Spätestens auf dem zweiten Blick wird sich die britische Volksabstimmung über den EU-Austritt als ein selbstzerstörerischer Akt entpuppen. Beispielsweise müsste nach heutigem Stand der Dinge die Grenze zwischen Iren und Nordiren als EU-Außengrenze geschlossen, befestigt und bewacht werden – wie vor dem nordirischen Friedensprozess. Iren und Schotten sind schon längst auf den Gedanken gekommen, vor den merkwürdigen Engländern in die Arme Europas zu flüchten – und werden es wohl bald versuchen. Zwar ist die Hoffnung der englischen Europafreunde, Nordiren, Schotten und Waliser würden England vor dem Brexit retten, fehl gegangen, aber immerhin sind in Schottland und Nordirland alle Wahlkreise an die Proeuropäer gefallen.
Arm gegen Reich und Alt gegen Jung
Es gab die vielen britischen Stimmbürger, die mit heißem Herzen für Europa gekämpft haben, ihre wichtigsten Verbündeten aber waren die City of London und die Konzerne; das große Geld also. Umfragen hatten angedeutet, dass aus den Klein-und Mittelbetrieben, von den Handwerkern und den Arbeitern in der „Provinz“ wenig Unterstützung für die EU kommen würde. Und so war es auch: der grobe Blick auf die Wahlkreisergebnisse scheint das zu bestätigen. Eine Art fehlgeleiteter Klassenkampf, der statt in die internationale Solidarität in den Nationalismus führte. Besonders erschreckend findet es der dieser Generationenspanne angehörige Autor, dass offenbar die über 50jährigen die Mehrheit für den Austritt ausgemacht haben. Vergangenheit verhindert Zukunft, könnte man resigniert sagen.
An diesem Ergebnis haben diese Generationen wohl auch auf besondere Weise mitgewirkt. Das begann schon mit der Beitritssgeschichte des UK, kommuniziert, als ob die Briten der EU einen Gefallen tun würden und für diese Nettigkeit eine Reihe von Sonderregelungen beanspruchen dürfen. Immer wieder verlangte und erlangte man Ausnahmetatbestände – zuletzt mit dem Argument, nur so das Referendum gewinnen zu können.
Cameron hat es verzockt
Auf die Idee, dass die EU eine Erfindung zum Nutzen der Mitgliedsstaaten ist, kam man auf der Insel nie. Der Bis-Oktober-Prime Minister Cameron hat vor diesem Hintergrund Europa aus innenpolitischen Motiven verzockt. Gut: hätten die Pro-Europäer gewonnen, hätte er als großer Einiger des Landes und seiner Versöhnung mit dem „isolated continent“gelten können. Es ist anders gekommen.
Sehr weit weg von führenden Politikern anderer europäischer Staaten ist Cameron jedoch nicht. Viele haben unpopuläre Entscheidungen, die sie mit getroffen haben, gern auf die EU geschoben, für unabänderlich erklärt und auf diese Weise das Ohnmachtsgefühl mancher Wahlbürger erst geschaffen, das sie nun lauthals beklagen.
Wo ist die Perversion des Politischen entstanden, bei der sich nahezu Alles dem Wettbewerbsrecht zu unterwerfen hatte und öffentliche Güter nur noch nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erbracht werden durften? Wo ist dieses Wettbewerbsrecht entstanden? Waren die Regierungen der Mitgliedstaaten daran unbeteiligt? Und wo kam das nicht selten weltfremde, jung-dynamische EU-Personal her, das außer BWL und Fremdsprachen zu büffeln noch wenig Lebenserfahrung hatte? Hat sich die Kommission in Brüssel die alle selbst „gebacken“ oder kommen sie – zum Teil delegiert und von Kommissaren mitgebracht – aus den Mitgliedstaaten?
