Einen Roman möchte ich empfehlen, der um 1940 geschrieben, erst 2004 veröffentlicht, 2005 erstmals in deutscher Sprache erschienen und unvollendet ist.
Als allererstes und damit es am Ende nicht vergessen wird, muss die Übersetzerin gelobt werden. Das Deutsch, das Eva Moldenhauer aus dem alten französischen Originaltext hervorgezaubert hat, ist eine Freude!
Trotzdem ist der Roman “ Suite francaise“ von Irène Némirovsky zum Heulen. Er erinnert ständig daran, dass die Autorin mitten im Schaffensprozess 1942 von den Nazis aus Vichy-Frankreich deportiert und binnen 4 Wochen dermaßen geschwächt wurde, dass sie am 17. August im Vernichtungslager Birkenau starb. Er erinnert daran, dass die Nazis mordeten, ganz gleich welcher Religion man angehörte – die Autorin war katholisch -, welche Leistung man vollbracht hat – sie war eine in Frankreich prominente und erfolgreiche Schriftstellerin – wie die Familiensituation war – sie hinterließ zwei kleine Kinder – und was der Welt durch den Mord vorenthalten wurde. Die Kindheit der beiden Töchter, deren Vater wenig später ebenfalls von den Nazis ermordet wurde, diesen vorenthalten; der Leserschaft mindestens zwei geplante Großkapitel des Romans.
Erlebt man heute das rassistische Geschrei einer völlig enthemmten Minderheit (nicht nur) in Dresden, bleibt jedem die Luft weg, der dieses Buch liest.
Drei Gründe machen das Buch besonders vor diesem Hintergrund aktuell:
Erstens enthält es im Anhang Briefe insbesondere des Ehemanns, der selbst schon den eigenen Aufenthaltsort nicht mehr verlassen durfte. Ein Kampf um seine Frau, dessen ohnmächtige Verzweiflung sich noch 70 Jahre später unmittelbar auf den Leser überträgt;
Zweitens enthält es viele Notizen und Briefe der Autorin selbst, denen ihre Ideen und Überlegungen über den Fortgang des Romans zu entnehmen sind aber auch ihre zunehmende Gewissheit, die Kollaboration des antisemitischen Vichy-Regimes mit den Nazis nicht zu überleben;
Drittens hat das Romanfragment ein zentrales Thema, nämlich die Abwägung zwischen individueller Freiheit und Gemeinschaftsgeist, in den Worten Némirovskys: „Kampf zwischen dem individuellen Schicksal und dem Gemeinschaftsschicksal. Am Schluss (der nicht mehr geschrieben wurde – ww) liegt die Betonung auf der Liebe…“
Gleich zu Beginn konfrontiert die vor über 70 Jahren geschriebene – und diese Vergangenheit schildernde Geschichte den Leser mit der Gegenwart, mit den Millionen in aller Welt fliehender Menschen. Beschrieben werden mehrere, verschiedenen Gesellschaftsschichten angehörende Personen, die sich kurz vor dem deutschen Einmarsch auf die Flucht aus Paris begeben. Umwerfend die Charakterisierungen, die den Leser alsbald für oder gegen die Einen und Anderen Partei ergreifen lassen, ohne dass im Text auch nur ansatzweise Urteile über deren Verhalten gefällt würden. Insbesondere aber werden Not und Elend der Fliehenden greifbar. Obwohl manche Protagonisten noch recht komfortabel – und im eigenen Land, im Gebiet der eigenen Sprache – unterwegs sind, erleben sie eine Kette von Verlust, Erniedrigung, Angst und Desorientierung. Im Lichte der Nachrichten unserer Tage überlegt man unwillkürlich, wie es ist, ohne gesicherte Versorgung und mit wenig Ausrüstung in der sprachlichen und kulturellen Fremde auf der Flucht zu sein.
Am Ende des Fragments verlassen die deutschen Soldaten ein kleines Dorf – vermutlich in der Region Saône-et-Loire – dass sie besetzt hatten, weil sie nach Russland abkommandiert wurden. Der Leser bewundert die Vorurteilslosigkeit der Autorin, die sich im Moment der Niederschrift doch der Lebensgefahr bewusst war, die von den Deutschen ausging. Der Offizier, der bei der Hauptprotagonistin einquartiert wird, ist ein korrekter, sympathischer Mann – erst recht, als er von der Frau zurückgewiesen worden ist.
In den Notizen zu diesem Kapitel erklärt Irène Némirovsky dazu: “ Hiermit schwöre ich, dass ich meinen Groll, so gerechtfertigt er sein mag, nie mehr auf eine Masse von Menschen übertragen werde, unabhängig von Rasse, Religion, Überzeugung, Vourteilen, Irrtümern. Ich bedaure diese armen Kinder. Individuen dagegen kann ich nicht verzeihen….“ Und an anderer Stelle der Notizen:
„Man will uns einreden, dass wir in einem kommunitären Zeitalter leben, in dem das Individuum untergehen muss, damit die Gesellschaft lebe, und wir wollen nicht sehen, dass die Gesellschaft untergeht, damit die Tyrannen leben.“
In manchen Filmen, bei manchen Romanen, bei mancher Musik weinen auch Männer vor Rührung. Das gschieht hier nicht, man heult gelegentlich aus Zorn und aus Trauer. Der Zorn entzündet sich an der Gnadenlosigkeit, mit der Diktatur, Krieg, aber auch Gleichgültigkeit der Anderen einzelne Menschen tyrannisieren; daran, dass es vielerorts heute wieder „Bewegungen“ gibt, die das billigend in Kauf nehmen wollen. Trauer entzündet sich an manchen der Romanschicksale – aber auch daran, dass man die Ermordung der Autorin, die solch herausragende Literatur zu schaffen vermochte, während der Lektüre nicht vergisst.
Noch ein Zitat aus den Nozizen, dass sich mit der Haltung der Franzosen 1942 beschäftigt, dass aber als Mahnung an heutige „Protestwähler“ bestens geeignet ist:
„1942 Die Franzosen waren der Republik überdrüssig wie einer alten Ehefrau. Die Diktatur war für sei ein Seitensprung, ein Ehebruch. Sie wollten ihre Frau zwar gern betrügen, nicht aber sie umbringen. Jetzt sehen sie, dass sie tot ist, ihre Republik, ihre Freiheit. Sie trauern um sie.“
Irène Némirovsky: Suite francaise. Deutsch von Eva Moldenhauer Albrecht Knaus, München 2004
Bildquelle: By unknown, this is a scan of a family photo – permissiuon by Denise Epstein, daughter of Irène Némirovsky, Public Domain,