Geschichtspolitik, also der Versuch, die Lufthoheit über die Interpretation der Vergangenheit zu erobern oder wenigstens die Geschichte zum Zeugen für die Richtigkeit gegenwärtiger Entscheidungen anzurufen, ist nichts Neues. Es ist zum Beispiel noch nicht lange her, als Helmut Kohl einen Zipfel vom Mantel der Geschichte erhaschen wollte, mit Mitterand Händchen haltend über den Soldatengräbern die deutsch-französische Erbfeindschaft zum xten mal beerdigte oder mit Reagan versehentlich in der Nähe von bestatteten SS-Angehörigen den Frieden beschwor. Die Liste lässt sich unendlich verlängern.
Deutschland ist schon oft dafür gelobt worden, wie vorbildlich hier die Nazi-Vergangenheit aufgearbeitet worden sei – jedenfalls nach 1968. Diese Aufarbeitung bewirkt aber offenbar nicht, dass die wichtigsten Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie für immer entfernt wären. Im Gegenteil erleben ja Fremdenhass und nationalistische Überheblichkeit in diesen Tagen geradezu ihre Wiedergeburt. Aufklärung wirkt wohl nicht so radikal, wie es nötig wäre.
Ein kurzer Urlaub in den Herbstferien in den Vogesen – die Wahl der Unterkunft eher zufällig, wo gerade etwas frei war, das Wetter herrlich. Was will man mehr! An den Fernstraßen kurz vor dem Ferienort mehren sich die Wegweiser zu „Le Struthof“ – eine KZ-Gedenkstätte. Wir hätten es wissen müssen, haben vor dem Mahnmal für Natzwiller auf dem Friedhof Père La Chaîse in Paris inne gehalten und sind trotzdem jetzt überrascht. Wir fahren hin.
Wir sind entsetzt: inmitten der schönsten, bergigen Waldlandschaft plötzlich ein Wegweiser links ab von der Serpentinenstrasse zu “ Chambre de gaz“. Neben der Gaskammer ein Gasthof – ich will mich schon empören, aber zum einen ist die Kneipe gar nicht in Betrieb und zum anderen: sie war zuerst da. Wir befinden uns an einem ehemals beliebten Ausflugsort, besonders gut besucht im Winter, wenn die Erwachsenen hier vielleicht einen heißen Grog tranken, während die Kinder mit ihren Schlitten im Schnee herum tollten. Schon seit 1829 gibt es hier einen Gasthof; das Hotelrestaurant wurde 1906 gebaut.
Nachdem die Deutschen 1940 das Elsass erobert und bemerkt hatten, dass es dort oben roten Granit gab, war Schluss mit den Freizeitvergnügen am Mont Louise. Der Gasthof wurde zur Wäscherei der SS, soll aber von den Bewachern oft noch als Tanzsaal genutzt worden sein. Das Nebengebäude wird Gaskammer und noch einmal ein ganzes Stück den Berg hinauf entstand das Lager. Die Deportierten sollten den Granit abbauen. Zuerst wurden Inhaftierte aus Sachsenhausen hierher gebracht, die das Lager an einem steilen Hang und die Zugangsstraße durch den Wald bauen mussten. Von den 17 Baracken stehen noch drei: die Küchenbaracke, das Gefängnis(!) und das Krematorium. Von den drei Stacheldrahtzäunen um das Lager steht nur noch der innere, doppelte Zaun.
Natzwiller ist nur dreieinhalb Jahre nach Ankunft der ersten Deportierten dort, das erste KZ, das von den Allierten befreit wird. In dieser Zeit sind dort 22.000 Deportierte umgebracht worden. Zuletzt haben in Holzbaracken, die für maximal 250 Menschen, die jeweils zu 9 Männern in Betten zu drei Etagen untergebracht wurden, von bis zu 750 Deportierten gelebt.
Drei deutsche Ärzte mißbrauchen hier Deportierte für tödliche Experimente; einer, Otto Bickenbach, praktizierte danach bis Ende der 1960er Jahre als niedergelassener Internist in Siegburg. Ein Berufsgericht in Köln hat 1966 befunden, seine Menschenversuche mit Giftgas hätten nicht gegen das ärztliche Berufsethos verstoßen.
August Hirt legt eine Sammlung „jüdisch-bolschewistischer“ Schädel und Skelette an. Dafür wurden 86 eigens aus anderen KZ nach Natzwiller verbrachte jüdische Gefangene hier vergast. Er beging 1945 Selbstmord.
Eugen Haagen hatte schon erfolgreich einen Impfstoff gegen Fleckfieber gefunden, suchte aber weiter nach wirksameren Stoffen. Dafür infizierte er in Natzwiller Gefangene mit dem Fleckfiebervirus und löste eine Epidemie im Lager aus. Versuchsopfer waren zumeist Sinti und Roma -Angehörige. Haagens Forschungen wurden einst von der DFG gefördert, auch in den 1950er Jahren erhielt er DFG-Forschungsgelder und ab 1956 arbeitete er ganz normal bis zur Rente in einem virulogischen Bundesinstitut.
Die eigenen, niederschmetternden Empfindungen an diesem Ort entziehen sich einer Beschreibung.