Geplatzte Illusionen
Eine sympathische pro-EU Werbung in Großbritannien handelte die europäische Geschichte so ab: „Krieg, Krieg, Krieg, Krieg, Krieg, Gezänk über Bananan – ich bevorzuge Gezänk über Bananen“. Ein Video stellte darauf ab, dass „Europa“ Demokratie und die Menschenrechte verwirklicht und schützt. Beides hat offenbar trotz der Hinweise, dass beides den Europäern ursprünglich von der Insel gebracht worden sei, nicht überzeugt. Mich übrigens auch nicht: Was hat Europa Ernsthaftes und Wirksames gegen die Grundrechtsverletzungen in Ungarn und jetzt in Polen unternommen? Menschenrechtspolitik sieht anders aus.
Und wer war noch einmal der Friedensengel, der die Ukraine vor die Alternative stellte: EU oder Russland? Ein Kommissionspräsident. Weil die europäischen Akteure in NATO und EU dieselben sind, kann man auch fragen, ob jemand in der EU (außer Deutschland in dem Fall) ernsthafte Bedenken geltend gemacht hat, die Ukraine (damals mitsamt der Krim und dem russischen Marinestützpunkt daselbst) in die NATO aufzunehmen? Friedenspolitik sieht anders aus!
(ceterum censeo: natürlich streitet niemand – und schon gar nicht hier im blog – die Verantwortung Putins für den weiteren negativen Verlauf der innerrussischen wie der zwischenstaatlichen Ereignisse und Beziehungen ab…).
Vom Volk gewählter Kommissionspräsident
Und Demokratie? Eifersüchtigts versuchen die nationalen Regierungen das Europaparlament aus allen wichtigen Fragen heraus zu halten. Einem Coup zweier Einzeltäter namens Martin Schulz und Jean-Claude Juncker ist es zu verdanken, dass man bei den letzten Europawahlen erstmals seit über 40 Jahren das Gefühl hatte, die Europawahl sei zu irgendetwas nützlich: die Konservativen und Neoliberalen in den Nationalstaaten mussten Juncker als „vom Volk gewählten“ Kommissionspräsidenten bestätigen – was sie auf keinen Fall freiwillig getan hätten! In Deutschland hatte die CDU sogar versucht, den Spitzenkandidaten ihrer eigenen Gruppierung, der EVP, Juncker, im Wahlkampf hinter einem Niedersachsen zu verstecken, von dem man nie wieder etwas gehört hat. Und nach der vertraglichen Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU haben es die als „Europäischer Rat“ bezeichneten nationalen Regierungschefs untereinander rasch wieder eingeführt. Und gibt es endlich mal eine Mehrheitsentscheidung – wie die faire Verteilung von nur 160.000 der in Europa angekommenen Geflüchteten auf die EU-Mitgliedsländer- wird sie einfach nicht befolgt und nicht durchgesetzt. Europäisches Mikado.
Briten werden ihr Nein noch bereuen
Eine Lehre der britischen Volksabstimmung ist, dass die Friedenssicherung, das Gründungsmotiv der europäischen Einigung, zur Legitimierung der EU nicht mehr ausreicht. Eigentlich jedoch hat man das schon lange gewusst. Auf die Idee, eine überzeugende neue Legitimationsgeschichte zu erzählen, ist aber noch niemand gekommen. Statistiken über Handelsbilanzen, Warenströme, Agrarsubventionen, Wachstum und wirtschaftlicher Nutzen können als Legitimierungsersatz nicht funktionieren. Denn leider, leider haben sie mit der Lebenswirklichkeit der meisten Europäer überhaupt nichts zu tun. Die Briten werden ihre Entscheidung noch bereuen, spätestens wenn die Londoner Börse nicht mehr so wichtig ist und die Finanzindustrie nicht mehr so viel Profit in England erzeugt, sondern dies in Paris oder Frankfurt macht. Allerspätestens, wenn das United Kingdom zerfällt, weil Schotten und Nordiren so einfach austreten, wie jetzt alle zusammen aus der EU ausgetreten sind.
