Der Kurs der EU wird zwar formell durch ein komplexes Wechselspiel der europäischen Institutionen legitimiert, informell wird jedoch heute die politische Grundrichtung des europäischen Prozesses durch die deutsche Bundeskanzlerin geprägt: Angela Merkel ist seit Jahren unbestritten die politisch dominante Figur Europas. Doch die inzwischen multiple Krise Europas hat schonungslos offengelegt, dass diese Dominanz den Spaltungs- und Erosionsprozess der EU massiv verstärkt.
Merkel im historischen Vergleich
Der nach „Forbes“ abermals mächtigsten Frau der Welt, die im Deutschen Bundestag keinen nennenswerten Widerstand mehr findet, droht daher in den Geschichtsbüchern – trotz ihrer aktuell hohen internationalen Reputation – gerade im Gegensatz zu ihren christdemokratischen Leitbildern Konrad Adenauer und Helmut Kohl wenig Fortune und Glanz. Denn nach dem 2. Weltkrieg war die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses jahrzehntelang ein ständiges Auf und Ab mit Fortschritten und herben Rückschlägen, die letzten Endes aber dann doch nach dramatischen Konflikten immer wieder zu einer höheren Integrationsstufe der Union führten.
Höhepunkt Lissabon-Vertrag
Höhe- und zugleich Scheitelpunkt dieser dialektischen Entwicklung war schließlich der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon, der unter entscheidender Mitwirkung der deutschen Bundeskanzlerin Europa demokratisch tragfähigere Strukturen und effizientere Instrumente geben sollte. Dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat, lag aber nicht an der neuen konstitutionellen Struktur der Europäischen Union, sondern am Verlust der bisherigen Machtbalance zwischen Frankreich und Deutschland sowie dem damit verbundenen konzeptionellen Politikwechsel.
Erfolgsrezept: Ebenbürtige deutsch-französischen Partnerschaft
Im Grunde genommen war das zentrale Erfolgsrezept des Europäischen Integrationsprozesses eine austarierte multipolare Macht- und Führungsstruktur, in deren Zentrum eine ebenbürtige französisch- deutsche Partnerschaft auch den Interessenausgleich für die kleineren Mitgliedstaaten durch ein komplexes „Do ut des“ organisierte. Diese Partnerschaft auf Augenhöhe zerbrach nach dem Abgang von Jaques Chirac als französischem Staatspräsident und der Wahl seines Nachfolgers Nikolas Sarkozy im Jahr 2007.
Gewichtsverlust Frankreichs in der EU
Das politische Zusammenspiel zwischen Paris und Berlin hatte dann aber auch gar nichts mehr gemein mit der anschliessend praktizierten Bussi- Inszenierung des Duos Sarkozy und Merkel. Denn die stets präzis präparierte und kühl kalkulierende Physikerin Merkel unterminierte das europapolitische Gewicht des sprunghaften Schwarmgeistes Sarkozy hinter der Maskerade demonstrativer Herzlichkeit innerhalb weniger Monate. Nikolas Sarkozy zog damals schon nach einem leichten Sperrfeuer aus Berlin seine von der strategischen Grundrichtung her durchaus richtige wirtschaftspolitische Initiative für eine „Europäische Wirtschaftsregierung“ harmoniesüchtig zurück und verspielte damit leichtfertig die jahrzehntelange Rolle Frankreichs als ernstzunehmender Partner Deutschlands in einer gemischten Wirtschaftsordnung, die das politische Primat einer sozialen Marktwirtschaft Europas sichern sollte. Durch diese fahrig zurückgezogene Initiative überließ er das Krisenmanagement der Eurozone völlig den neoliberalen Beratern Angela Merkels. Die offensichtliche politische Gewichtsverschiebung zwischen Paris und Berlin schwächte Sarkozy auch innenpolitisch so stark, dass er am Rockzipfel der Kanzlerin hängend sogar von einem anticharismatischen Francois Hollande bei der nächsten Präsidentschaftswahl geschlagen wurde.
„lame duck“ Hollande
Aber auch der Sozialist Francois Hollande konnte sein zentrales Wahlkampfversprechen im Präsidentenamt nicht einlösen. Die grimmige Entschlossenheit mit der er monatelang mit der Parole einer neuen Balance von Aufschwung und Haushaltsdisziplin Wahlkampf gemacht hatte, verflüchtigte sich in den offenen Armen der alle angekündigten Konflikte weglächelnden Bundeskanzlerin. An seiner politischen Zukunftslosigkeit als „lame duck“ wird daher auch sein engagiertes und würdiges Agieren in der französischen Terrorkrise nichts mehr ändern.
