Das Bild hätte selbst der beste PR-Berater nicht klüger auswählen können. Die deutsche Fußballnationalmannschaft feierte nach dem grandiosen Sieg in Rio de Janeiro ihren WM-Triumph noch in der Kabine und vor dem Duschen- und mittendrin steht die Kanzlerin Angela Merkel und feiert mit. Sie lacht, als hätte sie selbst ein Tor geschossen und gehörte dazu. Und viele Stunden später, nach der Ankunft der Elf vor dem Brandenburger Tor. War das eine Stimmung?! Deutschland steht ziemlich oben.
Wie Merkel. Am 17. Juli, wird sie 60 Jahre alt. Die Leitartikler haben das Spiel längst weitergedreht. Deutschland ist nicht nur Fußball-Weltmeister. Wir sind wieder wer, sportlich, wirtschaftlich, politisch. Anerkannt und überall respektiert, aber nicht gefürchtet. Wie die deutschen Kicker in Südamerika aufgetreten sind, darauf kann man stolz sein, wenn der Begriff erlaubt ist. Ein Auftritt, selbstbewusst, aber nicht arrogant, zuvorkommend, freundlich, ohne irgendein Gegröle, ohne Ellenbogen. Man beneidet uns um die Spielkunst, die früher eher den Brasilianern nachgesagt wurde, technisch auf höchstem Niveau, kampf- und laufstark, aber fair, Fußball, wie man ihn kaum schöner spielen kann, dazu effektiv. Deutschland eben. Sind wir jetzt alle Weltmeister, wie das der Bundestrainer ausgerufen hat? Weltmeister durch viele kleine Schritte in den letzten Jahren. Deutschland als Vorbild? Nach dem Motto: So haben wir es gemacht, so kann der Erfolg aussehen. Nein, wir sind nicht die Besserwisser.
Wer die Laufbahn der Angela Merkel verfolgt hat, wird auch hier viele kleine Schritte sehen können. Der Erfolg stand nicht am Anfang ihrer Karriere. Eher fast das Gegenteil. Sie wurde unterschätzt. Eine Frau, aus dem Osten, evangelisch, ohne Kinder. Das „Mädchen von Kohl“ wurde belächelt. Niemand hatte die Frau aus der Uckermark, die nach der Wende als Frauen- und Jugendministerin begann und dann das Umweltressort übernahm, auf der Liste für die mögliche Kohl-Nachfolge. Auch der Altkanzler hat sie anfangs unterschätzt, bis sie in einem Artikel für die FAZ die Ära Kohl für beendet erklärte. Da merkten einige, dass mit der Frau nicht zu spaßen ist. Eiskalt kann sie sein, wenn es um die Macht geht, um ihre Macht. Dass dieselbe Angela Merkel den beinahe geächteten Helmut Kohl wieder gnädig in den Kreis der CDU-Freunde aufnahm, gehört in diesen Kontext.
Als sie Gerhard Schröder als Kanzler ablöste, 2005, hatte sie am Wahlabend ein wenig Glück. Denn der fast pöbelnde Schröder schloss durch sein lautes Auftreten gegenüber der CDU-Chefin die Reihen ihrer möglichen innerparteilichen Kontrahenten. Und plötzlich spielte das eigentlich enttäuschende Abschneiden bei der Wahl nicht mehr die entscheidende Rolle, plötzlich stellten sich die CDU-Granden hinter oder vor ihre Chefin und halfen mit, sie ins Amt zu heben. Schröders Regierungszeit war zu Ende, Merkels begann- mit der SPD und der Großen Koalition.
Einmal im Amt, konnte sie die Früchte der Schröder-Politik ernten, die Agenda 2010 war Schröders eigentliches Werk, die Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme, um die uns die halbe Welt beneidet. Diese Politik hat Merkel übernommen, sie wird keine Agenda 2020 draufsetzen, höchstens ein paar kleine Schritte in die Zukunft machen. Die große Reform, mit der sie mal als Oppositionschefin angetreten war, hätte sie fast um den Sieg gebracht 2005. Also lässt sie die Finger davon. Es heißt, Merkel regiere gern mit der SPD in einer großen Koalition. Das kann man verstehen. Denn diese große Koalition bietet der Kanzlerin vor allem eins: Sicherheit. Diese Regierung wird nach menschlichem Ermessen kaum eine Abstimmung verlieren. Sie kann sich sogar den Luxus leisten, dass ein paar Abgeordnete aus den eigenen Reihen Gesetzesvorhaben der Koalition kritisieren, ja ablehnen. Was machen schon ein paar Nein-Stimmen, wenn die Mehrheit garantiert ist.
