert bereits Anfang der 90er Jahre, dass die deutsche Wiedervereinigung das Gebiet der ehemaligen DDR zu einer Laborschale zur Herstellung rechtsradikaler Bewusstenseinszustände gemacht hat. Und es wundert auch nicht, dass gerade der Osten kriminelle Energien freisetzt, empfänglich ist für Fremdenhaß, Neonazismus und alle Arten von Gewalt, die die herrschende Realität immer schon begleitet hat und sich nur ihre geeigneten Ausdrucksformen sucht. Die Bewegungen der radikalen Szene sind keine verspäteten Abwehrreflexe auf den SED-Staat und seine administrativen Strukturen, vielmehr stehen sie in einer Kontinuität dazu und machen im Nachhinein den militanten Charakter der Macht sichtbar. Er legt damit gewissermaßen den nationalsozialistischen Untergrund der DDR bloß, der Vielen erst nach den Untaten der NSU bewusst zu werden begann.
Innere Emigration, Verbitterung
Drawerts primäres Anliegen als Schriftsteller ist es, aufzuzeigen, wie insbesondere die Sprache als Unterdrückungs- und Herrschaftsinstrument instrumentalisiert wurde, indem man Jugendlichen einen bestimmten Sprachkanon eintrichterte. Zeitweilig reagiert er darauf mit Sprachverweigerung als einer hilflosen Form des Widerstands. Er versucht zu überleben, indem er sich möglichst selbst verleugnet und unsichtbar macht. Alles abbrechen, ein Anderer werden – das ist leicht gesagt, zumal, wenn einem auch die Sprache allmählich abhanden gekommen ist. Wenn die Sprache ihre Eindeutigkeit eingebüßt hat und die Begriffe das nicht hergeben, was sie verheißen, dann werden sie zur nackten Hülse; wieder und wieder gebraucht, wiederholt, gedankenlos dahergesagt, ohne dass auch nur nach ihrem Sinn gefragt würde. Für einen Heranwachsenden, der hinreichend sensibel ist, gibt es keinen Ausweg, keine Alternative. Alles ist verbaut. Hat er die Wirklichkeit so weit durchschaut, dass ihm alles nur noch als Lug und Trug erscheint, bleibt nur eine Art innerer Emigration, Verbitterung, Verzweiflung.
Ich muß der allereinsamste Mensch gewesen sein, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte, daß das Gegenteil von Nichtstun und Verkommen eben diese unerträgliche, geisttötende und sterbenslangweilige Ausbildung war mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der totbeleuchteten Aufschrift „Der Sozialismus siegt“ vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief. Diese Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens gewesen, die aber auch jeden Ansatz von Individualität, wo immer sie möglich war, zerstörte, und zu denken ist etwas Feindliches und Absonderliches und ganz und gar Schädliches gewesen, das auf verbotene Lektüre schließen ließ und bekämpft werden musste, mit allen Mitteln der proletarischen Diktatur.
Kurze Zeit der Hoffnung-1989
Lange, zähe Jahre gehen dahin. Enttäuschung folgt auf Enttäuschung; Desillusionierung auf Desillusionierung, bis nichts mehr bleibt als die bloße Verneinung all dessen, was einem aufgetragen wird und einen umgibt. Und dann –
1989 – gibt es doch für eine kurze Zeit die Hoffnung auf Besserung. Nur für kurze, sehr kurze Zeit scheint sie auf: die Hoffnung, dass dieses abgestandene und heruntergekommene, kleine deutsche Land im Osten würde etwas hervorbringen können, was allein unserer Idee entsprungen war. Es ist die Hoffnung darauf, dass die Menschen einen Sinn in sich haben, deren Text sie nur noch nicht kennen und deren Sprache sie nur noch nicht zu sprechen gelernt haben. Gleichwohl sind sie auf die Straße gegangen, zu Hunderttausenden, selbst auf die Gefahr hin, zu sterben. Sie sind auf die Straße gegangen, weil sie den Sinn in sich wahrgenommen haben und auf der Suche nach einer Sprache für diesen. Auf der Suche nach einem Diskurs, der die bekannten Diskurse verläßt, die Diskurse der Unterwerfung waren. Ein jeder Mensch hat in sich das Gesetz eines Sinns, dachte ich, der durch die Umstände unterdrückt worden ist oder schlimmstenfalls auch zerstört. Es ist die Anwesenheit einer Würde, die noch nicht Sprache und noch nicht Text geworden ist, aber bereits ahnbar als Sinn einander verbindet.
