Mit den jüngsten Urteilen des Haager Tribunals geht die juristische Aufarbeitung der Jugoslawienkriege nach zwei Jahrzehnten dem Ende zu. Dem Schuldspruch gegen Radovan Karadzic, der zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde, folgt der Freispruch für Vojislav Seselj. Die Staatsanwaltschaft hatte 28 Jahre Haft gefordert. Persönliche Schuld, so die Richter, seien dem serbischen Nationalisten nicht nachzuweisen.
Die Verfahren in Den Haag waren umstritten, geprägt von der Mühsal des Tribunals, die eigene Rolle und allseitige Anerkennung zu finden. Bei aller Kritik, die nicht verstummt, bedeuten die Prozesse einen Meilenstein für die internationale Strafgerichtsbarkeit. Die grundlegende Botschaft lautet: Kein Amt der Welt schützt Kriegsverbrecher vor Strafverfolgung. Gleichwohl riecht der Freispruch für Seselj, der sich in Den Haag selbst verteidigte, nach Angst vor der eigenen Courage. Eine Verurteilung hätte ohne Zweifel zu neuen politischen Verwerfungen mit der serbischen und womöglich auch der russischen Regierung geführt.
Erinnerung an Srebrenica
Mit den Urteilen flackert die Erinnerung an die Kriegsereignisse aus den 1990er Jahren wieder auf. Ortsnamen wie Srebrenica, Vukovar und Sarajevo rufen die Gräuel ins Gedächtnis, die in den Haager Prozessen als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geahndet werden. Mord, Volksverhetzung, Folter, Ausrottung, Deportationen, Terror und Vertreibung… die Liste der beklagten Taten ist lang.
Die jugoslawischen Zerfallskriege haben die gebannt geglaubten Schrecken des Krieges zurück nach Europa gebracht. Das Massaker von Srebrenica gilt als das schwerste Kriegsverbrechen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Es steht zugleich für das Versagen der Vereinten Nationen, deren Blauhelme in der UNO-Schutzzone nicht verhindern konnten, dass serbische Einheiten den Ort im Juli 1995 überrannten und um die 8000 muslimische Männer und Jungen abführten und ermordeten.
Karadzic verantwortlich für Völkermord
Radovan Karadzic, der heute 70jährige ehemalige Präsident der bosnischen Serben, war dem Haager Urteil zufolge „verantwortlich für den Genozid“. Er ist der ranghöchste Politiker, der wegen des Völkermordes in Srebrenica schuldig gesprochen wurde, und hat angekündigt, in Berufung zu gehen. Das Urteil gegen Ex-General Ratko Mladic, unter dessen Kommando Srbrenica überfallen wurde, steht noch aus. Der frühere serbische Präsident Slobodan Milosevic starb 2006 im Gefängnis während seines Verfahrens vor dem Tribunal.
Allein im Bosnien-Krieg kamen mehr als 100 000 Menschen ums Leben. Während der fast vier Jahre währenden Belagerung der Haupstadt Sarajevo wurden mindestens 10 000 Menschen getötet. Angehörige der Opfer hielten bei der Urteilsverkündung vor dem Gericht eine Mahnwache und zeigten sich enttäuscht über das Strafmaß. 40 Jahre sind nicht lebenslänglich, kritisierten sie und fragten: Wer, wenn nicht Karadzic, wird lebenslänglich bestraft?
Seselj machte Wahlkampf
Während in Den Haag das Urteil gegen Karadzic verlesen wurde, machte Vojislav Seselj Wahlkampf in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Vor einigen tausend Anhängern schimpfte der serbische Ultranationalist, das Haager Urteil richte sich gegen „das ganze serbische Volk“. Der 61-Jährige setzte die Verunglimpfung des Internationalen Gerichts als voreingenommen und einseitig fort, jenes Gerichts, dem er sich 2003 freiwillig gestellt hatte, dem er dann aber die Zuständigkeit absprach, und das er nun bei jeder Gelegenheit brüskiert. Er lehnte es ab, zur Urteilsverkündung in Den Haag zu erscheinen, und wies auch den Vorschlag einer Videoübertragung zurück.
Seselj gilt als Chefideologe eines großserbischen Reiches und war berüchtigt als Anführer der ultranationalistischen Serbenmiliz. Das Urteil gegen ihn hatte besondere Brisanz dadurch, dass der Vorsitzende der Serbischen Radikalen Partei (SRS) heute noch politisch aktiv ist. Zu den auf den 24. April vorgezogenen Parlamentswahlen in Serbien tritt er als Spitzenkandidat seiner Partei an.
Die Staatsanwaltschaft legte ihm schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Vukovar (Kroatien), Mostar, Nevisinje und Zvornik (Bosnien-Herzegowina) zur Last und hielt ihn für den geistigen Brandstifter der ethnischen Säuberungen. Einen Freispruch von allen Vorwürfen hat der europafeindliche Parteichef selbst nicht erwartet. Das Urteil aus Den Haag interessiere ihn nicht, ließ er vorab lauthals verbreiten und präsentierte sich abermals als unbeugsamer Kämpfer gegen den Westen, die EU, die USA, die Nato und für die Sache der Serben.
Versöhnungsprozess hat noch nicht begonnen
Auch Radovan Karadzic wird bis heute in nationalistischen Kreisen als Held verehrt. In Pale bei Sarajevo wurde erst in diesen Tagen ein Studentenwohnheim nach ihm benannt, und der Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska, Milorad Dodik, würdigte den nun verurteilten Völkermörder in höchsten Tönen. Die juristische Aufarbeitung schreitet voran, der Versöhnungsprozess aber hat nicht einmal richtig begonnen. Das seit dem Friedensabkommen von Dayton 1995 für Bosnien-Herzegowina geschaffene Konstrukt serbischer, kroatischer und bosnischer Entitäten zementiert die ethnischen Grenzen eher als sie zu überwinden.
Bildquelle: Wikipedia, Julian Nitzsche, Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Scheveningen, Den Haag. CC BY-SA 4.0-3.0