Ist das nur Nostalgie? Lese gerade in der Autobiographie von Peter Glotz „Von Heimat zu Heimat“. Der langjährige Bundesgeschäftsführer der SPD (1981 bis 1987) wäre vor kurzem 75 Jahre alt geworden. Leider aber ist der Vordenker der SPD schon neun Jahre tot. Es ist begeisternd, wie präsent, wie raumfüllend, wie spannend Politik in diesem Land einmal gewesen ist. Welche Debatten sie ausgelöst hat, wie sie Menschen mitnahm, wie Politik reinreichte in den „vorpolitischen Raum“.
Politik war überall dort, wo Menschen zusammen kamen. Politik, die wahrgenommen wurde und sich wahrnehmen ließ. Politik, für die oder gegen die gestritten wurde. Volksvertreter, die beim Volk waren. Und ein Volk, das für seine Meinung auf die Straße ging. Die großen Demos gegen Atomkraft oder gegen den NATO-Doppelbeschluss.
Parlamentsdebatten, die aufrütteln konnten, Streitthemen in Familien, Fabrikhallen, Büros oder Kneipen wurden.
Mit Glotz Autobiographie reist man zurück in eine andere Zeit der Republik, in eine Zeit, in der politisches Farbebekennen selbstverständlich war, in der Parteien und Parlament die großen Fragen des Landes anpackte und spannend machte.
Und heute? Die Große Koalition lebt seit einem halben Jahr vor sich hin. Im Parlament hat es nicht einmal den Versuch gegeben, eine große Debatte zu organisieren. Es sei denn, man prahlt mit Gastrednern, wie am Donnerstag mit einem glänzenden Alfred Grosser zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Oder mit dem Schriftsteller Kermani, der im Juni vor dem Parlament eine nachlesenswerte Rede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes gehalten hat. Man kauft sich Tiefgang und Rhetorik immer öfter ein in ein Parlament, das eigentlich intensiver für sich selbst sprechen sollte.
Die Parlamentarische Demokratie, der Streit am Rednerpult des alten Bonner Bundestages, war ein Teil des Erfolgsrezepts dieser Republik. Dieses Rezept ist ausgelaufen. Das Parlament ist nicht erst durch die große Koalition zu einer ermüdenden Veranstaltung geworden. Dessen Präsident Norbert Lammert, ein ebenso guter wie eitler Repräsentant der 631 Abgeordneten, scheint das zu ahnen, wenn er immer mal wieder auf die Fehlentwicklung eindrischt, dass der Fernsehtalk-Unsinn ernster genommen wird als das Wort im Parlament.
Wer derzeit auf Anstöße aus der Politik wartet, der muss sich vom Reichstag weg hinüber zum Schloss Bellevue wenden. Von dort geht Provokantes, Nachdenkliches, Streitbares aus. Bundespräsident Joachim Gauck versucht in vielen Bereichen – von der Flüchtlingspolitik bis zur deutschen Verantwortung in internationalen Konflikten – Debatten zu provozieren. Allein, auch seine Anstöße reichen gerade mal für tagesaktuelle Wahrnehmung in Politik, Medien und Öffentlichkeit.
Der Mehltau der Teilnahmslosigkeit, des Desinteresses, der Apathie hat sich auch über große Teile des Volks gelegt. Die Erregtheit, der Auflehnungswille der alten Republik hat sich weitestgehend verflüchtigt. „Hallen des Volkes“, wie sie Glotz nannte und sie in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit großen Debatten füllte, sind nicht mehr gefragt. Und manchmal überkommt einen die Angst, dass wir auf dem Weg zu einer teilnahmslosen Gesellschaft sind.