Mario der billige Buhmann
Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank( EZB) ist seit Jahren der billige Buhmann deutscher Geldtheoretiker und Kolumnisten, die im Sandkasten ihrer neoliberalen Scheinwelt spielen. Selbst der von der Kanzlerin stets gehätschelte Bundesbankpräsident Jens Weidmann hatte in der Vergangenheit laut vernehmbar und dann mit leiseren Kritiktönen dabei geholfen, dass Draghi unter einem kräftigen Trommelfeuer am Pranger der deutschen Öffentlichkeit stand: Und dabei völlig zu Unrecht mit wohlfeiler Selbstgerechtigkeit zum Schrecken aller Sparer hochstilisiert wurde. Die ökonomische Inkompetenz und politische Scheinheiligkeit dieser Dauerkampagne ist nicht zu überbieten.
Seit dem 5. Juni ist die Hölle los
Doch als am 5. Juni das EZB-Direktorium einstimmig (!)
erstens den Leitzins nochmals auf 0,15% senkte,
zweitens diejenigen Banken, die ihr überschüssiges Geld bei der Zentralbank untätig parken, mit einem Strafzins von 0,1% belegte, und
drittens ankündigte, die lahme Kreditvergabe an die mittelständische Wirtschaft in den Krisenländern durch günstige Liquiditätsspritzen anzukurbeln,
ist in Deutschland in Politik und Wirtschaft ein Proteststurm ausgebrochen: Mario der „Leibhaftige“ hat wieder einmal zugeschlagen und die Hölle ist los. Draghi ist ganz einfach der Lieblingsdracula der Deutschen, der unseren bewundernswerten und vorbildlichen Stabilitätskurs in einem europäischen Umfeld mehrheitlich leichtfüßiger Schuldenmacher endgültig durchkreuzt hat.
Dabei ist die sachliche Begründung des EZB- Direktoriums einleuchtend schlicht, dass nach Auffassung aller Mitglieder in Europa eine gefährliche Deflation drohe und deshalb das immer noch schwächliche Wachstum gefördert werden müsse. Nach einer Wachstumssteigerung könnten dann auch die Zinsen wieder steigen.
Neoliberale Kampagne mit nationalistischem „spin“
Um wieviel einfacher macht es sich da schon argumentativ die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag, deren zumindest wortgewaltiger „Chefvolkswirt“, der Abgeordnete Michael Fuchs, Draghi und der EZB vorwirft, die Krisenländer dazu zu verleiten, sich noch weiter zu verschulden. Flankierend dazu skandierten die deutschen Sparkassen- und Volksbankenverbände mit Stentorstimme dramatisch die „Enteignung der Sparer“. Ursula Weidenfeld vom Tagesspiegel, die stets verlässlich auf den öffentlich-rechtlichen Fernsehpanels als publizistische Speerspitze des Neoliberalismus in Deutschland agiert, verstieg sich sogar zu dem Vorwurf, es handle sich um einen „finanzpolitischen Staatsstreich“ von Draghi: Die EZB habe praktisch Frankreich und den Ländern des Südens in Europa die Botschaft zugestellt, dass sie ihnen nicht zutraut, ihre Finanzen zu sanieren und ihre Wirtschaft auf Vordermann zu bringen und damit den Ländern des Nordens mitgeteilt, dass ihre Sparer und Bürger dafür die Rechnung dieses Staatsversagens zahlen müssten. Die EZB habe aber gar kein Mandat für ihre Beschlüsse, aber Draghi erkläre mitten im Streit um den Thron des EU-Kommissionschefs: „ L`état c`est moi“. Perfekter kann man die Staaten und Völker der Europäischen Union durch eine hemmungslos nationalistische Agitation nicht mehr gegeneinander aufwiegeln. Marine Le Pen kann sich über diesen nationalistischen „spin“ die Hände reiben.