Es gibt Kritik aus den Reihen der Union, es gibt Christdemokraten, die die Partei unter Merkel als mehr und mehr entkernt sehen, ohne Inhalte. Was bedeutet eigentlich noch das C? Wie war das noch mit Programmpunkten wie der dreigliedrigen Schule, der Wehrpflicht, der Atomkraft? Alte Kamellen? Bei Meinungsumfragen erreicht die Union seit Monaten Werte um die 40 Prozent, während der Regierungspartner, die SPD, bei 25 bis 26 Prozent liegt oder besser vegetiert, auf jeden Fall weit weg von einer regierungsfähigen Mehrheit. Es sei denn, die SPD wage den großen Schritt hin zu einer rot-rot-grünen Mehrheit, ein Risiko mit ungewissem Ausgang, weil die Linke zumindest für die traditionelle SPD eine Zumutung ist, eine Kröte, nur schwer zu schlucken. Und die Sache mit Oskar Lafontaine hat sich noch nicht erledigt.
Merkel weiß das und sie weiß, dass die Sozialdemokraten mehr ein Bündnis der Union mit den Grünen fürchten. Dann wären sie in der Opposition. Dass jetzt Gedanken oder Spekulationen geäußert werden, Merkel werde in absehbarer Zeit aufhören, weil sie selber den Zeitpunkt bestimmen wolle, wann das Regieren zu Ende ist, wird die Chefin nicht umtreiben. Sie wirkt unaufgeregt, egal was passiert. Die Union will regieren und das kann sie auf Sicht nur mit ihr, mit Angela Merkel. Der Rest ist der Partei so ziemlich egal. Kontrahenten aus der Union hat sie keine. Das hat sie von Helmut Kohl gelernt, wie man sich mögliche Konkurrenten vom Halse hält. Man kann sie wegloben in höhere Ämter, wie sie das mit Christian Wulff gemacht hat. Andere sind gegen sie nicht angetreten, als sie ihren Anspruch auf die Fraktionsführung anmeldete. Der damals amtierende Fraktionschef Friedrich Merz kniff, eine Kampfkandidatur gegen Merkel hat er nicht gewagt.. Wer Merkel heute beobachtet, wird feststellen, mit welcher Sicherheit sie durch die Welt reist, mit welcher Gelassenheit sie Politik macht. Nein, sie plant nicht den großen Schritt, der nur daneben gehen könnte, sie plant auf Sicht. Wer je mit ihr regiert hat, ging am Ende leer aus. Man frage die SPD der ersten großen Koalition unter Merkel von 2005 bis 2009. Die SPD hatte die schwersten Brocken zu schultern und die Finanzkrise zu meistern. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück wurde für seine Politik in aller Welt gelobt. Merkel gewann, die SPD stürzte auf 23 Prozent, so tief wie nie. Man frage die FDP, die mit Begeisterung in die Wunsch-Koalition mit Merkel 2009 zog. Steuerreformen sollten die Politik bestimmen, sie sind Träume geblieben und die Liberalen aus dem Parlament geflogen. Und seitdem ist die SPD wieder in einem Bündnis mit Merkels Union. Trotz vieler Wiederstände aus den Reihen der Sozialdemokraten.
Und schon wirkt die SPD wieder als Gefangene des Bündnisses mit der Kanzlerin. Merkel lässt die Sozialdemokraten machen, Reformen wie den Mindestlohn durchsetzen und die Rente mit 63. Oder die Reform des Energiemarkts. Die Kanzlerin ist von öffentlichen Debatten zumeist unberührt, sie steht für Solidität, für das Erreichte. Reformen verunsichern nur die Wähler. Die SPD mag jubeln, Merkel bleibt gelassen. Ihre Politik scheint frei zu sein von Ideen, die falsche Hoffnungen wecken könnten. Sie steht für das Berechenbare, sie ist der Kompromiss schlechthin, niemand soll verunsichert werden, jeder soll wissen, dass Merkel schon dafür sorgen wird, dass das Geld der Bürgerinnen und Bürger unter ihrer Kanzlerschaft nicht verloren geht. Die Deutschen schätzen das an ihr, dass sie niemanden verschrecken will. Nichts Außergewöhnliches wird mit ihr verbunden. Dass man sie gern Mutti nennt, lässt sie geschehen, weil es ihr hilft. Sie will nicht auffallen, privat schon gar nicht. Still lebt sie, wandert in Südtirol, einmal im Jahr besucht sie Bayreuth. Kein Fest der Society bekommt sie zu Gesicht, Champagner ist ihr Getränk nicht, alles nicht ihr Ding. Und die Leute mögen es, wenn sie sich mit einem Koch auf einem Foto zeigt. Wer kocht nicht gern? Schaut man in Meinungsumfragen, fühlt sich die Mehrheit der Deutschen bei ihr gut aufgeboben. Gut, für das Geld auf Bankkonten gibt es kaum noch Zinsen, aber das ist Sache der Banken. Und überhaupt reicht es ja auch so für das Leben zu Hause, das Auto und den Urlaub. Die Belastungen für viele Bürger werden steigen, aber der Mehrheit scheint es nichts auszumachen. Es geht uns gut.