Mit ökonomischen Daten schafft man keine Identitäten, wenn den Erfolgsstatistiken Wandlungsprozesse gegenüber stehen, die Bauern, Fischer und Industriearbeiter in großem Umfang zu Verlierern machen: Höfe verfallen, ganze Industrien sterben ab, vielerorts bricht die Infrastruktur zusammen, die Wege zum nächsten Krankenhaus, zum Arzt, zum Lebensmitteleinkauf, selbst zum nächsten Pub sind kilometerweit, zum Profit verpflichteter Nahverkehr versorgt dünner besiedelte Gegenden kaum noch. Kurz gesagt: die abstrakten Erfolgsdaten werden alltäglich von konkreten Niedergangserfahrungen dementiert. Das konkrete Sein aber bestimmt das Bewußtsein, nicht papierene Zahlenreihen. Die Ungleichheit erleben die Menschen nicht als bloße Statistik. Sie ist inzwischen unübersehbar und greifbar geworden. Eine politische Antwort darauf , gar eine europäische steht noch immer aus.
EU dient als Sündenbock
Die EU dient bei solchen Beispielen als Sündenbock, verantwortlich ist sie für viele dieser Modernisierungsverluste nicht. Sie war kein Verhandlungspartner des „Washington-Konsensus“, der die Welt den Märkten und Finanzspekulanten ausgeliefert hat. Während aber diese Entscheidungen von „anonymen Mächten“ getroffen wurden, ist Brüssel eine konkrete, bekannte Adresse. Hat jemand in den europäischen Institutionen über diese Diskrepanz nachgedacht? Man hat lieber infolge von „Washington“ die Selbstentmachtung der Politik voran getrieben. So ignoriert die EU die Sorgen der Globalisierungsopfer – das aber sind die Mehrheit der EU-Bürger – jedenfalls in ihrer Selbstwahrnehmung. Umfragen in den wichtigsten EU-Ländern zeigen, dass dort die Austrittsoption ebenfalls bereits mehrheitsfähig ist. In Frankreich wird sie von eindeutig über-, in Deutschland nicht weit unterhalb von 50% der Befragten befürwortet.
Die Drohung mit den Nachteilen, die uns eine auseinanderbrechende Union oder ein jeweils nationaler Ausstieg einbringen würde, hat denselben Abstraktionsgrad wie die erwähnten Erfolgsstatistiken. Das jeder Deutsche einen persönlichen Verlust in Höhe des aktuellen Preises für einen VW Polo erleiden wird, wenn die Briten draußen sind, ist ausgemachter statistischer Blödsinn. Im wirklichen Leben muss man die Summe ja besitzen, um sie verlieren zu können. Und das trifft längst nicht jeden. Eine andere Drohung betrifft die Arbeitsplätze, die verloren gehen, wenn Großbritannien nicht mehr unser deutscher drittwichtigster Handelspartner wäre. Ich zweifle nicht, dass der Umsatz sinkt, wenn es zwischen dem UK und der EU Zölle gibt, die alles verteuern. Dramatisch einbrechen würde der Umsatz aber nur, wenn die Engländer die deutschen Produkte gar nicht benötigten, sondern nur importierten, weil sie zollfrei sind. Das ist natürlich dummes Zeug. Wenn nun aber die angedrohten volkswirtschaftlichen Katastrophen ausbleiben und der Handel nicht gar auf Null fällt, lenkte es Wasser auf die Mühlen der nationalistischen EU-Gegner.
Widersprechen also die Erfolgsstatitiken schon der Lebenswirklichkeit zahlloser EU-Bürger, und entpuppen sich die volkswirtschaftlichen. Horrorszenarien auch als leere Drohungen, wird die Argumentationskraft von uns Europäern immer dünner.
