Er war beliebt wie kaum ein anderer in Brandenburg, weil er den Kontakt zu den Brandenburgern stets suchte. Ja, der Manfred Stolpe war bodenständig, ein Mann, der seinen Dienst in der DDR leistete als Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche und sich darum kümmerte, dass diese Kirche überleben konnte. Seine Kritiker, auch einige aus der SPD, der er seit 1990 angehörte, haben ihm vorgeworfen, zu eng mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben. Er hat die Zusammenarbeit mit der Stasi als erster öffentlich gemacht, hat aber betont, nie wissentliche jemand durch seine Stasi-Kontakte geschadet zu haben.
Schämte sich seines Lebens in der DDR nicht
Eine Karriere zwischen Kirche und Stasi, ein Leben in der Diktatur, das Stolpe immer ein wenig anders ausgelegt hat. „Leute, Ihr müsst nicht so tun, als ob ihr alle erst am 3. Oktober 1990 geboren wurdet. Ihr könnt zu dem stehen, was ihr in der DDR unter schwierigen Bedingungen geleistet habt, wie ihr gelebt, gearbeitet, Familien gegründet habt.“(Berliner „Tagesspiegel“) Vielleicht ist dies die Erklärung für seine große Popularität in diesem kleinen Brandenburg, wo die Menschen ihn bei einer Landtagswahl 1994 mit überragenden 54 Prozent der Stimmen zum Ministerpräsidenten wählten. Und das in einer Zeit, da eine ganze Reihe von Medien, an der Spitze der „Spiegel“, Stolpe wegen seiner Stasi-Zusammenarbeit attackierten und ihm im Grunde eine Art Verrat am Volk vorhielten. Die Menschen liebten ihren Landesvater, weil er einer der ihren war, der sein Leben in der DDR nicht leugnete. Wie auch? Ich habe das später in Berlin erlebt, als ich Ostberliner kennenlernte, die sich ihres Lebens und ihrer Lebensleistung in der DDR nicht schämen wollten. Motto: Wir haben doch auch was geleistet, nicht weniger als ihr im Westen.
Eine Einstellung, die man noch heute gelegentlich antrifft. Und richtig ist. Dass wir im Westen aufwuchsen, auf der anderen Seite der Mauer leben durften, war doch reiner Zufall, keine Leistung.
Das Leben in der DDR hatte unschöne Seiten, aber es hatte auch viele andere, auch dies und gerade dies hat Stolpe immer wieder betont. Die Schreckensbilder über die Zustände in der DDR seien vor allem im Westen bekannt gewesen, der Überwachungsstaat DDR, die Mauer mit den Toten, das Gefängnis DDR, das seine Bürger vom Reisen in ferne, nichtsozialistische Länder abhielt, aber es gab auch ein normales Leben, Familien, Freundschaften, Zuverlässigkeitserfahrungen, es gab nicht nur das Bild vom DDR-Stasi-Knast.
Verdienstmedaille in der DDR
Als Manfred Stolpe im Kabinett des Kanzlers Gerhard Schröder(SPD) Bundesverkehrsminister und damit zuständig auch für den Aufbau Ost wurde, kommentierte dies einer der SPD-Mitbegründer in der ehemaligen DDR, Stephan Hilsberg, mit den Worten: „Damit sitzt zum ersten Mal die „Firma“- so nannte man die Stasi- mit am Kabinettstisch der Bundesrepublik.“ Der CDU-Politiker Uwe Lehmann-Braun erstritt ein BGH-Urteil, wonach Stolpe als langjähriger Stasi-Mitarbeiter bezeichnet werden dürfe. Die so genannte Birthler-Behörde legte ein 1200-Seiten umfassendes Dossier zu Stolpes Vergangenheit vor. Joachim Gauck, der heutige Bundespräsident, verlor einen Rechtsstreit und durfte nicht länger behaupten, Stolpe sei ein wichtiger inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen. Ein kirchliches Gutachten kam zu dem Ergebnis, Stolpe habe den Auftrag der Kirche klar überzogen und nicht mal seinen Bischof Forck darüber in Kenntnis gesetzt, letzteres hat Stolpe zugegeben und hinzugefügt, er habe selbst seiner Frau nicht alle Winkelzüge erzählt, um niemanden zu gefährden. Umstritten seine Äußerungen zur Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz oder der Fall des ARD-Korrespondenten Lothar Loewe, der aus Ostberlin ausgewiesen wurde. Stolpe, auch dies wurde ihm vorgehalten, erhielt „für große Verdienste und hohe persönliche Einsatzbereitschaft… zur Sicherung unseres sozialistischen Vaterlands vor feindlichen Angriffen.. die DDR-Verdienstmedaille.“(Oktober 1978) Ausgehändigt wurde ihm die Medaille in einer konspirativen Wohnung der Stasi.
