Mit der feierlichen Erklärung von Rom begeht die Europäische Union ihre Gründung vor sechs Jahrzehnten, und obwohl sie in ihre seither schwerste Krise geraten ist, obwohl ihr in vielen Mitgliedsländern eisiger Wind entgegenweht und obwohl mit Großbritannien erstmals in ihrer Geschichte ein Land seine Mitgliedschaft aufkündigt, weist die Erklärung in eine Zukunft mit mehr Europa, nicht weniger. Aus der Wirtschaftsgemeinschaft soll eine echte politische Gemeinschaft heranreifen, die weitere nationale Souveränitätsrechte nimmt und in gemeinsames Handeln auch auf jenen Feldern überführt, die bislang ziemlich brachliegen, steuerpolitisch, sozialpolitisch, außen- und verteidigungspolitisch.
Wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg: so waren die EWG, dann die EG und schließlich die EU in den zurückliegenden Jahrzehnten etikettiert. Unter den Fittichen der USA hatte Europa weltpolitisch wenig Ambitionen, und als es sich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durchrang, wenig Geschick. Die Blicke blieben im wesentlichen nach Innen gerichtet, auf das eigene Wohlergehen kam es an, nach Außen schottete sich die Wohlstandsinsel ab.
Auch untereinander war die Solidarität nicht immer erste Tugend, die reichen Länder im Norden nannten sich selbst Nettozahler, profitierten zugleich indirekt umso stärker von den Segnungen des Binnenmarkts. Die unbarmherzigen Maßnahmen gegen Griechenland zeugen von der Dominanz des neoliberalen Geistes, das jahrelange Ignorieren der Flüchtlingsproblematik in Italien spiegelt den mangelnden Gemeinsinn wider, die Untätigkeit im Kampf gegen 40prozentige Jugendarbeitslosigkeit in Spanien ist unverantwortlich. Es lässt sich eine lange Liste von Fehlern und Versäumnissen aufstellen, die der EU anzukreiden sind.
Aber: 60 Jahre Römische Verträge stehen auch für 60 Jahre Frieden. Was für ein historisches Ereignis es war, dass nur zwölf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland zusammen mit Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg zu den Gründern zählte, muss man sich heute vor Augen führen. Das gemeinsame Wirtschaften wurde zum Motor für Fortschritt und Wachstum, zögerlich und halbherzig auch für gemeinsame Politik.
Einig ist sich die inzwischen auf 28, nach dem Austritt von Großbritannien dann 27 Mitglieder angewachsene Union nicht. Nationaler Egoismus gibt in vielen Ländern den Ton vor, mit dem in Brüssel verhandelt wird. Auch die deutsche Bundeskanzlerin war nicht frei davon, die Union nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Aktuell gefällt sich die polnische Regierung in der Rolle des Trotzkopfs, um daheim zu punkten. Nach dem peinlichen Gezerre um den Ratspräsidenten Donald Tusk kann man freilich hoffen, dass derlei Krawall bei den Menschen nicht verfängt.
Gleichwohl ist die Zuneigung zu Europa unterschiedlich ausgeprägt, weshalb nun wiederum von einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten die Rede ist. Das mag ein Zugeständnis an die Verhältnisse sein, widerspricht aber dem Geist des großartigen Einigungswerks. Kein anderes Land hat in der Vergangenheit so viele Ausnahmen für sich durchgesetzt wie Großbritannien. Jetzt geht es – von populistischen EU-Gegnern und Nationalisten angefeuert – ganz vor die Tür. Das Streben nach mehr Europa muss das Ziel für die Zukunft bleiben. Beliebigkeit ist nicht die Perspektive, die aus der Krise weist.
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