Immer mehr fürsorgliche demoskopische Experten ringen aktuell mit einem beeindruckenden Feuerwerk von Umfragezahlen und Personalalternativen um den optimalen SPD-Kanzlerkandidaten. Abseits dieser Spielchen mit genauso volatilen wie überinterpretierten Popularitätswerten kann die Sozialdemokratie aber im realen Leben nur mit einem Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel in den nächsten Bundestagswahlkampf ziehen.
„Jugend forscht“- Wettbewerb
Weder der neuerdings heiß gehandelte Martin Schulz, noch andere herumgeisternde Namen, wie Frank Walter Steinmeier, Andrea Nahles, Olaf Scholz usw. sind in der konkreten Ausgangssituation realistische und vernünftige Optionen, sondern reine Scheinalternativen. Es ist einigermaßen erstaunlich, wie wenig bisher die ansonsten allzeit zu selbstzerstörerischen Personaldebatten bereite SPD von dem aktuellen „Jugend forscht“- Wettbewerb kluger Analysten und Spindoktoren berührt oder gar durchgeschüttelt wird. Dazu haben dann die demoskopischen Zahlen und Analysen, mit denen der Sozialdemokratie ein optimaler Kanzlerkandidat nahegelegt wird, doch wenig politische Aussagekraft und Substanz.
Schulz vor Gabriel?
Zuerst meldete Anfang Oktober Forsa im Auftrag von „Stern“, dass Martin Schulz als Kanzlerkandidat bei einer Direktwahl durch die Bevölkerung mit 29 Prozent Zustimmung statt der 18 Prozent von Sigmar Gabriel – allerdings bei 46 Prozent für Angela Merkel – nur etwas „schöner“ verlieren würde. „Spiegel Online“ spekulierte aufgrund dieser doch sehr dünnen Forsa-Zahlenbasis dennoch umgehend, dass Gabriel seinem Freund Schulz als Kanzlerkandidat den Vortritt lassen könnte. Und eine gute Woche später verkündete dann „tagesschau.de“ aufgrund der Tatsache, dass Schulz nach dem von „infratest dimap“ erhobenen Deutschlandtrend von 34 Prozent der Befragten als geeigneter Kanzlerkandidat angesehen wurde und Gabriel „nur“ von 30 Prozent, die Headline „Schulz vor Gabriel als SPD- Kanzlerkandidat“.
Volatile Umfragewerte
Man muss solche Umfragewerte auch dynamisch in ihrer Volatilität, d.h. der Abhängigkeit von einem personellen Rollenwechsel sehen: Martin Schulz als Präsident des Europaparlaments ist bisher natürlich noch etwas weniger bundespolitisch präsent und bekannt als Gabriel. Wenn er denn wirklich einmal Angela Merkel in einem offensiven Wahlkampf auf der bundespolitischen Plattform attackieren müsste, würde er zwar signifikant bekannter, aber er hätte dann durch die härtere parteipolitische Konfrontation auch weit schlechtere Popularitätswerte außerhalb der SPD-Wählerschaft. Genauso wie es übrigens in den letzten Bundestagswahlkämpfen bei Peer Steinbrück oder Frank Walter Steinmeier der Fall war.
Überschätzung der Direktwahl- Vergleiche
Zudem ist der Direktwahl-Umfragevergleich für die Kanzlerschaft weder von der Verfassung her relevant, noch hat er in der politischen Praxis die herausragende Bedeutung, die in den Grafiken der Demoskopen zum Ausdruck kommt.
Natürlich ist normalerweise der demoskopische Amtsbonus für den jeweiligen Kanzler oder die Kanzlerin ein gerne genutzter Imagevorteil im Wahlkampf. Doch wenn es in der Praxis der Kanzlerwahl auf diese beliebten demoskopischen Vergleichsspiele wirklich ankäme, wären Willy Brandt, Helmut Kohl und auch Angela Merkel nicht ins Bundeskanzleramt eingezogen. Sie alle waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl durch den Bundestag deutlich weniger beliebt als die jeweiligen Amtsvorgänger.
Gabriel hat notwendige kämpferische Härte
Doch noch viel wichtiger ist ein anderer Aspekt. Die SPD muss als eine auf Bundesebene seit der Bundestagswahl 1998 praktisch halbierte Partei gerade jetzt auf ihren Vorsitzenden setzen, weil er sie unbestritten in einer zwar strategisch ungünstigen erneuten Großen Koalition trotz aller Fehler letzten Endes geschickt, nervenstark und mit Chuzpe durch ihre größte Existenzkrise als Volkspartei führt. Es gibt zu ihm in dieser strategisch verfahrenen bundespolitischen Konstellation keine gleichwertige Personalalternative als Kanzlerkandidat, der auch mit der unbedingt notwendigen kämpferischen Härte ein noch zu schärfendes Eigenprofil der SPD im Konflikt mit Angela Merkel vertreten kann. Der kaum mehr sichtbare Markenkern gegenüber der Union ist doch das Hauptproblem der deutschen Sozialdemokratie.
Scheinalternative aus „Europa“
Der europapolitisch als Parlamentspräsident durchaus hoch angesehene und erfolgreiche Martin Schulz bleibt daher trotz aller bemühten demoskopischen Verwirrspiele in der Frage der Kanzlerkandidatur eben doch nur eine Scheinalternative aus „Europa“. Dies gilt auch für den Fall seines denkbaren Wechsels in die Bundespolitik.
Die fragile Vision R2G
Es wird ohnehin schwer genug sein, den Anspruch eines sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten glaubwürdig zu vermitteln. Denn dazu müsste man ja spätestens im bevorstehenden Wahlkampf eine realistische Alternative für eine Regierungsmehrheit jenseits der Union aufzeigen können. Und genau diese Alternative ist trotz eines medial emsig vermarkteten Kontakttreffens zwischen den Befürwortern bzw. Interessenten an einer Rot- Rot- Grün- Koalition, im Berlin-Sprech auch R2G genannt, auf Bundesebene immer noch eine sehr fragile, ja „heroische“ Vision: Nicht nur weil „Die Linke“ in dieser Frage strategisch total zerstritten und auch die Skepsis in der SPD noch sehr groß ist. Sondern weil sich seit langem in der Führung der „Grünen“ eine starke Mehrheitstendenz dahingehend abzeichnet, dass Schwarz-Grün im Bund das nächste Mal eine geradezu historische Notwendigkeit sei.
Winfried Kretschmann stört Realo- Strategie für Schwarz- Grün
Vor allem für Cem Özdemir wäre dies offensichtlich die Krönung seines langjährigen politischen Wirkens. Die grünen Realos sind über Winfried Kretschmanns ehrfürchtige Bitte an Angela Merkel, als Kanzlerin weiterzumachen, doch nur deshalb empört, weil er ihre Strategie gestört hat, in einem Pseudokonflikt mit der Union während des Wahlkampfs die schwarz-grüne Koalition im Bund mit einem möglichst großen grünen Stimmenerfolg einzufahren.
Bildquelle: Wikipedia, Michael Thaidigsmann, CC BY-SA 4.0