Die Zeit der Illusion währt nur kurz. Es gelingt nicht, eine neue Sprache zu kreieren, die Begriffe zu klären, ihnen neue Bedeutungen zu geben. Die Sprache bleibt dem System der Unterwerfung zu sehr verhaftet. So ist diese Revolution eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern ein lediglich umgekehrtes System geworden ist.
Das Beeindruckende an Drawerts Texten ist, dass sie keine abstrakten Erörterungen bleiben. Vielmehr versuchen sie, die individuellen Voraussetzungen der historischen Umwälzung in den Blick zu nehmen. Wenn man so will: den subjektiven Faktor. Dabei wird klar, dass ein Sozialisationsprozess, der auf Anpassung und Unterwerfung beruhte, nicht einfach abgestreift werden kann – auch nicht in Phasen revolutionärer Veränderung. Immer wieder versucht der Autor, durch lebensgeschichtliche Rückblenden den Grad individueller Entfremdung aufzuzeigen. Deutlich wird, dass das aus der Notwehr geborene, aus Verweigerung und Abkehr bestehende Verhalten des Protagonisten bei weitem nicht ausreicht, um sich selbst – geschweige denn die gesellschaftlichen Umstände zu verändern. Zu tief haben sich die Spuren der Erziehung im alten System eingegraben. Es spricht für Drawerts Aufrichtigkeit, dass er den Verästelungen dieser persönlichen Prägungen schonungslos nachspürt – ohne den Versuch zu machen, sich in irgendeiner Weise herauszureden oder zu legitimieren. Der ganze Text zeugt vom Ringen, Klarheit für sich selbst zu schaffen.
Überflutung mit Reizen des Konsums
Dieses Vorhaben gestaltet sich für den Autor umso schwieriger, als auch die neue Zeit wenig an Perspektiven bietet. Die Übersiedelung in den Westen bringt neue Probleme mit sich. An die Stelle des Mangels und der Enge tritt nunmehr die Überflutung mit Reizen der Konsumwelt.
Jetzt siehst du, gestand ich mir ein, die banalsten Filme, die es überhaupt gibt, fingerst in den allerdümmsten Zeitschriften herum, verbringst die Tage in finsterster Geistlosigkeit und Leere und gibst nur die letzten Ersparnisse aus, die du dir mit Gedankenarbeit mühsam beschafft hast … Anfänglich war ich wenigstens noch dagegen, ich ließ mich fallen und verführen und litt, gefallen und verführt zu sein, aber dann, es war ein Morgen wie alle anderen, ich erwachte zu früh vom Geschrei glücklicher Vögel, stand von meinem Nachtlager auf und schaltete, gesunken und entleert, wie ich geworden war, sofort mit dem Erwachen den Fernseher an und döste bis zum Frühstück in die jeweilige vollkommen geistlose Sendung hinein, und dieses Hineindösen nannte ich motivierendes Wachwerden, ganz im Ernst, ich wollte motiviert und produktiv, informiert und umsichtig in den Tag kommen, sagte ich, eine Werbesendung lief, schön, all diese Neuheiten und Perfektionen, die die Neuheiten und Perfektionen von gestern um ein Detail übertrafen, man kann ja immer am Laufen und Bestellen und Anziehen und Wegwerfen sein, in Gedanken ging ich meinen letzten Kontoauszug durch, es war ein Morgen wie alle anderen, aber dann merkte ich es nicht mehr.