Stolpe hat die Kontakte mit der Stasi nie geleugnet, aber er hat sie immer im Sinne der Kirche und der Menschen, die für die Kirche arbeiteten, ausgelegt. „Es ist unerlässlich gewesen, mit der MfS zu reden, wenn man etwas erreichen wollte.“ Der frühere NRW-Innenminister Herbert Schnoor(SPD) hat diese Tätigkeit seines Freundes Stolpe so kommentiert: „Stolpe hat zu DDR-Zeiten die Drecksarbeit gemacht und alle Kirchenleute waren froh, dass er ihnen das abgenommen hat.“
Einflussreiche Freunde in der SPD
In der Bundesrepublik hatte Manfred Stolpe viele einflussreiche Freunde in der SPD, darunter Johannes Rau, der NRW-Ministerpräsident, der mit ihm befreundet war und der mit Brandenburg eine Partnerschaft knüpfte, um dem Land nach der Wende zu helfen. Auch Helmut Schmidt zählte zu Stolpes Freunden. Der Altkanzler nahm ihn vor wenigen Jahren noch einmal in Schutz gegen Vorwürfe, Stolpe habe die Kirche der SED ausgeliefert. Als Stolpe 2012 den Europäischen Kulturpreis für Politik erhielt, war es der Hamburger Schmidt, der die Laudatio auf den Brandenburger hielt. Schmidt erinnerte nicht ohne einen Anfluch von Zorn(so der Berliner „Tagesspiegel“ in einer Würdigung zu Stolpes 80. Geburtstag) an die Zeit um 1981 und eine Begegnung mit Stolpe und anderen Repräsentanten der Evangelischen Kirche in der DDR. Es war die Zeit, als die sozialistischen Brüder im Warschauer Pakt darüber nachdachten, die polnische Freiheitsbewegung unter Führung der Solidarnisc-Gewerkschaft in ihrem Kern zu ersticken, ja sie zusammenzuknüppeln. Er, Schmidt, habe Stolpe gebeten, die DDR-Führung eindringlich zu bitten, es dürften keine deutschen Soldaten an einer möglichen Intervention in Polen teilnehmen. Und natürlich habe er erwartet, dass Stolpe diese Gespräch der Stasi und wem auch immer in der SED-Führung mitteile. Alles andere sei doch weltfremd gewesen, schildert der „Tagesspiegel“ aus der bewegenden Laudatio des Altkanzlers, der die Verdächtigungen gegen Stolpe ein „Ekel erregendes Ärgernis“ genannt habe.
Es war keine leichte Zeit für Stolpe und all die anderen, die in der DDR gelebt hatten und plötzlich in die politische Gegenwart des Westens geworfen wurden, von heute auf morgen. Sie alle hatten irgendeine Vergangenheit, oft im Zusammenhang mit der evangelischen Kirche. Einige politische Karrieren gingen daran zu Bruch, man denke an den Anwalt Schnur, oder an Ibrahim Böhme. Oder an das Beispiel des CDU-Politikers Lothar de Maiziere, der auch Verdächtigungen wegen Kontakten zur Stasi ausgesetzt war. Mir ist noch in guter Erinnerung, als die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth(CDU) ihren Parteifreund de Maiziere in Schutz nahm, in dem sie seinen Fall mit dem von Stolpe verglich: Wenn Lothar de Maiziere die gleiche Unterstützung durch die CDU erfahren hätte, wie sie Stolpe durch die SPD-Führung erhielt, wäre er im Amt geblieben.
Von Pommern nach Potsdam
Von „Pommern nach Potsdam“ heißt ein Buch über den Werdegang Stolpes, der 1936 in Stettin geboren wurde, Jura studierte und dann ein Referendariat bei der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg absolvierte. Er blieb in den Diensten dieser Kirche, bis er von Johannes Rau auf die politische Laufbahn gezogen wurde, mit der Begründung: Du musst kandidieren, dich kennen die Brandenburger. Wer je Stolpe in „seinem“ Brandenburg, der „sozialistischen Wärmestube“, der „kleinen DDR“ begleitet hat, konnte diese Nähe erleben, die auch mit seiner früheren Haltung in der DDR zu tun hatte, damit, dass er stets darauf aus gewesen war, Zuspitzungen mit der SED zu vermeiden, nicht weil er sie besonders mochte, sondern weil er die Macht der Panzer am 17. Juni 1953 noch in schlechter Erinnerung hatte. Das war eine, vielleicht die Schlüsselerfahrung Stolpes.
Der Mann, der vor Jahren an Krebs erkrankte, eine Krankheit, die auch seine Frau Ingrid traf, mit der seit weit über 50 Jahren verheiratet ist, nahm sich nie so wichtig. Er lachte gern, auch über Geschichten über sich, selbst wenn sie seine Rolle schmälerten. Zu ihm seien etliche Leute gekommen und hätten gesagt: „Schön, dass Sie bei uns sind, Herr Biedenkopf“. (Interview mit der taz) So war er, der Brandenburger, der nie gern im Rampenlicht stand und der heute den Eindruck erweckt, als sei er mit sich im Reinen. Trotz allem.
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