Was gibt es nicht alles an Klischees über den meistgelesenen Seelenarzt der Welt:
Der Ödipuskomplex, die Hysterie, die Traumdeutung, die Projektion, die Psychopathologie des Alltagslebens. Lauter Vokabeln, umwoben mit allerhand Skepsis von strengen Naturwissenschaftlern, und jeder Menge spöttischer Laien, die es sowieso überflüssig und blödsinnig finden wollen, sich in die Niederungen unserer seelischen Nöte und ins Verdrängte unserer Kindheitsängste zu begeben. Da jedoch hat Sigmund Freud, der Gründer der „Psychoanalyse“ seinen außerordentlichen historischen Stellenwert. Ihm ging es vor allem darum, das Individuum zu stärken, das Einzigartige eines jeden Menschen zu begreifen, ihm Gehör zu verschaffen.
Am 6. Mai 1856, heute vor 160 Jahren, wurde er als Kind jüdischer Eltern in Mähren geboren, lebte und praktizierte als medizinischer Psychotherapeut bis 1938 in Wien, musste vor den Nazis nach London fliehen, wo er 1939 starb. Was bedeutet sein Menschenbild, sein Behandlungskonzept, sein wissenschaftliches Werk für uns heute noch?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschten in der Erziehung und in der Medizin die Prinzipien von Gehorsam, Strenge und Unterordnung das Bild einer autoritätsgläubigen „schwarzen Pädagogik“. In dieses Klima von Angst und Unterdrückung kam Freuds Anspruch, den verstörten Menschen in einer „Redekur“ einfach zuzuhören, sie zu gar nichts zu zwingen, sie vielmehr mit gleichschwebender Aufmerksamkeit auch die Ungereimtheiten ihres Daseins, auch ihre widersprüchliche Hassliebe zu den Eltern, endlich a u s s p r e c h e n zu lassen, einer revolutionären Erleichterung gleich. Damals wurden zwar noch vorrangig Patienten aus dem wohlhabenden Bürgertum behandelt. Erst nach und nach konnte sich die ausführliche Methode der Psychoanalyse auch auf die weniger begünstigten Schichten ausdehnen, zumal die Krankenkassen inzwischen begreifen, dass die Seelenkunde unbedingt in den Katalog zur Gesunderhaltung der Bevölkerung gehört, zumal es auch gute Gruppentherapien gibt, die sich an Sigmund Freud orientieren und die Eigenverantwortlichkeit auch hier befördern können.
Denn es geht vielen Menschen aus äußeren und inneren Gründen des öfteren ziemlich schlecht. Sie sind unsicher, fühlen sich minderwertig, schämen sich, sind einsam und tieftraurig. Manchmal scheint es, als gebe es keinen Ausweg, als sei die Angst unerklärlich, die Depression aber doch bitte mit Hilfe der Pharmaindustrie gefälligst ruckzuck in den Griff zu kriegen. Nicht wenige greifen zu Alkohol und anderen gefährlichen Drogen. Überall die schrill bunte Botschaft: Leistung, gut drauf sein, Erfolg, Tempo! Da droht der Einzelne, der sich überfordert fühlt, und nicht mehr mithalten kann, unterzugehen.
Sigmund Freud ging als unbequemer Gesellschaftskritiker davon aus, dass den traumatisch gewaltsamen Verbiegungen in der Kindheit nicht mit bloßer Verhaltenstechnik begegnet werden darf. Vielmehr ließ er sich Zeit, dem Patienten auf der Couch mit Respekt für dessen Persönlichkeit einen Spielraum zu gewähren, sein Unglück und seinen Eigensinn ernst zu nehmen. Freuds Neurosenlehre von den drei Instanzen „Es“, „Ich“ und „Überich“ beschreibt die permanente Spannung, die das „Verdrängen“ von Konflikten ins „Unbewusste“ notwendig macht, um zu überleben. Insofern verstand der Begründer der Psychoanalyse seine humanistische Therapie als archäologische Arbeit, die versteckten Urängste mit dem inzwischen Erwachsenen zusammen behutsam zu deuten und so auch die ursprünglich kreativen Kräfte des verunsicherten Kindes wieder freizulegen und für sich selbständig verfügbar zu machen.
