Martin Schulz(60), der Präsident des Europa-Parlaments, zieht es nach Berlin, er wird auf Platz 1 der NRW-Landesliste für die Bundestagswahl im nächsten September kandidieren. Das allein ist nichts Sensationelles. Neu ist, dass er selber erklärt hat, von Brüssel nach Berlin zu wechseln. Aber Kanzlerkandidat der SPD wird der Buchhändler aus Würselen kaum. Gegen Angela Merkel wird Sigmar Gabriel(SPD), der Parteivorsitzende der Sozialdemokraten antreten-müssen. Sonst ist seine Zeit für höchste Würden im Bund auch bald abgelaufen.
Und Gabriel weiß das, einflussreiche Genossen haben ihm das längst gesagt. Der mitgliederstärkste SPD-Landesverband, allen voran die Chefin und Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft, wie auch Fraktionschef Norbert Römer haben sich öffentlich für Gabriel als Herausforderer von Merkel ausgesprochen. Und Freunde und Weggefährten, die Gabriel in jüngster Vergangenheit erlebt und mit ihm gesprochen haben, sind überzeugt: Er macht es.
Dass Schulz laut Umfragen beliebter als Gabriel ist, darüber kann sich der Europäer freuen, in der politischen Praxis bedeuten solche Werte nicht viel. Diese Sympathien können schnell umschlagen, wenn der Präsident Brüssel verlässt und das eindeutig heißere politische Pflaster in Berlin betritt. In der Bundespolitik weht ein schärferer Wind. Hier erwarten ihn innenpolitische Debatten über die Rente, den Umweltschutz, Jobs bei Kaisers Tengelmann, die Probleme mit VW, die Armutsbekämpfung, überhaupt das gesamte Tableau der sozialen Gerechtigkeit. Das ist Schulz in dieser Form nicht gewöhnt. Und wenn er in diesen Ring klettern würde, könnte es schnell mit der Beliebtheitskurve nach unten gehen.
Mit vollem Risiko Erfolge erzielt
Sigmar Gabriel, das ist wahr, hat seit Jahren immer wieder Streit mit Teilen seiner Partei gehabt, was auch mit seiner Sprunghaftigkeit zusammenhängt. Einschränkend muss man aber auch zugeben, dass der Gabriel von heute offensichtlich aus anderem Holz geschnitzt ist. Er hat die Partei durch die schwierigen Verhandlungen wegen eines Freihandelsabkommens mit Kanada, Ceta genannt, geführt und dafür gesorgt, dass die SPD ziemlich geschlossen blieb. Er hat mit vollem Risiko das Problem mit Kaisers, Tengelmann, Edeka und Rewe angepackt und wenn nicht alles täuscht, hat er gewonnen und damit Tausenden von Beschäftigten bei Kaisers auf Jahre den Job gesichert. Und es war Gabriels geschickte Personalstrategie, dass mit Frank-Walter Steinmeier im nächsten Frühjahr mit hoher Wahrscheinlichkeit ein dritter Sozialdemokrat ins Schloss Bellevue einziehen kann. Angela Merkels Versuche, einen Christdemokraten für die Kandidatur zu bewegen oder Marianne Birthler, die ehemalige Bürgerrechtlerin aus der DDR, scheiterten, die Kanzlerin schlug den Außenminister als gemeinsamen Bewerber der Großen Koalition für die Nachfolge von Joachim Gauck vor.
Im Fußball würde man sagen, Gabriel hat einen Lauf. Beim China-Besuch vor kurzem trat er selbstbewusst auf, sehr zur Überraschung der Gastgeber, die einen Wirtschaftsminister erlebten, der die Interessen der deutschen Industrie stets im Auge hatte und dabei nicht vergaß, die Chinesen wegen ihrer Politik, die deutsche Firmen benachteilige ,zu kritisieren. Gerade wurde er dafür bei einer Tagung von Aluminium-Produzenten und Betriebsräten der IG Metall über den grünen Klee gelobt. So was passiert nicht alle Tage und dann hörte Gabriel noch öffentlich von einem Redner: Jawohl, ich wähle die SPD, auch weil sie die einzige Partei ist, die sich um die Industrie kümmert.
Privates Glück kommt hinzu
Und jetzt kommt noch privates Glück dazu. Im Frühjahr erwarten Sigmar Gabriel und seine Frau Anke, eine 40jährige Zahnärztin, ihr zweites Kind, Tochter Marie ist vier Jahre alt. Gegenüber dem „Stern“ sagte der Vizekanzler, sie seien „sehr glücklich“. Es ist Gabriels zweite Ehe, zwischendurch war eine andere Beziehung gescheitert, vielleicht am Stress und Arbeitsaufwand, den die Politik von den Politikern einfordert. Ein privates Glück, das Gabriel sehr schätzt, weil er aus einer schwierigen Familie kommt, sein Vater war, wie der Sohn vor ein paar Jahren öffentlich machte, ein alter Nazi, der seinen Pflichten gegenüber der Familie nicht nachkam, der den Sohn zwang, bei ihm zu leben, was ihn kränkte und schmerzte. Vor ein paar Monaten erzählte er ergänzend dazu, wie seine Mutter, die er liebte, seine Schwester und er unter dem Vater gelitten hatten, der sich zudem weigerte, für die Familie zu sorgen. Er habe die Mutter in der Küche sitzend weinen gesehen, weil kein Geld da war. Das hat den Sohn Sigmar geprägt.
Vor Jahren, als er Ministerpräsident von Niedersachsen war, hieß es über Sigmar Gabriel, der eigentliche Lehrer gelernt hat, er sei der Mann nach Schröder, der ja auch Regierungschef in Hannover war, ehe er Helmut Kohl nach 16 Dienstjahren nach Hause schickte und Kanzler wurde. Lange her. NRW-Fraktionschef Norbert Römer, ein Mann, der Gabriel seit langem schätzt, weil er ihn bei Reisen durch NRW erlebt hat als Menschen, der mit anderen Menschen und gerade auch den Arbeitern im Revier gut kann, der ihre Sprache spricht und sie versteht, der als Kümmerer auftrat. Römer hat in unserem Blog-Der-Republik vor ein paar Monaten einen Gastbeitrag geschrieben mit dem Titel: „Ein Plädoyer für Sigmar Gabriel“. Als Kanzlerkandidat. Und Römer fügte in dem Beitrag noch hinzu: „Sigmar Gabriel kann Kanzler“. Heute befragt, nimmt Römer von seinem Urteil nichts zurück.
Bildquelle: Wikipedia, Michael Thaidigsmann, CC BY-SA 4.0