Sigmar Gabriel wirkt oft gelassen, ruhig, gut gelaunt, er ist eloquent. Aber der SPD-Chef und Bundeswirtschaftsminister kann auch anders. Wenn ihn jemand zu sehr ärgert, platzt ihm schon mal der Kragen. Gerade erst hat er Rechtsradikalen in Salzgitter den so genannten Stinkefinger gezeigt, den rechten Mittelfinger also, weil ihn die Neonazis derart angepöbelt hatten, dass es ihm zu viel war. Vor allem der Bezug der rechten Krawallos auf seinen Vater, einen Nazi bis zum letzten Atemzug, wie der Sohn selber öffentlich vor Zeiten eingestand, erregte ihn. „Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt“, grölten sie zu ihm rüber, „und was tust Du? Du zerstörst es“. Da zeigte er dem Demonstranten den berüchtigten Finger.
Ausgerechnet sein brauner Vater, der 2012 starb, und der, wie Sigmar Gabriel gerade noch auf einer SPD-Veranstaltung in Oberhausen bekannte, weder der Mutter, noch der Schwester noch ihm selber Unterhalt zahlte, um zu überleben, ausgerechnet der alte Nazi soll ein Vorbild sein? Unmöglich für den Sozialdemokraten Sigmar Gabriel, der um die Geschichte seiner Partei sehr wohl Bescheid weiß, der weiß, dass die Nazis die SPD seinerzeit verboten und nicht wenige ihrer Mitglieder in Konzentrationslager sperrten. Willy Brandt musste damals nach Norwegen fliehen, der erste SPD-Chef nach dem Krieg, Kurt Schumacher, litt Todesqualen im KZ, er wurde schwer gefoltert und überlebte diese Hölle.
Muss ein Politiker sich alles gefallen lassen?
Schon stellt ein Magazin die Frage, ob ein solcher Politiker, der seinen Gegnern, oder soll man in diesem Fall besser sagen, den Feinden der demokratischen Bundesrepublik den Stinkefinger zeigt, Kanzlerkandidat der SPD werden kann? Der Stinkefinger als No Go für einen erwachsenen Menschen? Warum eigentlich? Muss sich ein Parteivorsitzender und wahrscheinlicher Kanzlerkandidat der ältesten deutschen Partei alles gefallen lassen, sich anpöbeln lassen von Demonstranten der rechten Szene, die er früher auch schon mal als „Pack“ bezeichnet hat?
Der Vergleich mit Peer Steinbrück, dem letzten Merkel-Herausforderer der SPD, hinkt. Steinbrück hatte sich zu einer solchen Geste gegenüber den Magazin-Reportern der „Süddeutschen Zeitung“ hinreißen lassen, das war keine spontane Wut-Aktion, sondern eher Effekthascherei, die dem SPD-Politiker Steinbrück mehr geschadet als geholfen hat. Aber zu dem Zeitpunkt war der Kampf ums Kanzleramt schon aus anderen Gründen für ihn verloren.
Vogts warf Effenberg wegen des Stinkefingers raus
Berühmt-berüchtigt ist der Stinkefinger geworden durch einen anderen, lange zurückliegenden Fall im Sport: Es geht um den Fußballer Stefan Effenberg, der während der WM in den USA 1994 bei einem Spiel der deutschen Mannschaft gegen Südkorea vom Bundestrainer Berti Vogts ausgewechselt wurde, auch weil er nicht überzeugte und dazu noch gewohnt arrogant auftrat. Die deutschen Fans begleiteten Effenbergs Abgang mit Pfiffen und höhnischen Buh-Rufen, worauf Effenberg den Mittelfinger Richtung Zuschauer zeigte. Vogts warf den Mittelfeldspieler aus dem Nationalkader mit den Worten: „Solange ich für die Nationalmannschaft verantwortlich bin, wird Stefan Effenberg nicht mehr für Deutschland spielen.“ DFB-Präsident Egidius Braun unterstützte den Bundestrainer und empörte sich über „solche Obszönitäten“ des Fußballers. Franz Beckenbauer dagegen fand in der Bildzeitung: „Effe weg, ich finds falsch.“ Ein paar Jahre später durfte Effenberg wieder das Nationaltrikot überstreifen.