Die Wirkung der Informationen auf die vielen 15 jährigen französischen Schülerinnen und Schüler – zugleich mit uns waren drei verschiedenen Schulklassen dort – blieb uns verborgen. Immerhin liegen die Ereignisse um einen Zeitraum fast des 5fachen deren Lebens zurück. Ich erinnere mich, dass in meiner frühen Jugend schon die Schrecken des ersten Weltkriegs, den mein Großvater knapp überlebt hatte, mich nicht berühren konnten obwohl sie kaum das Dreifache meiner Lebenszeit zurückgelegen hatten.
Auf der Rückfahrt erinnerten wir uns an einen Besuch in Buchenwald bei Weimar. Als wir das Lager schwer erschüttert verließen, kamen zwei runenverzierte, schwarze, tiefer gelegte Kleinwagen mit quitschenden Reifen angefahren, fünf kahl rasierte junge Männer sprangen heraus und taten lachend so, als verrichteten sie am Lagereingang ihre Notdurft. Außer uns war niemand in der Nähe und wir trauten uns nicht, die Männer zur Rede zu stellen…
Nun lese ich vor kurzem, dass in München das 1937 von Hitler eingeweihte „Haus der deutschen Kunst“, ein monumentaler Nazitempel, in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden soll. Der hoch angesehene Museumschef Enwezor teilt die Meinung der bayerischen Staatsregierung, dass das Haus durch seine jahrzehntelange Nutzung zur Ausstellung moderner Kunst „entnazifiziert“ sei. Mir ist das unheimlich. Es handelt sich nämlich nicht um ein Gebäude, dass dem „neoklassizistischen“ Zeitgeschmack entsprechend überall in Europa stehen könnte und hier nur zufällig während der NS-zeit gebaut wurde. Das Haus der Kunst ist – kurz gesagt – als Tempel von Nazis für Nazis errichtet worden. Die Wiederherstellung des Zustands von 1937 wäre quasi eine Re-Nazifizierung – zuletzt auch, weil dann viel weniger Platz für die moderne Kunst und damit für die Spannung zwischen einst und jetzt darin sein wird.
Und in Braunau, knapp hinter der deutsch-österreichischen Grenze, soll nun das Geburtshasu Hitlers abgerissen werden. Auch in Braunau sind wir einmal gewesen und haben uns abends im Kaffeehaus mit den Wirtsleuten über die Problematik des Hauses unterhalten. Es schien, dass der davor platzierte, unübersehbare Gedenkstein an die Opfer des Nationalsozialismus eine geschichts“politisch“ sehr gelungene Lösung ist, die es heutigen Rechtsextremisten schwer macht, sich dort zu feiern.
Der Abriss des biedermeierlichen Hauses in Braunau und die Freilegung der ursprünglichen Naziarchitektur des Haus der Kunst in München, verfolgten beide dasselbe – denselben Irrtum, würde ich hinzufügen – nämlich, dass man Erinnerung steuern könne. Das schreibt Nikolaus Bernau in der Frankfurter Rundschau. Ich sehe auch eine Gemeinsamkeit beider scheinbar gegensätzlicher Pläne: es ist die Unfähigkeit, Ambivalenzen, Spannungen zwischen unterschiedlichen Epochen, unterschiedlichen „Botschaften“ als das auszuhalten, was sie sind: Zumutungen, die allein in der Lage sind, die Auseinandersetzung mit dem, was war, wirksam zu provozieren.
Immerhin sind die besten Gedanken ja die, die man sich selber macht.
Versagt heute die Geschichtspolitik, die durch Gedenken, Mahnung, Aufarbeitung und Aufklärung erreichen wollte, dass das nie wieder geschieht, was Deutschland zwischen 1933 und 1945 angerichtet hatte? Gewinnen die Relativierer und Verharmloser von Krieg und Menschheitsverbrechen den Wettlauf um die Prägung der Lehren aus der Geschichte? Wenn Braunau und München Schule machen, wird Raum für Verdrängung und verharmlosende Eindeutigkeit geschaffen. Nichts könnte in Zeiten von AfD und Pegida unsinniger sein!
Die Lehre aus dieser Geschichte kann nur sein, was ein Überlebender von Le Struthof, Roger Boulanger, aufgeschrieben hat:
„…Unsere wertvollsten Güter sind das Leben und die Freiheit. Jeder Angriff auf die Würde des Menschen und dieses zerbrechliche Bauwerk Demokratie muss alle wohlgesonnenen Männer und Frauen aufrütteln.
Die Wachsamkeit ist die einzige Waffe des pazifistischen Bürgers. handeln wir, bevor es zu spät ist. Warnen wir die Sorglosen! Erkennen wir das, was die Demokratie gefährden könnte!“
Übrigens bin ich immer wieder berührt, wenn ich im Elsass – sobald die Menschen an meinem wahrscheinlich grauenhaften Akzent merken, dass ich Deutscher bin – sofort deutsch sprechen. Hier ist es anders als anderswo auf der Welt, wo man es ganz nett findet, die eigene Muttersprache zu hören. Denn das Erste, was die Nazis 1940 den Elsässern verboten hatten, war französisch zu sprechen.
Bildquelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0