Vielleicht war es die größte Hilfe, die Sigmar Gabriel seiner Partei bieten konnte: der freiwillige Verzicht auf die Kanzlerkandidatur. Ohne diese Entscheidung hätte die SPD mutmaßlich im September vor einer existenziell bedrohlichen Niederlage gestanden. Die Einsicht, mit der er dabei zugleich auch den Vorsitz in der Partei zur Verfügung stellt, ist Ausdruck politischer Klarheit, zu der er sonst nur seltener Neigung zeigt.
Das ist ein Dienst an der Partei, der ihm gewiss hoch anzurechnen ist. Denn nur der freiwillige Verzicht auf beide Ämter macht es möglich, wenigstens auszuloten, ob die Deutsche Sozialdemokratie ihren Abwärtstrend stoppen kann, und ein Ergebnis bei der Bundestagswahl einzufahren, das es ihr erspart, erneut als Verlierer in eine große Koalition gezwungen zu werden. Die Möglichkeit, im Wahljahr den respektierten, aber ungeliebten Vorsitzenden Gabriel auf einem Parteitag abzuwählen, war undenkbar und wäre Harakiri, der freiwillige Selbstmord.
Die Umstände, diese Entscheidung über „Stern“ und „Zeit“ öffentlich zu machen, noch vor der Informierung der Bundestagsfaktion, hat nicht jedem gefallen. Dennoch kann man verstehen, dass er Begründung und Datum der Entscheidung selber in der Hand behalten wollte. Das positive Echo in der Partei belegt die Erleichterung, die mit dem Namen Martin Schulz verbunden wird, aber zeigt auch, dass Gabriels Verzicht mit Hochachtung zur Kenntnis genommen wurde.
Nun also Martin Schulz. Was man sicher über seinen inneren politischen Kompass sagen kann, er ist überzeugter Europäer. Das allein diese Haltung ihn in Umfragen nahe an die Ergebnisse von Angela Merkel bringt, ist ein wichtiges Signal. Angetrieben von der CSU beharrten die Kanzlerin und ihr Finanzminister darauf, Europas Süden unter der Knute des Spardiktats verelenden zu lassen und Griechenland den Marsch zu blasen. Das wäre mit Martin Schulz nicht zu machen. Im Gegenteil, fordert er doch einen Schuldenschnitt und ein Investitionsprogramm. Europa also ist bei seiner denkbaren Kandidatur, die von der Partei noch bestätigt werden muss, in guten Händen. Dass er in Umfragen erheblich besser abschneidet als Gabriel, darf nicht dazu führen als der bessere Umfragekandidat in die Wahlschlacht dieses Jahres zu gehen. Er wird auszufüllen haben, was meint, wenn er seinen Wahlkampf unter dem Motto „Soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt“ führen will.
Und er wird nicht darum herum kommen, die Partei massiv gegen rechten Populismus und neuen Nationalsozialismus, beides Kennzeichen der AfD, in Stellung zu bringen. Wenn er zudem den wachsenden Anteil der Nichtwähler ansprechen will, muss er ihre Interessen kennen und als ihr Anwalt auftreten, der die massive Verweigerung wirtschaftlicher Eliten, gesellschaftliche Verantwortung mitzutragen, nicht hinnimmt. Der Betrug bei Volkswagen, der den Konzern fast existenziell getroffen hat, oder die über 7000 Prozesse der Deutschen Bank, die sich mit betrügerischen Finanzmanipulationen befassen, haben nicht dazu geführt, Erfolgshonorare, auch Boni genannt, in Milliardenhöhe zu verweigern. Gespart wird bei den Mitarbeitern, die zu tausenden entlassen werden. Gleichzeitig macht der Finanzminister den Vorschlag, das Kindergeld für Geringverdiener um zwei Euro zu erhöhen.
Es hat sich also Stoff angesammelt, der die SPD davon abhalten sollte, nach der Wahl mit einem Koalitionspartner wie die CSU/CDU weiter zu machen. Die CSU treibt die CDU vor sich her und in Richtung AfD und vergiftet zugleich das Klima für eine Flüchtlingspolitik, die den Namen verdient. Dazu kommen die massiven Ängste vieler Arbeitnehmer vor der Digitalisierung auch des beruflichen Alltags. Das Tempo steigt, und wer nicht mithalten kann, und zurück bleibt, fühlt sich als Opfer einer Entwicklung, der es an einer sozialen und solidarischen Wirtschaftspolitik mangelt. Wer nur nach möglichst schneller Digitalisierung ruft, ohne deutlich zu machen, wie sie sozial abgesichert werden kann, wird zu weiteren Erfolgen der AfD beitragen. Das als strategische Notwendigkeit zu erkennen, ist die Aufgabe, die Martin Schulz aufgetragen ist. Man darf gespannt sein, wie viel davon im Wahlkampf der SPD und in ihre Programmatik aufgenommen wird.