Regional versus global
Die Werbeindustrie hat sich den Zusammenhang offenbar längst überlegt. Der gar nicht so neue Kult ums Regionale ist ja nicht vom Himmel gefallen. Das war noch bei keiner Werbestrategie der Fall. Je uniformer die dingliche Umwelt wird, je wichtiger werden die kleinen Unterscheidungsmerkmale. Der moderne Städter mit Abitur denkt selbstredend auch an seinen ökologischen Fußabdruck, den er mit einem regionalen Produkt in Grenzen zu halten glaubt – auch wenn es nicht „bio“ ist. Aber evident ist auch, dass es zwischen dem Kult ums regionale Produkt, dem schwarzrotgelben Fähnchen bei der Fußball-WM/EM, der aktuellen Rückbesinnung auf traditionelle Kochrezepte, wieder belebter Brauchtumspflege, und dem Weltkultur- Weltnatur- etc-Erbe-Hype ein Zusammenhang besteht: sie sind sämtlich interpretierbar als Absetzbewegung von industriell normierter Gleichförmigkeit und intransparenter Globalisierung. Die ehemalige Vielfalt auch der industriellen, der architektonischen Formensprache, der gesprochenen Sprachen und Dialekte, der landwirtschaftlichen Produkte ist einer langweiligen Einförmigkeit gewichen, was offenbar insbesondere von den Älteren als Verlust empfunden wird. Es ist geradezu logisch, dass der Macht der anonymen Märkte zum Ausgleich die Rückbesinnung auf das Greifbare, das Regionale, das Traditionelle entgegen gesetzt wird. Der Schritt zur Radikalisierung allerdings ist dann nicht mehr sehr groß: Nationalisten, Rassisten und sonstigen EU-Gegenern fallen die Anhänger ohne große Mühewaltung in den Schoß.
Der Brexit kann also Europa insgesamt ins Auge gehen. Die Beschwörungen, es handele sich nicht um das Ende der EU, müssen erhebliche Anstrengungen nach sich ziehen, um sich bewahrheiten zu können. Das Ende der EU markiert der Brexit nicht, aber es ist – angesichts des überall vorbereiteten Terrains – der Anfang vom Ende, wenn nicht schnell eine nicht nur symbolische Neugründung erfolgt.
Elemente des Umsteuerns
Erstens muss deutlich gemacht werden, was die EU im Alltag der Menschen bedeutet. Der Wegfall der Grenzen ist für mich so ein Riesenvorteil. Aber das Argument taugt wenig für die überwältigende Mehrheit der Deutschen, Franzosen und Briten, die Urlaubsreisen – wenn überhaupt – dann nur im eigenen Land machen.
Was also wäre eine europäische Gerechtigkeitspolitik?
Was wäre eine europäische Freiheitspolitik?
Was wäre eine europäische Arbeitsmarktpolitik?
Was kann Europa seinen Bewohnern versprechen – und welche Versprechen kann es auch halten?
Es fehlen klare Regeln
Wie sieht ein Subsidiaritätsprinzip aus, das seinen Namen verdient? Das Prinzip, dass nur solche Probleme europäisch geregelt werden, die das zwingend erforderlich machen, alles andere aber den Staaten und Regionen überlassen bleibt, führen viele Verantwortliche sonntags im Munde. Man muss sich nur den Aufwand beschreiben lassen, den nationale Parlamente betreiben müssen, um EU-Regeln als subsidiaritätswidrig aufhalten zu können, um zu wissen, wie wenig Taten werktags daraus folgen. Im Bundestag ist eine komplette Unterabteilung zu diesem Zweck neu geschaffen worden, weil anders die Beobachtung der Regelungsmaschine nicht möglich ist. Am Ende gibt es keine klaren Regeln, was unabdingbar für alle und was in den Regionen unterschiedlich zu regeln ist. Diese Unterscheidung ist bereits eine politische. Die Fristen, innerhalb derer die nationalen Parlamente diese politische Definition geltend machen können, sind aber so knapp, dass es des Aufwandes, den der Bundestag da betreibt, durchaus bedarf. Man könnte auch sagen: die Absicht der Regierungen, die nationalen Parlamente und das Subsidiaritätsprinzip möglichst an der kurzen Leine zu halten, ist offensichtlich – und offensichtlich ein Fehler. Wann wird die verrückte Politik umgedreht, die glaubt, durch Einsparungen Wachstum erzeugen zu können und die Hilfsgelder aus Steuermitteln generiert, die fast komplett in privaten Händen landen?
Das sind einige Ansätze für eine Umkehr und einen Neustart europäischer Politik. Wie ein Elefant im Porzellanladen würden allerdings jetzt rasche, weitere Integrationsschritte wirken- davor sei gewarnt, so sinnvoll sie hier und da erscheinen mögen.
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