Zurück zum aktuellen Fall: „Volksverräter“, hatten die Neonazis in Salzgitter skandiert, Gabriel als „Kommunisten“ beschimpft, als „Kulturmarxisten“ angepöbelt, Rechte, die ihr Gesicht schwarz-rot-gold angemalt hatten, was wieder einmal bewies, dass sie keine Ahnung von der Geschichte und Bedeutung dieser Farben haben: Schwarz-Rot-Gold steht für Freiheit, gegen Pressezensur, das Hambacher Fest 1932 war ein erster Kampf für diese Grundfesten jeder Demokratie. Andere Demonstranten hatten ihr Gesicht hinter Masken versteckt. All das wird ihn nicht weiter aufgeregt haben, das kann einer wie Gabriel ab. Erst, als die rechte Meute ihm den Vater Walter vorhielt, den Nazi, der jahrelang vergeblich versucht hatte, seinen Sohn entsprechend braun zu beeinflussen. Pamphlete hatte der Vater auf einer Karteikarte im DIN-A-4-Format angefertigt und sie dem Sohn geschickt, der das einfach nur widerlich fand, wie der Nazi-Vater den Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis, leugnete und am Ende bis zum Tod die NS-Diktatur verherrlichte. Und dieser Sigmar Gabriel soll darüber nicht erbost sein, nicht den Finger zeigen dürfen?
Grünen-Chef auf Gabriels Seite
Grünen-Chef Cem Özdemir hat Verständnis für Gabriel. „Kann deine Reaktion gut verstehen“, schrieb er ihm. Sigmar Gabriel ist wie viele seiner Generation beim Thema Nazis zu recht sehr empfindlich und im Kampf gegen Rechtsradikalismus sehr engagiert. In seiner Heimatstadt Goslar organisiert er regelmäßig Gedenkveranstaltungen auf dem jüdischen Friedhof anlässlich der Pogromnacht am 9. November, er hat mehrfach die ehemaligen Konzentrationslager in Auschwitz und in Majdanek besucht, hat dort ehrenamtlich gearbeitet.
Die Frage ist ja auch immer, ob sich Politiker in hohen Positionen das alles gefallen lassen müssen? Schon der Kanzlerkandidat der Union, CSU-Chef Franz Josef Strauß wurde im Wahlkampf 1980 gegen Kanzler Helmut Schmidt mit Eiern beworfen. Der Bayer tobte. Die Organisatoren des Unions-Wahlkampfs verbreiterten den Ring um den jeweiligen Auftrittsort von Strauß mit der Folge, dass beim nächsten Mal die Eier auf dem Pflaster landeten.
Kohl ging 1991 auf einen Eierwerfer los
Nicht vergessen ist der Eier- und Tomatenwurf in Halle 1991 gegen den damaligen CDU-Chef und Bundeskanzler Helmut Kohl. Kohl, ein Riese von Gestalt, stürmte zornentbrannt auf den Werfer los und versuchte ihn, am Kragen zu packen, was ihm nicht ganz gelang. Sicherheitsbeamte gingen dazwischen, ein Maschendraht verhinderte Weiteres. Der Werfer war, wie sich herausstellte, ein Jungsozialist. Auch damals trat Kohl mit seiner handgreiflichen Geste eine Diskussion los: Darf ein Staatsmann das machen? Jedenfalls hat Kohl diese Reaktion nicht nachweislich geschadet, er fand im gegnerischen Lager, der SPD, sogar viel Verständnis. Johannes Rau, der für sein Motto „Versöhnen statt Spalten“ bekannt war, äußerte später dazu, auch er hätte in einem solchen Fall versucht, dem Mann eine zu langen, wenn er ihn denn zu fassen gekriegt hätte.
Ist Sigmar Gabriels Geste, die sicher nicht seine normale Art ist, im Alltag mit Gegnern zu kommunizieren, aber nicht nachvollziehbar, menschlich gerade vor dem Hintergrund der Neonazi-Pöbeleien und seiner eigenen Geschichte? Der Fraktionschef der NRW-SPD im Düsseldorfer Landtag, Norbert Römer, jedenfalls stellt sich hinter seinen Parteichef und betont gegenüber dem Blog-Der-Republik: „Vermummte Nazis brauchen deutliche Zeichen.“
Bildquelle: Wikipedia, Jindřich Nosek (NoJin) – Gesture, by Czech sculptor David Černý. October 21, 2013, Prague, CC BY 3.0