Eines kann man getrost feststellen: Steuerhinterziehung und die trickreiche Steuergestaltung gegen den Geist der Gesetzgebung wird in der Öffentlichkeit heute als das angesehen, was es schon immer war: Nämlich Bereicherung zu Lasten der Allgemeinheit, als kriminelles Tun. Das war nicht immer so. Wenn noch vor wenigen Jahren der Verdacht aufkam, dass eine Privatperson oder ein Unternehmen „den Staat“ über den Tisch gezogen haben könnte, dann reichten die Reaktionen von Teilnahmslosigkeit bis zu respektvoller Anerkennung von so viel Zivilcourage. Man war ja selbst nicht betroffen, und „dem Staat“ die Stirn zu bieten, dafür gibt es doch immer gute Gründe. Anders als etwa in Skandinavien ist die Wahrnehmung des Staates als Gemeinwesen – als unsere gemeinsame Angelegenheit – in Deutschland aus historischen Gründen weit weniger ausgeprägt. Das Ausnutzen unterschiedlicher Gesetzesregeln in verschiedenen Staaten galt manchem als gelebter Steuerwettbewerb.
Betrug an der Allgemeinheit
Warum dann der plötzliche Sinneswandel in den letzten Jahren? Eine mögliche Erklärung liegt in der Finanzkrise und auch in der Schuldenbremse. Sie haben den Betrug an der Allgemeinheit ent-anonymisiert. Seit 2008/2009 ist nicht nur deutlich geworden, welchen Schaden Finanzakrobaten ohne jedes gesellschaftliche Verantwortungsgefühl anrichten können; durch die danach eingeführte Schuldenbremse ist auch die Hintertür für die Aufnahme von Krediten geschlossen worden, mit der die Auswirkungen des Steuerbetrugs im Hier und Jetzt kaschiert werden konnten.
Damit wurde unmissverständlich klar, dass das, was wir vom Staat erwarten, auch bezahlt werden muss. Je mehr sich die Profiteure von Kaufkraft, Infrastruktur, Bildung und Sicherheit um die Beteiligung an der Finanzierung drücken, desto mehr bleibt bei denen hängen, die ihren Anteil ehrlich entrichten. Entweder durch höhere Abgaben oder durch weniger staatliche Leistung. Mich hat die Aussage einer jungen Steueranwältin beeindruckt, die berichtete, dass ein Mandant ohne jedes Schuldgefühl Beratung für eine Selbstanzeige suchte, obwohl er nach seinem Empfinden doch niemandem geschadet habe. Sie habe darauf nichts erwidert, aber gedacht: Doch, Sie haben allen geschadet, unter anderem mir.
Gewissenlosigkeit der Betrüger
Der enorme Sinneswandel in Öffentlichkeit und Medien lässt sich auch daran ablesen, wie zunächst die Entscheidung Nordrhein-Westfalens bewertet wurde, bei der Aufklärung von Steuerbetrug auch auf Informationen aus der „Szene“ zurückzugreifen und dafür zur Not auch zu bezahlen. Bei der Aufklärung von Drogendelikten, extremistischen Straftaten oder Missbrauch waren solche Ermittlungsmethoden seit langem unbestritten, wenn diesen Straftaten anders nicht beizukommen war. Aber bei Steuerbetrug? Da waren viele doch zunächst noch geneigt, der Argumentation interessierter Kreise zu folgen und diese Art der Aufklärung als Hehlerei zu brandmarken.
Der Versuch, die Täter zu Opfern zu machen, war spätestens gescheitert, als die Ausmaße des Betrugs und die Gewissenlosigkeit der Betrüger und ihrer Helfer nach und nach bekannt wurden – und als Persönlichkeiten aufflogen, die vorher als moralische Autorität aufgetreten waren. Nach sechs Jahren und rund sechs Milliarden Euro nachgezahlter Steuern und Geldbußen in Deutschland, die nach wie vor nur die Spitze des Eisbergs sein dürften, ist das Mitgefühl für die Betrüger zu Lasten der Allgemeinheit verflogen. Selten hat Politik eine so weitreichende Zustimmung aus allen Schichten erfahren, wie bei der konsequenten Bekämpfung von Steuerkriminalität.
