Die Ausgangslage ist niederschmetternd. Nur noch 20% Zustimmung in Umfragen; interne Machtkämpfe; fehlende Botschaften. Das zweite Experiment als Juniorpartner in einer „großen“ Koalition droht ähnlich zu scheitern, wie das erste. Sigmar Gabriel auf den Spuren des Scheiterns seines Vorgängers Müntefering – und in eineinhalb Jahren ist Bundestagswahl. Wieder hat die SPD ihre Forderungen in der Koalition weitgehend durchgesetzt, wieder machen ihre Ministerinnen und Minister einen besseren, professionelleren Eindruck als die der anderen und wieder wenden sich die Wählerinnen und Wähler ab. Innere Zirkel schritten bereits zur Demontage des Vorsitzenden und lancierten andere Namen, die es besser machen können sollen.
Schlimmer als 2009 verlieren auch der Koalitionspartner CDU und selbst die CSU in Bayern dramatisch an Zustimmung und eine rechtsnationalistische Partei rückt mit ihren Wähleranteilen in die Nähe der großen alten Tante SPD; in Sachsen-Anhalt ist die AfD sogar an ihr vorbei gezogen.
Die Welt dreht sich – mittendrin die SPD in ratlosem Stillstand.
Dabei ruft die Lage nach linken Lösungen. Prekäre Arbeitsverhältnisse; nie dagewesene Ungleichheit beim Haben und beim Sagen, bei den Vermögen und bei der Bildung; Abstiegsängste bei den mittelständischen Leistungsträgern; Krisen der Europäischen Union und im Verhältnis zu Russland ist die äußere Stabilität bedroht, die innere leidet unter der Erosion des Parteiensystems.
Was also tun?
In Bonn traf sich die SPD an diesem Wochenende zu einer von vier sogenannten Programmkonferenzen. Deren Ergebnisse sollen zum Programm für die anstehende Bundestagswahl werden. Das Thema im Kongresszentrum „WCCB“ lautete „Arbeit“. Der Konferenzverlauf war klassisch: auf zwei programmatische Reden – Hannelore Kraft, Parteivorsitzende und Ministerpräsidentin in NRW und Siegmar Gabriel, der Bundesvorsitzende der SPD und Vizekanzler in Berlin – folgen vier Arbeitsgruppen (neudeutsch: Workshops) deren zentrale Erkenntnisse dem Plenum zur Schlussapotheose vorgestellt werden. Das konferenzergebnis ist erstaunlich. Es machte sich so etwas wie Selbstbewusstsein und Lust auf die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern breit.
Kraft will Bildung und Chancengleichheit
Die zuletzt vielkritisierte Hannelore Kraft steigerte sich nach müdem Auftakt („Ihr kennt mich“) zu einer engagierten Leistungsbilanz ihrer Landesregierung und bekannte sich zu einer Politik, die insbesondere in Sachen Bildung und Chancengleichheit langfristig angelegt ist. Der Parteivorsitzende musste zunächst den Austritt Großbritanniens aus der EU per Volksabstimmung kommentieren und skizzierte ein Europa, wie es aus dieser Krise herauskommen kann und soll. Sozialer, gerechter, demokratischer. Jetzt sei keine Zeit für institutionelle Selbsbeschäftigung (das Wort „Vertiefung“ kann er nicht mehr hören), sondern für eine Politik für Gerechtigkeit und gegen Arbeitslosigkeit, wie sie in vielen EU-Ländern herrscht. Wenn es den anderen in EU schlecht gehe, werde es auch uns bald schlecht gehen, wenn es den anderen gut gehe, werde es auch uns gut gehen, so das Motto für eine solidarische EU-Politik aus wohlverstandenem nationalem Eigeninteresse.
Um die Rechte der Arbeitnehmer kümmern
Dem eigentlichen Thema Arbeit widmete sich Gabriel danach rasch und ließ seine Zuhörer teilhaben an der Renaissance ursozialdemolkratischer Tugenden: Die Partei der Arbeit muss sich um die Rechte der Arbeitnehmer („und der kleinen Selbständigen“) kümmern; Globalisierung und Digitalisierung sind Chancen, die längst erfahrbaren Risiken für die Arbeitnehmer müssen abgebaut werden. Die wachsende Ungleichheit muss korrigiert werden; statt eines Steuersenkungswettbewerbs müssen Zukunftsinvestitionen her: in die weltweit beste digitale Infrastruktur und in einen Bund-Länder-Pakt für die besten Schulen.
Die SPD, so lautete die Wiederentdeckung einer alten Tugend, will wegen politischer Projekte gewählt werden, und zwar solchen, die seit eineinhalb Jahrhunderten zum Kern der Sozialdemokratie gehören: starke Arbeitnehmerrechte, soziale Sicherheit, Investitionen in eine gerechtere Zukunft, in Wohlstand und in Bildung.
Drei zentrale Projekte wünschte sich Gabriel, für die die SPD gewählt werden will. In keine Regierung werde man eintreten, mit der diese drei Projekte nicht umgesetzt werden könnten- „selbst wenn wir den Kanzler stellen.“
Bund-Länder-Pakt zur Schule
Die Bonner Konferenz ließ ahnen, um welche Projekte es sich handeln könnte: Ein Bund-Länder-Pakt zum Thema Schule, wobei sich der Bund um Gebäude, digitale Ausstattung und zusätzliches Personal – außer Lehrerinnen und Lehrer – kümmert. Mit Schulen in den sozialen Brennpunkten sollten man beginnen;
Die Bürgerversicherung und die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und
Wahlarbeitszeit, das heißt nicht nur flexible Arbeitszeiten, wie es sie längst gibt, sondern mehr Selbsbestimmung der Arbeitenden über ihre Arbeitszeiteinteilung. Dabei wird auch das mobile Arbeiten eine wichtige Rolle spielen.
Drei weitere Konferenzen zu den Themen Europa, Zusammenhalt und Familie werden noch folgen, bevor es Entscheidungen über die zentralen Gestaltungsprojekte der SPD für Deutschland im Jahre 2025 (Gabriel) gibt.
Kein Koalitionswahlkampf
Also: kein Koalitionswahlkampf, kein Kanzlerwahlkampf, keine Debatten über Machtperspektiven, sondern für Gestaltungsprojekte. Wer die will, müsse SPD wählen. Sagt die SPD. Das ist ein bemerkenswert klassischer Versuch, aus der Not der schlechten Umfragen, der Gefahr, dass durch viele Parteien keine klaren Koalitionsoptionen im nächsten Bundestag vorhersagbar sind, die Tugend eines politischen Wettstreits über Sachfragen zu machen.
Erstaunlich ist, wie lange eine an sich zweifelnde Partei gebraucht hat, um zu dieser klassischen Strategie zurück zu finden.
„Demokratie“, sagte Gabriel, „ist die Möglichkeit, Fehler gewaltfrei zu korrigieren“.
Bildquelle: Screenshot 26.06.2016 spd.de