Die wirtschafts-und finanzpolitische Realität
Doch die finanzwirtschaftlichen Fakten in Europa sehen anders aus:
– Wenn die EZB nicht schon zweimal blitzschnell in den letzten Jahren in Kreditkrisen mit jeweils einer Billion Euro die europäischen Banken mit günstigen Krediten versorgt hätte, wäre das europäische Finanzsystem mit all den schönen Sparkassen und Volksbanken schon längst zusammengebrochen: Der Interbanken- Kreditmarkt war in der Eurokrise zweimal völlig blockiert, keine Bank lieh der anderen noch Geld. Keine behäbige Gipfelkette der Regierungsspitzen hätte hier schnell genug interveniert.
– Wenn Mario Draghi nicht am 26. Juni 2012 in seiner Londoner Rede die volle Entschlossenheit der EZB signalisiert hätte, jeglicher Spekulation gegen den Euro mit allen notwendigen Mitteln entgegenzutreten, wäre ein globaler nochmaliger Finanzcrash schon längst eingetreten und die heute von der deutschen Bundesregierung im Europawahlkampf viel gelobte Stabilität des Euros nicht denkbar. Ohne Draghis „ Dicke Berta“ wäre der Euro heute Vergangenheit.
– Natürlich ist man bei Geldanlagen angesichts der extremen Niedrigzinsphase gezwungen, in andere Anlageformen als Sparbuch oder Festgeld auszuweichen.
– Entscheidend ist jedoch: Wir haben seit Jahren in der Eurozone nicht Wirtschaftswachstum, sondern ein „Kriechtum“ mit erschreckend hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenländern.
– Was hätte in dieser Situation der Sparer – auch in der deutschen Stabilitätsinsel – in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer oder Unternehmer davon, wenn die Konjunktur in der EU in Folge einer drohenden Deflation abschmiert und die südlichen Volkswirtschaften mit allen denkbaren politischen Folgen völlig zusammenbrechen. Genau dies wäre die Folge eines Ausscherens der EZB aus der internationalen Niedrigzins- Strategie von der US- Notenbank bis zur japanischen Notenbank.
– Gerade wir Deutschen haben in dieser Zinssituation am wenigsten zu klagen: Denn einerseits senken wir mit Minizinsen unsere staatliche Kreditaufnahme, andererseits kassieren wir noch dazu weit höher verzinsliche Rückzahlungen aus den Stützungsprogrammen für die Krisenländer. Und schließlich bauen und investieren wir gegenwärtig so günstig wie nie.
– Die immer wieder behauptete Inflationswirkung der EZB-Geldpolitik hat sich als Phantom erwiesen: Das Gegenteil ist der Fall.
Die EZB kauft nur Zeit für die Reparatur politischer Fehler
Natürlich wäre es viel besser, wenn die EZB nicht mit einer expansiven Geldpolitik gegen die jahrelange Wachstumsschwäche und Deflationsgefahr in der EU gegenhalten müsste. Wenn die politische Führung der EU und der Eurozone, die angeblich in den letzten Jahren vor allen Dingen bei Deutschland lag, wirklich wirksame Reformen des falsch konstruierten Eurosystems und konjunkturell belebende Strukturhilfen für die Wirtschaft der Südländer, wie zigmal auf einer endlosen Gipfelkette angekündigt, tatsächlich umgesetzt hätte, müssten heute die EZB und Mario Draghi längst nicht mehr geldpolitische Feuerwehr spielen. Draghi hat immer wieder betont, dass diese Funktion als „Ausputzer“ für versäumte Reformen für die säumige Politik nur „Zeit kaufen“ könne.
Karlspreis für Draghi
Mario Draghi hat immer betont, dass er Politik nicht ersetzen könne und wolle. Es ist höchste Zeit, dass die Politik den von der EZB geschaffenen Spielraum für die Reparatur der Fehler bei der Einführung des Euro wirklich überzeugend nutzt. Endlos funktioniert die Kompensation politischer Fehler durch die EZB nicht. Draghi ist die falsche Adresse für die Kritik der Folgen eines mangelhaft konstruierten Eurosystems. Das in Deutschland jahrelang intonierte und nach den jüngsten EZB-Beschlüssen anschwellende „Draghi-Bashing“ ist eine durchsichtige deutsche Lebenslüge. Draghi sollte vielmehr als Anerkennung für die kompetenten und entschlossenen Rettungsaktionen zur Erhaltung des Euros der Europäische Karlspreis in Aachen verliehen werden.