Auch wenn sich das Klima auf Erden inzwischen nachweislich verändert – auch, wenn es also regnet ohne Unterlass, die diversen Böen an Ästen, Fenstern, Dächern ziemlich unsanft rütteln, oder aber die glühende Hitze aus Afrika auch uns des Öfteren gnadenlos heimsucht, und inzwischen auch in unseren Breiten vorwiegend um einen Platz im Schatten gerangelt wird – Lesen geht! Noch immer. Lesen geht gut, auch in diesen Zeitläuften, in welchen ruhesuchender Rückzug gut bekömmlich ist, weg von allen elektronischen Zumutungen, der Hektik wenigstens ein bisschen mal trotzig den Rücken kehrend. Ein Buch, als Quelle von Trost, ein analoger Stoffwechsel mit mir, meinem Köpfchen und den Ideen, Bildern, Zweifeln, wunderbaren Formulierungskünsten, erhellenden Anregungen durch sprachbegabte ZeitgenossInnen, die sich ähnlicher Skepsis und unpragmatischer Sehnsucht aussetzen mögen, wie ich selbst.
1. „Die smarte Diktatur“
Harald Welzer ist wie kein anderer Wissenschaftler in der Lage, den fatal süßen Brei kaputt machender „Innovationen“ des globalen Kapitalismus in lakonische Sätze zu fassen, uns zu informieren über den unheimlichen Fortschritt digitaler Kontrolle, sowohl als pseudonaiver Konsument, der wegen ein paar lausiger Bonus-Punkte alle möglichen Daten auf ewig sich entlocken lässt – als auch als schon längst durch algorithmische Eigendynamiken überwachbarer Bürger.
Welzer zeigt genau auf, dass es kein Vertun gibt hinsichtlich elektronischer Angriffe auf unsere Freiheit, und das jede Menge von vermeintlich paranoider Science Fiction von der Wirklichkeit quasi sekündlich überholt wird. Insofern sollten wir jedoch nun nicht auch noch wegrutschen in formelhafte Verschwörungstheorien, denn damit machen es sich ja inzwischen leider jede Menge Leute sehr bequem, richten sich ein im jeweils eindimensionalen Feindbild, ja, und vermeiden das „Selbst Denken“, so der Titel des wunderbaren Vorgänger-Buchs von Harald Welzer. Besonders klasse angesichts der wirklich nicht beschönigbaren globalen Unrechts-Tatbestände ist sein sarkastischer Stil, der sich spürbar seiner Lust an Erkenntnis und Aufklärung verdankt, und wie Harald Welzer uns damit immer wieder auf die konkreten Möglichkeiten eines nach wie vor ANALOGEN Lebens quasi hinschubst, und unsere Widerstandskraft ermunternd aus fatalistischer Passivität aufwecken will.
Harald Welzer: Die smarte Diktatur.Der Angriff auf unsere Freiheit
S. Fischer Verlag, 320 Seiten, 18,99 €
2. „Keine Experimente“
Diesen Roman habe ich mit großem Vergnügen gelesen und viel gelacht!
Es geht um einen konservativen Bundestagsneuling, der sich viel zugute hält auf seine christlichen Werte, einer, der froh ist, aus beengenden und bedrückenden Zuständen seiner sauerländischen Kindheit und Jugend durch Strebsamkeit und einem überaus korrekten Verhaltensrepertoire entronnen zu sein. Ein genau deshalb besonders um innere und äußere Sauberkeit bemühter Mann, dessen Anpassungsleistungen zunächst mit geglückter Eheschließung, adretten Kindern, dem Häuschen in der Provinz belohnt werden. Tja, und dann – in der Metropole Berlin eine heftig ihn durcheinander bringende Begegnung mit einer jungen überaus sinnlichen Feministin…
Markus Feldenkirchen – eigentlich ein analytischer außenpolitischer SPIEGEL-Redakteur – kann auch belletristisch richtig gut schreiben, trostlose und hoffnungsfrohe Stimmungen entfalten, die widersprüchlichen Gefühlswelten von – „wie sollte ich sein“ und „wie steh ich jetzt da“ ausloten.
Es ist ein ernsthaftes Buch, und es hat gleichzeitig heiter erfrischende Loriot’sche Züge!
Markus Feldenkirchen : Keine Experimente
Verlag KEIN UND ABER 400 Seiten, 22,90 EUR
3. Resonanz
Diese umfangreiche philosophische Werk des Wissenschaftlers Hartmut Rosa habe ich zwar gerade erst zu lesen begonnen; zu studieren müsste man eher sagen, denn es ist dermaßen umfangreich mit seinen historischen Exkursen über das Misslingen und das Gelingen menschlicher Kommunikation in den unterschiedlichsten Herrschafts-Verhältnissen.
Es erscheint mir aber schon jetzt sehr lesenswert, da sich Rosa nicht mit den notorischen Antinomien der Verständigung zwischen Menschen aufhält, also – warum alles sooo schwierig ist. Nein, er bringt ziemlich innovativ den Begriff der RESONANZ ins Spiel, und erweitert das Spektrum von Begegnungen um eine haptische Dimension des gegenseitigen sich Wahrnehmens auch auf einer sehr leiblichen Ebene. Jeder Mensch hat ja das Bedürfnis, in seinen Kapazitäten erkannt und begriffen zu werden, so wie andererseits kein Mensch auf Erden verachtet werden möchte.
Mal sehen, wohin mich diese Lektüre weiterführt.
Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung
Suhrkamp Verlag , 816 Seiten,34,95 €
4. Und zu guter Letzt:
Ich war und bin ja ein Fan von John le Carré. Voller Spannung und noch mittendrin – lese ich seinen Krimi von 2004 „Absolute Freunde“. Klasse, auch weil der Roman aus der Perspektive des eher scheuen Sohns eines britischen Kolonialmajors die studentenbewegten Zustände im Westberlin der 68 er Jahre erzählt werden. Lauter Lug und Trug und eiskalte politische Intrigen und dazwischen Ideale von einer besseren solidarischen Welt und von schöner Liebe und Aufrichtigkeit. Ja, John le Carré scheint wohl kongenial übersetzt zu sein, denn seine atmosphärische Dichte und seine Sprachkraft ist für dieses Genre was ganz Besonderes!
John Le Carré: Absolute Freunde
List Verlag , 425 Seiten, 22,00 EUR