Dahinter steht eine Industrie der Täter
Mit jeder Recherche, mit jeder Ermittlungsarbeit wird aber auch offenkundig, dass Steuerbetrug in großem Stil meistens nicht das unkoordinierte Handeln Einzelner ist, sondern dass dahinter eine ganze Industrie hochbezahlter „Dienstleister“ steht. Diese Erkenntnisse sind engagierten investigativen Journalisten zu verdanken, aber auch dem konsequenten Vorgehen der nordrhein-westfälischen Steuerfahndung, die in Zusammenarbeit mit dem Landeskriminalamt erworbenes Datenmaterial und Tausende von Selbstanzeigen auf typische Strukturen untersucht und damit den Nachweis organisierter Beihilfe zur Steuerhinterziehung erbracht hat. Die nordrhein-westfälischen Behörden sind deshalb auch in der Lage, die im Rahmen der Panama-Papers bekannt gewordenen Hinweise mit eigenen laufenden Ermittlungen abzugleichen.
In den vergangenen Jahren hat sich viel getan: Es gab eine nennenswerte Begleichung von Schäden, auch wenn sechs Milliarden Euro bedeuten, dass immer noch riesige Summen versickert sind. Es gibt die klare und belegte Ansage an die Täter, dass das Risiko der Enttarnung enorm gewachsen ist. Angesichts der hohen Bedeutung, die Diskretion für Täter und Helfer hat, ist das ein Meilenstein. Es gibt in der nationalen und internationalen Politik mittlerweile zudem eine sehr weitgehende Übereinstimmung in den Stellungnahmen. Davon, dass Steuerhinterziehung gelebter Wettbewerb sei, der am Ende allen nütze, redet bis auf ein paar ganz Unverdrossene wie die Redakteure des Ressorts „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in der aktuellen Ausgabe oder der ehemalige FDP-Generalsekretär Döring auf Twitter in der Politik kaum noch jemand. Selbst Banken werben mit ihren Maßnahmen, etwa der Weißgeldstrategie in der Schweiz.
Erst das Fressen, dann die Moral
Aber Vorsicht: Eine geistig-moralische Wende steht nicht dahinter. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, so hat es Bertold Brecht beschrieben. Moral braucht also eine gewisse Sättigung der Grundbedürfnisse. Das Problem bei Geld liegt aber offenbar darin, dass sich kein Sättigungsgefühl einstellt. Auf Moral wartet man demzufolge vergeblich. So sind die von Steuerhinterziehern, vor allem aber von deren Dienstleistern gezogenen Konsequenzen wohl auch eher ökonomisch motivierte Schlussfolgerungen. Die wichtige Grundvoraussetzung der absoluten Diskretion ist schwer beschädigt. Das macht mancherlei Geschäftspraxis unrentabel. Die Kosten und Risiken sind höher als der zu erwartende Gewinn. Dazu kommt der Imageschaden für Banken bei seriösen Kunden. Ein Schweizer Banker hat es auf den Punkt gebracht: Wenn die Beratung in Sachen Steuervermeidung zum Verlustgeschäft wird und gleichzeitig der auf Seriosität Wert legende Mittelständler sich scheut, eine Schweizer Bankverbindung auf dem Briefbogen zu haben, dann besteht Handlungsbedarf.
Wie bei den Banken verhält es sich auch im zwischenstaatlichen Dialog. Weil offensive Unterstützung von aggressiver Steuergestaltung mittlerweile Risiken birgt, gibt man sich in der Rhetorik gemäßigt und ist sogar bereit, sich an Abkommen, etwa zur automatischen Information über Kapitaleinkünfte an die zuständigen Finanzbehörden, zu beteiligen. Dass dabei nach jeder Formulierung gesucht wird, die hinter dem guten Schein möglichst viele Wege der Umgehung offenhält, ist leider anzunehmen. Aufweichen, Verzögern und Lücken lassen für neue Umgehungsdienstleistungen, wird Verhandlungslinie derer bleiben, die ihre Profite schwinden sehen.
Briefkasten als Steuergestaltung
Deshalb wäre es absolut naiv zu glauben, man käme schnell und quasi widerstandslos dazu, Worten auch wirklich Taten folgen zu lassen. Dabei soll nicht kleingeredet werden, was schon erreicht wurde. Das ist viel mehr als noch vor wenigen Jahren vorstellbar war, aber es ist auch nur so viel, wie von den Nutznießern nicht zu verhindern war. Der Schluss daraus kann doch nur sein, weitere Fakten zu schaffen, die nicht verhinderbare Folgen haben.