Sehr aktuell dürften jedoch auch die wesentlichen Erkenntnisse Freuds zu sämtlichen monotheistischen Religionen diskutiert werden:
„Die Religiosität führt sich biologisch auf die langanhaltende Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des kleinen Menschenkindes zurück, welches, wenn es später seine wirkliche Verlassenheit und Schwäche gegen die großen Mächte des Lebens erkannt hat, seine Lage ähnlich wie in der Kindheit empfindet und deren Trostlosigkeit durch die regressive Erneuerung der infantilen Schutzmächte zu verleugnen versucht.“
Zahlreiche Bücher über Sigmund Freud zeigen, dass die Faszination durch sein Werk weiter existiert, die Frage nach dem Wohl und Wehe menschlichen Seelenlebens trotz oder wegen des zunehmenden Tempowahns von vitaler Bedeutung bleibt.
Hier eine Auswahl:
FREUD. Das Lesebuch.
Texte aus vier Jahrzehnten
Fischer (S.), Frankfurt, 12.00 €
Diese von Cordelia Schmidt-Hellerau herausgegebene Anthologie versammelt schön übersichtlich kommentiert die wichtigsten Originaltexte Sigmund Freuds. Sie sind chronologisch sortiert, die Entwicklung vom jungen noch stark medizinisch orientierten Wissenschaftler, über seine Erfahrungen mit der Hypnose – Technik, Fallbeispiele aus der „Traumdeutung“, der „Psychopathologie des Alltagslebens“, seine „Sexualtheorien“, über den „Zwangscharakter“, bis zu seinen Reflexionen über die „Melancholie“ und seinen Briefwechsel mit Einstein „Warum Krieg?“. Eine praktikable Einführung für Alle, die sich etwas genauer mit den Theorien und der sehr bildhaften Sprache Freuds befassen möchten.
Lohmann, Hans-Martin: Sigmund Freud.
rororo Monographie 2006; Mit Fotos.;
Rowohlt TB. 8.50 €
Dieses klassische rororo – Bändchen passt in jede kleine Tasche, und verfügt über das bewährte Format dieser Reihe, formal mit der Zeittafel und den Registern, inhaltlich mit dem historisch gut lesbar eingebetteten Lebenslauf des großen Forschers, seinen privaten Kümmernissen, und einer vom Kenner der Materie anschaulich geschilderten Entwicklung der Psychoanalyse, die ja in ihren Anfängen hohe Wellen der Empörung schlug, denn weder die Sexualität von Kindern, noch die neurotischen Ängste gestandener Männer waren um die 20. Jahrhundertwende als Themen öffentlicher Diskussion „angesagt“.
Schmidbauer, Wolfgang: Der Mensch Sigmund Freud.
Ein seelisch verwundeter Arzt? Ein neuer Ansatz, 2005; 206 S Kreuz-Verlag
19.95 €
„Freud war ein Meister, eine seelische Stimmung zu erfassen und eine biographische Situation in knappen Sätzen so zusammenzufassen, dass der Leser genau wusste, woran er war.“ Der erfahrene Therapeut Schmidbauer muss es wissen. In seinem Buch unternimmt er nun seinerseits den Versuch, dem Erfinder der Psychoanalyse Sigmund Freud mit dessen Methoden auch als Person näher zu kommen, der – zwar weniger gravierend – als seine Patienten „seelisch verwundet“ war, der es jedoch aufgrund jener hoch gerühmten „Sublimierung“ verstand, eher unbewusst seine frühen Verletzungen durch aufmerksames Hinhören, Hinsehen, Hinschreiben im Sinne einer Heilung vieler angstgeplagter, gehemmter Menschen mit „schweren seelischen Störungen“ zu kompensieren. Insofern rückt uns Schmidbauer den intellektuellen Meister der Tiefenpsychologie in die Nähe alltäglicher Sorge, die für Freud, den heftigen Zigarrenraucher, schließlich trotz internationaler Anerkennung in einer quälenden Krebserkrankung endete.