Die historische Wende hat das Bedürfnis nach einem sinnvollen Leben in Würde nicht befriedigt. Was sie gebracht hat, ist ein Mehr an Konsummöglichkeiten. Aber der kurzzeitige Konsumrausch mündet schnell wieder ein in die Leere eines Daseins, das aus lauter sich selbst reproduzierenden Ansprüchen besteht, so dass diese letztlich erneut zum Gefängnis werden und die versprochene Freiheit ersetzen. Drawert reflektiert die neugewonnene Freiheit in ihrer ganzen Ambivalenz:
Ich dachte darüber nach, für was sich das Aufstehen lohnen würde. Sobald ich nachzudenken begann, war ich sehr um Objektivität bemüht, mit der ich die Vor- und Nachteile des Aufstehens zu erwägen versuchte. Aber was ich herausfand, waren immer nur jede Menge Nachteile. All das hindert ihn, das hervorzubringen, was er sich als Tagespensum vorgenommen hat: Die Würde des gültigen, brauchbaren Satzes.
Alles scheint verkehrt, blockiert
Die Freiheitsversprechen erweisen sich als leer und hohl. Es gelingt nicht, eine Sprache für die neue Wirklichkeit zu finden. Alles scheint verkehrt und blockiert; die Wirklichkeit wird als unaussprechbar empfunden – als etwas der Sprache vollkommen Jenseitiges. Durch die Sprache haben wir uns aus der Wirklichkeit entfernt, und wir leben in ihr als in einer Ersatzwirklichkeit, so empfand ich und so war der gültige, brauchbare Satz, von dem ich in rhetorischer Weise sprach, genaugenommen das Schweigen, in das ich gestürzt war, der gültige Satz war der verschwiegene Satz in dieser Zeit, die ausgesprochenen oder niedergeschriebenen Sätze waren Verneinungen der gültigen Sätze.
War die Vergangenheit eher durch eine gewisse Erfahrungsarmut gekennzeichnet, ist nunmehr das Gegenteil der Fall. Das neue Umfeld bringt viele Anforderungen mit sich, denen sich der Autor nicht gewachsen fühlt. Oft sind es ganz banale Dinge, die ihn am Schreiben hindern; dann aber auch Zwangsverrichtungen wie Steuererklärungen abgeben.
Ich verstand diese ganze Begriffswelt nicht. Ich verstand gar nichts. Ich war vor lauter Befehls- und Aufklärungsmaterial vollkommen desorientiert, alle Werbe-, Informations- und Gesetzesbroschüren, die in hohen und nicht mehr zu ordnenden Stößen meinen Schreibtisch füllten, waren mir eine einzige Desorientierung. Ich verstand alles falsch und füllte alles falsch aus.
Diese totale Desorientierung infolge des Bedeutungsverlustes der Begriffe führt zu psychosomatischen Störungen, denen mit herkömmlichen medizinischen Therapien nicht beizukommen ist. Die Ärzte empfehlen einen gesünderen Lebenswandel durch Sport und Bewegung. Verbieten das Rauchen und Trinken. Kurzum: verstehen die Ursachen der Erkrankung nicht. Ihre Ratschläge müssen dem Autor wie blanker Hohn erscheinen. Die Ärzte haben zu wenig Philosophie, das läßt sie beleidigend werden. Sie versuchen, Symptome zu kurieren ohne deren sozial bedingte Ursachen zu verstehen. Für derlei fühlen sie sich nicht zuständig. Dem Autor bleibt nichts anderes übrig, als seine Selbsttherapie schonungslos weiter zu führen. Wieder fährt er herum, versucht, einen Ort zu finden, an dem er seine Gedanken ordnen kann; seine gedankliche Überschärfe zu beruhigen, denn man erkrankt an fast jedem Organ, wenn das Zentrum der Gedanken erkrankt ist.