Merkels puritanische Heilserwartung
Die Folge dieser politischen Gewichtsverschiebung zwischen Paris und Berlin war eine jahrelange Dominanz des deutschen Austeritätskurses in der seit 2010 offen ausgebrochenen Finanzkrise in der Eurozone. Angela Merkel konnte auf einer endlosen europäischen Gipfelkette ihren neoliberalen Kurs ungehindert durchsetzen, der auch auf ihrer puritanischen Heilserwartung beruht, dass nur ein jahrelanger Prozess von Askese und Opfern die Krisenländer wieder zur ökonomischen und finanziellen Gesundung führen kann.
Die Spaltung der EU
Ergebnis dieser kontraproduktiven Rosskur Berlins war eine wirtschaftlich tief gespaltene EU, in der heute der Süden und Frankreich ökonomisch am Boden liegen: Nach einem sogenannten „kräftigen“ Zuwachs von 0,6 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2016 „brillierte“ die Eurozone im 2. Jahresquartal mit einem „sagenhaften“ BIP-Wachstum von 0,3 Prozent. Die Juncker-Investitionsoffensive ist dabei nicht mehr als ein Feigenblatt, mit dem gefördert wird, was ohnehin geschieht.
Bewunderter Alleingang in der Flüchtlingskrise
Dazu kommt die ungelöste Flüchtlingskrise. Man mag zu Angela Merkels Grenzöffnung im letzten Jahr stehen wie man will: Es war aber zweifelsohne ein europapolitischer Alleingang – wenn man einmal von der unglücklichen Adjudantenrolle des österreichischen Exkanzlers Werner Faymann absieht. Die deutsche Bundeskanzlerin hat dafür weltweit verständlicherweise Respekt, Bewunderung und Verehrung erworben. Das Folgemanagement dieser historischen Entscheidung bleibt heute aber in Deutschland und den anderen betroffenen europäischen Ländern vor Ort politischen Institutionen und ihren Repräsentanten überlassen, die als regionale Verantwortungsträger oder politische Pessimisten vor allem dann öffentlich in Erscheinung treten, wenn etwas gravierend schlecht funktioniert oder gar Schlimmes passiert.
Der Flüchtlingsdeal mit Erdogan als „Potemkinsches Dorf“
Dabei ist der wiederum im Alleingang von Merkel vorbereitete europäische Flüchtlingsdeal mit Recep Tayyip Erdogan, der gerade jetzt im dramatischen Nachgang zum Putschversuch in der Türkei medial breit analysiert und in Frage gestellt wird, doch nichts als ein großes „Potemkinsches Dorf“: Wenn heute weit weniger verzweifelte Flüchtlinge ihr Leben durch eine Fahrt auf den löchrigen Schlauchbooten der kriminellen Schleuser über die Ägäis riskieren, dann doch deshalb, weil sie wissen, dass die Balkanroute durch die Visegradstaaten hermetisch geschlossen wurde und sie deshalb nicht weiter als nach Griechenland kommen können.
Meisterstück politischer Doppelmoral
Die Attacke Merkels gegen die Visegradstaaten wegen der Schließung der Balkanroute war insofern ein Meisterstück politischer Doppelmoral, weil die Kanzlerin gleichzeitig den dadurch verursachten Rückgang der Flüchtlingszahlen als Erfolg ihrer Politik unterstrich. Diese Doppelmoral wird auch darin sichtbar, dass die quantitative Bedeutung des Flüchtlingsdeals von Angela Merkel mit der Türkei demgegenüber zumindest bisher gering ist. Deshalb ist es auch mehr als fragwürdig, wie heute die EU aus Rücksicht auf diesen Deal vor den autoritären Repressionen in der Türkei kuscht. Die schwächlichen verbalen Proteste und Noten sind ein erbärmliches Armutszeugnis der Wertegemeinschaft EU.
Brexit: Einstieg in den offenen Zerfall
Machen wir uns keine Illusionen: Auch der Brexit ist nicht nur eine der üblichen europäischen Krisen, die man durch einen innovativen Kompromiss ins Positive wenden könnte. Er ist nichts anderes als der brachiale Einstieg in einen offenen Zerfallsprozess der EU. Die Union verliert mit Großbritannien den historisch demokratisch stabilsten Partnerstaat, der zudem ökonomisch, diplomatisch und sicherheitspolitisch gesehen global unersetzbar ist. Unter Margret Thatcher hätten die Brexit- Befürworter niemals gewonnen. Dem wachsweichen Wendehals David Cameron haben die Briten einfach nicht zugetraut, dass er gegenüber einer dominanten Angela Merkel die britischen Interessen in der Doppelkrise der EU hinreichend schützen kann. Und noch schlimmer: Die nächsten Aspiranten schielen schon hoffnungsfroh auf das Beispiel Brexit. Denn die EU wird sich schon aus ökonomischem und politischem Selbsterhaltungstrieb nur einen sanften Ausstieg Großbritanniens leisten können.