Brumlik, Micha: Sigmund Freud.
Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag 2006;
280 S, 22.90 EUR
Das Buch mit dem wissenschaftlich höchsten Anspruch hat Micha Brumlik geschrieben. Er wendet sich insofern an fortgeschrittene Freudianer, als er vor allem das intellektuelle Genie Sigmund Freud als „belebende Irritation“ würdigt und ihm als die für das 20. Jahrhundert prägende Gestalt „universale und überzeitliche Gültigkeit, ein revolutionäres Bild vom Menschen“ bescheinigt. Der Erziehungswissenschaftler Brumlik stellt vor allem einen Kontext her zwischen den humanistischen Kriterien der Psychoanalyse, die dem körperlichen und seelischen Leiden durch elterliche Unterdrückung auf die Spur kommen, und dem Faschismus, vor dem auch der Jude Freud fliehen musste, auch weil er mit seinen Erkenntnissen über autoritäre Herrschaftsstrukturen die Nazi – Diktatur implizit durchschaut hatte. „Die Nummerierung der menschlichen Körper, die Erschießung und Vergasung sowie schließlich die ökonomische Verwertung der Leichen sind nur die äußere Seite eines totalen Vernichtungswillens“, dem Freuds Erkenntnis über die Repression in der Gesellschaft so singulär damals in der Tat kaum etwas entgegensetzen konnte; dazu hätte es eben einer Mehrheit jener selbstbewussten Individuen bedurft, für deren Emanzipation sich Freud in Theorie und Praxis zu engagieren begonnen hatte.
Weissweiler, Eva: Die Freuds. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 2006, 479 S., 24,90 €
Das zur Zeit bunteste literarische Bild, die „Biographie einer Familie“, hat die Kölner Schriftstellerin Eva Weissweiler über das Leben Freuds gemalt. Sie erforschte in mannigfacher Hinsicht das familiäre Umfeld des berühmten Therapeuten, und ist vor allem dort auf manche Ungereimtheiten gestoßen, wo es im Hinblick auf die Frauen um Freud – die Mutter, die Gattin, die zahlreichen Schwestern, und manche weibliche Patientin – in der bisherigen Literatur etwas schattenhaft zuging. Besonders seine Kinder – bis auf die bevorzugte Lieblingstochter Anna – hatten bei diesem „omnipotenten“ Vater doch ziemlich wenig zu lachen, wurden, was väterliche Anerkennung betraf, durchaus vernachlässigt, wie Eva Weissweiler aufgrund ihrer akribischen Recherche, vor allem aus bisher unveröffentlichten Brief – Quellen atmosphärisch bei aller Ambivalenz sehr lebendig zu erzählen weiß, ohne den Respekt für die wissenschaftliche Leistung Sigmund Freuds für unsere heutige so unübersichtliche Nachwelt zu schmälern.
Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Rowohlt Taschenbuch, 9,99 €
Dieser Psychoanalytiker schaffte es aufgrund seiner auf Freud basierenden Erkenntnisse, auch ziemlich kaputte Paar-Beziehungen durch sein Beharren auf dem g e g e n s e i t i g e n Einander-Zuhören und auf dem ernsthaften b e i d e r s e i t i g e n Aussprechen-Dürfen von Ungereimtheiten, also noch so in sich widersprüchlicher Befindlichkeiten – wieder zu einem respektvollen und damit sinnenfrohen Umgang miteinander zu bewegen!