Öde, zerrissene Landschaft
In seiner Verzweiflung kehrt er an den Ort seiner Herkunft zurück und hofft darauf, eine vertraute Umgebung vorzufinden, die ihn zur Ruhe kommen lässt. Aber was er vorfindet, ist eine öde, zerrissene Landschaft, die voll war von toter oder sterbender Gesellschaft, voll von toter oder sterbender Sprache, die von einer anderen toten oder sterbenden Sprache ersetzt werden würde oder bereits ersetzt worden war, hastig hingeklebte Reklameschilder, wo vorher Losungen standen, deren über den farbigen Bildrand hinausreichende Endungen mit dem Putz der Wände zerbrachen, Frittenbuden und Plunderkisten, Billigartikel, vergoldeter Ramsch, Prostituierte, Autowracks, ohne Nummernschild, in Seitenstraßen gestellt, als wären sie die Vergangenheit selbst, die man eilig verließ, provisorische Zeltunterkünfte für Banken, Firmen und Warenketten, ich fuhr und fuhr, um mich her schien es nur noch Idioten, Spekulanten und Verbrecher zu geben.
So sah sie wohl aus, die Anschlussgesellschaft nach der deutschen Wiedervereinigung. Die vormalige Ödnis wird durch eine neue ersetzt. Die alte Fremdheit durch die neue. Nirgendwo ein Ort, der einen heimisch werden lässt. Denn zusätzlich zu den neuen Umständen, die unverständlich bleiben, krauchen einen die Erinnerungen wieder an, so dass der Versuch, in diesem Kontext brauchbare Sätze hervorzubringen, zum Scheitern verurteilt ist.
Ich war in eine Stadt zurückgekommen, die nur aus kranken Räumen bestand, ich habe diese Stadt verlassen, indem ich kranke Räume verließ, die ich kannte, und ich kam in kranke Räume zurück, die ich nicht kannte, und in denen mir nicht nur das Schreiben und Lesen, sondern auch das Sprechen und Hören unmöglich geworden war. Kranke Räume können nur Stummheit hervorbringen oder kranke Gedanken, in ihnen erscheint alles als nutzlos, unverständlich oder verlogen.
Bedrückende Vertrautheit
Also geht der quälende Suchprozess weiter. Die Hoffnung, durch die Rückkehr an den Ort der Herkunft eine Perspektive des Sehens und Denkens zu erlangen, erweist sich als Illusion. Zu stark wirkt die Vergangenheit nach. Diese bedrückende Vertrautheit, das Wiedererkennen alter Zwänge, und bald schon entdeckte ich dieselbe Schlinge am Hals des Denkens, der ich entfliehen wollte, der Fremdheit war nicht mehr jener distanzierte Blick abzugewinnen, den ich zu benötigen glaubte. Desillusioniert verlässt der Autor den Fluchtort erneut und kehrt in den Westen zurück. Aus dem persönlichen Scheitern wird ein Nachdenken über deutsche Zustände in der Zeit nach der sogenannten Wende. War das schon die Zukunft der Deutschen?
Plötzlich erscheint ihm das ganze Vorhaben, über diese Zustände vernünftige Sätze zu formulieren, gar ein ganzes Buch schreiben zu wollen, als anmaßend und nahezu unmöglich.
Das Schreiben als eine absichtsvolle Handlung ist mir auf einmal so maßlos arrogant vorgekommen, daß ich vor lauter plötzlich empfundener Scham beinahe über meine eigenen Füße gestürzt wäre, nein, ich mochte dieses ganze selbstbedeutsame Buchgeschreibe und Perspektivgetue nicht, wie es mich in einem Wiederholungsanfall von Intelligenzeitelkeit überkam, ich mochte gar nichts, es war dieselbe Krankheit, der ich zu entkommen dachte, aber der Ort war mir kein Fluchtort mehr, er war mir, wie der Ort meiner Herkunft, schon zu vertraut, und die eigentliche Krankheit, dachte ich, ist überall dieselbe Krankheit.