Schon werden wieder Stimmen laut, die darauf hinweisen, dass Briefkastenfirmen an sich nichts Verwerfliches seien. Es gibt tatsächlich Staaten, die erwarten, dass ein Unternehmen eine Inlandsadresse hat. Wenn es denen reicht, dass nur ein Briefkasten vorhanden ist, ist das deren Sache. Wenn der Briefkasten aber zur Steuergestaltung in Deutschland genutzt wird, ist es unsere Angelegenheit und unser Recht, Missbrauch zu vereiteln. Eine nur taktisch genutzte Briefkastenfirma wäre im Übrigen kein Grund für Geheimniskrämerei. Mit ihr könnte der Inhaber gegenüber den Finanzbehörden offen umgehen. Bleibt das Argument, dass es Unrechtsregimes gibt, vor denen man sein Geld in Sicherheit bringen muss. Das ist aber kein Grund dafür, Geheimverstecke für Kapital im Allgemeinen anzubieten – zumal sich ein Unrechtsstaat am wenigsten darum scheren dürfte, ob Kontenstände vertraulich sind oder nicht.
Unanständiges darf sich nicht lohnen
Es bleibt dabei: Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Unanständige nicht unbemerkt bleiben und sich schon gar nicht wirtschaftlich lohnen darf. Es muss klar sein, dass auch neue Finanzprodukte zum Zweck der Steuerumgehung schnell ans Licht kommen. Wir müssen das individuelle Gewinnstreben mit dem Nutzen für die Allgemeinheit in Übereinstimmung bringen. Das wird nur gehen, wenn wir nicht nur auf internationalen Konferenzen Position beziehen, sondern auch zu Hause Nägel mit Köpfen machen. Dazu müssen wir alle gesetzgeberischen Möglichkeiten auf der nationalen Ebene nutzen, die dafür sorgen, dass Gewinne überhaupt versteuert werden und dass sie da versteuert werden, wo sie entstehen. Das ginge etwa durch die Beschränkung der steuerlichen Absetzbarkeit von Lizenzgebühren, die ein Unternehmen an eine ausländische Holding überweist, um damit den Gewinn vom Ort der Erwirtschaftung in eine Steueroase zu verschieben. Die Koalitionspartner im Bund haben sich ausdrücklich dazu bekannt, auch die nationalen Möglichkeiten zu nutzen.
Umso mehr verwundert es, dass selbst klare Absprachen der Länderfinanzminister mit dem Finanzressortchef des Bundes nicht in eine entschlossene Umsetzung durch das Bundesfinanzministerium münden. Die Vorlage eines Gesetzes gegen die Manipulation von Registrierkassen gehört dazu. 2014 von den Finanzministern in Auftrag gegeben brauchte das Bundesfinanzministerium zwei Jahre bis zu einem löchrigen Referentenentwurf. Ebenso hat der Bundesrat vor zwei Jahren eine Verschärfung des Kreditwesengesetzes eingefordert, damit überhaupt eine rechtliche Handhabe gegen Banken geschaffen wird, die systematische Beihilfe zum Steuerbetrug leisten – Umsetzung bisher Fehlanzeige. Seit 2014 fordert NRW auch eine wirksame Regelung gegen so genannte hybride Finanzierungen. Damit werden abweichende nationale Definitionen so genutzt, dass Kapital von Deutschland steuermindernd in ein anderes Land verschoben werden kann, in dem es nicht versteuert werden muss.
Unions-Fraktion will Wähler nicht vergraulen
Wenn der Bundesfinanzminister jetzt davon spricht, dass er für mehr Transparenz von Geldgeschäften in Steueroasen eintreten will, ja über eine Genehmigungspflicht von Offshore-Steuersparmodellen nachdenkt, dann muss man wissen, dass es schon lange Vorschläge gibt, die regelmäßig von seinem Ministerium verhindert werden. Mancher Dissens zwischen Ankündigungen des Bundesfinanzministers und seinem auf Verzögerung oder Verhinderung setzenden Haus legen die Vermutung nahe, dass nicht die Beamten sich dem Wunsch ihres Chefs widersetzen – die haben ebenso wie ihre Kollegen in den Ländern großes Interesse an einer gerechten Verteilung der Steuerlast. Vielmehr ist anzunehmen, dass es abweichende politische Vorstellungen aus Wolfgang Schäubles eigener Bundestagsfraktion gibt, die daraus resultieren, dass man Wählerschichten nicht vergraulen will. Die Erinnerung an das mit Mühe verhinderte Steuerabkommen mit der Schweiz, das die Erfolge der letzten Jahre nicht zugelassen hätte, sind noch frisch.
Deshalb liegt der womöglich größte Wert der Panama-Papers und der Fahndungserfolge darin, die Menschen für den enormen Schaden durch Steuerbetrug und Steuertrickserei sensibel und damit deutlich zu machen, dass man mit halbherzigem Handeln gegen Steuerbetrug auch Wahlen verlieren kann.
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