Man hat den Eindruck, als wollte der Bürger in Ruhe gelassen werden. Fragt da einer noch nach Visionen? Er liefe Gefahr, die Antwort zu erhalten, mit der der große Alte von der Alster, Helmut Schmidt, einst entsprechende Frage beschied: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Vor ein paar Wochen erhielt die Kanzlerin wieder mal höchstes Lob, aber nicht wegen ihrer Politik, sondern wegen ihrer Kleidung. Ihre Blazer seien nicht schlecht, zumal sie den Mut zur Farbe habe und auch Buntes trage. Auch in der Tristesse grauer Winter- und Herbsttage steche die Blazer-Trägerin aus der Masse dunkelblauer Anzüge ihrer männlichen Kollegen hervor. Ein echter Hingucker. So das Urteil des Magazins „Forbes“.
Wie sich die Zeiten ändern! Der ältere politische Beobachter reibt sich verwundert die Augen und denkt an die Anfangsjahre der Angela Merkel, als sie noch eine graue Maus(Pardon, Frau Kanzlerin) in Bonn war und als solche gesehen wurde. Damals nahm kaum einer Notiz von der promovierten Physikerin aus dem Osten, der Tochter eines evangelischen Pfarrers. Interview-Anfragen? Die Journalisten im Bonner Regierungsviertel winkten ab. Eine eigene Presseabteilung muss erst noch eingerichtet werden, das Justizressort lieh eine Kollegin an das Ministerium für Frauen und Jugend aus und die holte sich manchen Korb. Schließlich zeigte der Chefredakteur der „Augsburger Allgemeinen“, Interesse. Warum nicht, ein neues Gesicht, aus der DDR, Physikerin, eine Frau, stellvertretende Pressechefin des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere. So kam ich zum ersten Gespräch mit Angela Merkel. Als wir später, dann für die WAZ, ein Interview-Termin mit der CDU-Generalsekretärin Merkel in Berlin hatten, ließ sie uns über eine Stunde warten und begrüße uns mit eher bissigen Worten, sie sei doch sehr überrascht darüber, dass die halblinke WAZ sich mit der CDU befassen wolle. So ähnlich war das.
Die heute mächtigste Frau in Europa(oder mehr?) war damals eher Gegenstand von Witzen. Es wurde abschätzig über sie geredet. Auch Politiker hielten sich mit entsprechenden Bemerkungen nicht zurück. Von wegen Merkels Look sei nahezu perfekt, wie der britische Designer Paul Smith heute über Merkels Stil in höchsten Tönen spricht. Damals hieß es: Wo kauft die nur ein und hatte im spöttischen Ton gleich die Antwort parat: Im Second-Hand- oder Dritte-Welt-Laden. Grau in Grau, mehr gestrickt, kaum Farbe. Hat sie keinen Frisör, spottete man am Rhein weiter. Sie brauche dringend einen Berater, lauteten die Ratschläge, nicht freundlich gemeint. Kleider machen Leute? Nicht nur. Sie schien sich damals aus dem Äußerem nicht viel zu machen. Man sah ihr an, wenn sie gestresst war. Dann stürzten ihre Lippen erdwärts, wie eine kluge Beobachterin mal bemerkte. Heute strahlt sie oft mit einem Kinderlächeln. Und anders als ihr Amtsvorgänger, dem die harten Arbeitsjahre Falten ins Gesicht trieben, scheint ihr der Kanzler-Job nichts anzuhaben, vielleicht gar zu gefallen. Man schaue das Jubel-Foto während des WM-Endspiels, man schaue das Foto nach dem Sieg in der Kabine der Mannschaft. Sie lacht, als hätte sie auch gewonnen.
Bildquelle: Bundesarchiv Bild 183-1990-0803-017, Lothar de Maiziere und Angela Merkel CC-BY-SA-3.0-de