So wird das Schreiben über kranke Zustände selbst einem rigorosen Zweifel unterworfen. Was soll sie ausrichten, die Literatur, die schon lange ohne Leser ist; auf deren Ergüsse niemand wartet; die nur ihres Warenwertes wegen da ist? Der Anspruch auf eine Meinung, die Fertigstellung eines unverlangten Buches – das alles erscheint ihm lächerlich und prätentiös. So liest sich der Text von Drawert wie das Protokoll eines zutiefst entfremdeten Lebens eines Schriftstellers. Denn der Gegenstand des Denkens ist die Welt der Väter gewesen, von ihr sollte berichtet werden, und wie verloren sie machte und wie verloren sie war – als herrschende Ordnung, als Sprache, als beschädigtes Leben. Doch sobald ich ins Erzählen geriet und meine Geschichte, um sie zu verstehen, in die Vergangenheit holte, kam mir eine zweite und dennoch zu mir gehörende Person wie aus der Zukunft entgegen und forderte mich auf, eine andere Wirklichkeit zu übernehmen, vor der die erfahrene Wirklichkeit sich auszulöschen schien.
Wenn das Individuum zum Verräter wird
In seinem Text Spiegelland bricht Drawert (konsequenterweise) den Versuch ab, nach einer Sprache für die Geschichte am anderen Ende der Wirklichkeit zu suchen. Alles sinkt in sein berechtigtes Schweigen zurück, heißt es da. Erst später, in seinem Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte (2008), greift er die Thematik erneut auf. Darin schildert er das Inferno der von einer Diktatur Zermalmten, die Unterwelt der von der Gesellschaft Ausgestoßenen, die Denken verbietet, Lesen zum Verrat und das Individuum per se zum Verräter erklärt. Wo der Tatbestand, keine Hoffnung zu haben, zum Überlebensprinzip wird. Nicht selten aber kam er verdorben zurück, das heißt mit Hoffnungen auf dieses und jenes. Dann ging die ganze Abrichtungsprozedur von vorn los, bis der an Hoffnung Erkrankte wieder frei und gesund war, frei von Hoffnung und gesund wie eine Wildsau in ihrer Suhle. Denn nichts war so schädlich und so gefährlich wie Hoffnung.
Auch in diesem Roman reflektiert Drawert die Wirklichkeit seines Herkunftslandes DDR. Um seinem Vorhaben einen adäquaten sprachlichen Ausdruck zu verleihen, konstruiert er eine fiktive Unterwelt aus Höhlen und Röhren, von wo aus die Verdammten, an sinnlosen Maschinen hantierend, hoffnungslose Botschaften nach oben senden. Geradezu kafkaesk mutet das Ganze an. Drawert wechselt öfter die Perspektive: mal schildert er den Dialog der Entrechteten; dann berichtet er von deren Elend und wechselt hin und wieder zum Ich: Wenn ich in meinem Verhau auf und ab ging, schlurfte das Nummernschild über den Boden. Es klang wie der Schrei einer Katze. Dann wieder Stille, bis ich das Rauschen meines Blutes hörte. Dieses Geräusch war die Geschichte des Tages. Hätte ich eine Sprache gehabt, wäre es vielleicht zu beschreiben gewesen. So blieb es eine Spur des Verschwindens.
Es scheint, dass Drawert weiterhin nach einer geeigneten Sprache sucht, um zu verstehen, was ihm lebensgeschichtlich widerfahren ist. Dass er dies mit aller Konsequenz und Rigorosität tut – daran kann keine Zweifel bestehen. Drawert verfügt über außergewöhnliche sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, das zeigen seine Texte zur Genüge. Auf jeden Fall harren die Fragen, die Drawert in Spiegelland stellt und in seinem Roman erneut aufgreift, einer Antwort. Ob es der Literatur gelingt, diese Fragen zu beantworten, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wie heißt es doch in einem seiner Gedichte:
Die Kriege sind ernster geworden,
härter,
vor den Sparkassenschaltern,
das muß ich sagen.
Ein Blick auf den Kontoauszug,
und ich weiß,
ich lebe kopfunter.
Bildquelle: pixabay, User Comfreak, CC0 Public Domain
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