Fußball soll nach Ansicht von Experten ab einem gewissen Niveau Geschmackssache sein. Davon konnte man sich bei den WM-Spielen fast täglich überzeugen. Es gab rassige Spiele, bittere Niederlagen und grandiose Siege. Dabei ging es nicht nur um die richtige Strategie und Taktik, um echte und falsche Neuner oder um eine deutsche Abwehrkette, die aus vier Innenverteidigern bestand und sich doch als eine meisterliche Taktik entpuppte, die uns den Traumsieg über Portugal bescherte. Weltmeisterfußball in Brasilien ist mehr denn je auch eine große Leistung der Frisöre.
Wer genau hinschaut, der weiß sofort, wovon die Rede ist. Was sich vor Jahren bei der Verwandlung des Haupthaares des nach Italien abgewanderten Mario Gomez angedeutet hatte, wird jetzt voll bestätigt: Auf den Köpfen der internationalen Spielergeneration hat eine Art Revolution stattgefunden, die sich über Lateinamerika, Afrika und Asien nach Europa vorgeschoben hat und jetzt im Begriff ist, große Teile der deutschen Nationalmannschaft zu übernehmen. Eine Nachfrage bei jedem gut ausgebildeten Innungsfriseur wird diesen Trend bestätigen.
Mein Friseur Ricardo ist Italiener und schneidet mir seit zwanzig Jahren die Haare, „in sich kurz“, wie er sagt, worunter der brave Faconschnitt gemeint ist, der bis jetzt alle Trends überdauert hat. Ricardo schwärmt natürlich für Italien, baut auf die Stürmerqualitäten von Pirlo und kann erklären, welcher Haartrend 2014 angesagt ist. Fast alle internationalen Spieler, bis auf einige traditionelle Dreadlock-Recken aus den USA tragen in dieser Saison die Seitenhaare kurz, die Haare auf dem Oberkopf eher lang bis überlang , wobei für alle etwas übrig ist,was man besonders bei einzelnen Spielern aus Nigeria und Ghana schön beobachten kann: Bei genauem Hinsehen erkennt man dort den guten alten Lockenkopf oder die eher feminine Tolle, also längst totgesagte Frisuren aus dem Arsenal der Siebziger Jahre, wobei man ziemlich sicher sein, dass die so Frisierten mehrere Stunden vor dem Spiegel verbrachten.
Der putzige Lockenkopf, geföhnt oder ungeföhnt, gefärbt oder leicht getönt, ist wieder in. Aus dieser Grundfreiheit des Zuschnitts, die sich in den Friseursalons von Hamburg bis Rio de Janeiro durchgesetzt hat, lassen sich unzählige Varianten entwickeln. Es gibt den langweiligen Seitenscheitel, wie ich ihn bei einem englischen Spieler entdeckte, ein zerzaustes, freches Pony und sogar den brutal aussehenden Irokesenschnitt, wie ich ihn bei einem Stürmer in der Mannschaft von Brasilien entdeckte. Die allgemeine Bandbreite geht eindeutig vom braven Facon-und Messerschnitt des Philipp Lahm über die Stachelköpfe einiger Afrikaner bis zur unansehnlichen Öko-Frisur des Portugiesen Mirelles, der aussah, als sei er soeben erst aus einem Dschungelcamp entkommen.
Es gibt unter allen Jung-und Altfrisierten wunderschöne Phantasievögel mit kurzen, langen und ganz langen Haaren, mit wallender Löwenmähne oder so viel Gel, dass man ihnen den Ehrentitel „ Pomadenhengst“ neidlos zubilligen könnte – allen voran Ronaldo, der sich sogar herabgelassen hatte, beim Spiel gegen Deutschland auf seine wertvollen Ohrsticker zu verzichten. Da ist der immer noch gute alte Faconschnitt von Peer Mertesacker, die Wellenfrisur von Schweinsteiger oder das wilde Haupthaar von Pirlo, das an den guten alten Netzer erinnert.
Aber der Gesamttrend geht eindeutig zurück zum Kurzhaar, wobei man zwischen Undercut und Sidecut unterscheidet. Das Beispiel für gelungenen Undercut ist zweifellos der schöne Kopf von Jerome Boateng ; bei Neymar, Schürrle, Özil und Götze lassen sich sehr gute Ansätze für einen Sidecut erkennen, der nach Ansicht von anerkannten Friseurexperten noch mutiger und waghalsiger ist. Aber zu beiden Frisuren gehört Mut, weil sie sich nicht wie Philipp Lahm oder Jogi Löw an konventionellen Vorbildern orientieren, sondern dem Friseur erlauben, Schere und Rasiermesser radikal an Kopf und Körper anzulegen.
Der deutsche Rechtsverteidiger Jerome Boateng, der Portugals Wunderstürmer Ronaldo am Montag souverän kalt gestellt hat, schlägt bisher alle. Bis über beide Ohren hat er sich um den Kopf herum die Haare in geraden Linien abrasieren lassen, sodass nur ein Rest von Deckhaar übrig bleibt, der kaum das Wort Haupthaar verdient. Aber auch bei Özil sind interessante Varianten erkennbar , weil er sorgsam darauf achtete, dass die Linie seines Undercuts schön gerade gezogen worden ist. Ohne Zweifel ist besonders der Sidecut eine punkige Frisur, die besonders die Blicke der Frauen anzieht. Das habe ich mir von Ricardo sagen lassen. Schade, daß Marco Reuss nicht dabei ist. Er soll der Prototyp für diesen asymetrischen Haarschnitt sein, bei dem die Haare nur einseitig abrasiert werden.
Seis drum, der Ball ist rund, die Wahrheit liegt auf dem Platz, das Runde muss in das Eckige, daran werden die Frisuren unserer Spieler nichts ändern. Ich habe mir vorgenommen, bei den nächsten Spielen weniger auf die Köpfe, sondern mehr auf die Füße unserer Spieler zu achten.