„Der Aufschrei ist ein Aufruf zum Aufstand gegen Resignation. Es ist ein wildes Buch“, wie der Autor, der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm selber einräumt. Es ist ein „Pamphlet“ wider die erbarmungslose Geldgesellschaft, so steht es auf dem Cover des kleinen Werkes, das den Autor mit empörtem, fast wütendem Gesicht und der erhobenen Faust zeigt, ein Buch, in dem er anklagt und für eine bessere Welt kämpft: „ohne Elend, Krieg und Vertreibung“. Er erinnert mich etwas an Stéphane Hessel und dessen Werk „Empört Euch“, in dem der damals 93jährige einstige Widerstandskämpfer und UN-Diplomat die Jugend der Welt aufrief, sich zu empören, ja sich zu erheben gegen die Mächtigen, die die Finanzkrise zu verantworten hatten. Hessel rief, das tut Blüm in dieser Form nicht, sogar zum politischen Widerstand auf. Und es erinnert auch an die Worte von Papst Franziskus, dessen erste Reise damals nach Lampedusa zu den Flüchtlingen führte, wo er die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ beklagte. Derselbe Papst, von dem der Satz stammt: „Diese Wirtschaft tötet“-wenn sie das Gewinnstreben über die Menschlichkeit stellt, so hat ihn gerade die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Osterausgabe zitiert.
Es ist kein Zufall, dass die Veröffentlichung des Blüm-Buchs fast zeitgleich geschieht wie sein Besuch im Flüchtlingslager Idomeni, wo Blüm in einem kleinen Zelt nächtigte, mitten im Matsch, bei strömendem Regen und Kälte und sich bewusst in der Umgebung von notleidenden Flüchtlingen zeigte, um der „Welt Nachricht zu geben“, was da passiert. Er hat seine Erlebnisse, seine Gefühle und auch seine Empörung über diese Zustände aufgeschrieben für die Wochenzeitung „Die Zeit“.
Husten, Räuspern, Kinderweinen
Dass das alles nicht sein muss, dass man Menschen in Not helfen muss, ohne dass Europa untergehen würde, das alles steht in diesem Stück und es findet sich auch in seinem Buch. Dass Europa, diese Wertegemeinschaft, das christliche Abendland diese Unmenschlichkeiten zulässt, das empört den Norbert Blüm, der immer schon das soziale Gewissen der CDU war. „Wir verwöhnten Wohlstandsbürger“, so schreibt er in der „Zeit“, „fühlen uns von Flüchtlingen bedroht, die nicht gegen uns, sondern ums Überleben kämpfen. Tausend Kilometer nördlich liegen meine Landsleute jetzt im warmen Bett, und nicht einer von ihnen hat bislang für die Flüchtlinge auch nur ein Jota seines Besitzstandes abgeben müssen.“
Versagen der Europäer
Zu den traurigsten Ereignissen des letzten Jahres zähle das Versagen der europäischen Nationen in der Flüchtlingsfrage, schreibt Blüm in seinem „Aufschrei“. Jeder ist sich selbst der Nächste, so jedenfalls verhalten sich nicht wenige der europäischen Regierungschefs, als wäre oben gesagtes die Maxime ihres Handelns. Erst kommen wir. Keine Einigung über die Verteilung von 160000 Flüchtlingen, nicht mal ein Prozent von ihnen konnte so verteilt werden, nur deren 600. „Wer soll dieses Europa noch ernst nehmen. Beim Geld abholen stehen sie in Brüssel Schlange, beim Helfen sind sie nicht zu sehen“, so Blüm. Er meint damit u.a. Polen, das sich gerade wieder weigerte, ein paar der Menschen in Not aufzunehmen. So sieht europäische Solidarität aus, Warschau hat in Brüssel kräftig kassiert, aber dann den Laden dicht gemacht. Was wäre denn Polen ohne die EU und ohne die Nato, wie sähe denn wohl die Bedrohung durch Russland aus ohne den Westen, auf dessen Hilfe das in Zeiten des kommunistischen Sowjet-Blocks bedrängte Polen gern zählte.
Oder das Beispiel Großbritannien auf dem EU-Gipfel im Februar. Da wurde im Stil von Zockern um den Verbleib Londons in der EU gefeilscht, Premier Cameron erpresste im Grunde seine Regierungskolleginnen und –kollegen für die die Zusage, Flüchtlingen, die es tatsächlich bis auf die Insel schaffen sollten, die Sozialleistungen vier oder gar elf Monate zu kürzen. Gleichzeitig standen Tausende von Flüchtlingen in der Gefahr, im Mittelmeer zu ersaufen. Die Wertgemeinschaft EU, ihre Solidarität, christliche Nächstenliebe. Nochmal Papst Franziskus, der es den Politikern vormacht: Er hat Flüchtlingen die Füße gewaschen und sie geküsst. Und er hat seinen Priestern ein Zeichen gegeben: Geht zu den Armen, dorthin, wo es brennt.
Bilder des Schreckens
Der kleine Aylan, wie er da liegt, „als würde er auf dem Sand des Meeresstrandes friedlich schlafen“, rührt Blüm fast zu Tränen. „Er „schläft“ auf dem Bauch, der Kopf ist dem Meer zugedreht. Die Arme liegen ausgestreckt am Körper. Nur drei Jahre alt ist er geworden. Aylan trägt neue Schuhe, ein rotes Shirt, seine Haare sind wie frisch gekämmt. Aylan schläft nicht. Aylan ist ertrunken, auf der Flucht vor Bomben, Elend und Gewalt. Geflohen aus Syrien.“
Der kleine Junge ist ertrunken, weil das Schlauchboot in rauer See kentert, dem Vater die Hand des ertrinkenden Kindes entglitt. Furchtbar, zum Erbarmen. Man darf sich das gar nicht vorstellen, wenn einem ein solches Schicksal widerführe. „Wem das Bild vom schlafenden Aylan nicht das Herz zerreißt, der hat keines“, so Blüm, Vater von drei längst erwachsenen Kindern. Bilder des Schreckens, wie wir sie im Grunde täglich oder mindestens wöchentlich sehen könnten, wenn das Fernsehen sie uns präsentieren wollte. Eine Welt aus den Fugen. Reichtum in wenigen Händen satt, gleich nebenan nimmt die Zahl der Armen zu, der Menschen, die wenig zu essen haben, die irgendwo untergekommen sind, was man nicht als Wohnung bezeichnen kann, was aber gleichwohl in einigen Kreisen den Neid schüren lässt, als würde denen gegeben und uns genommen.
Bilder, die dem Beobachter die Luft zum Atmen nehmen. „Ein Volvo-Kühl-Transporter auf einer Haltebucht an der A4 Budapest-Wien. Der LKW hat kein Frischfleisch geladen, sondern 71 Leichen, darunter vier Kinder, drei Buben, ein Mädchen. Alle sind auf der Fahrt erstickt. Die Schlepper haben ihr Geschäft gemacht. Die Menschen sind tot.“ Blüm erinnert weiter an ein Bild des Schreckens aus längst vergangenen Tagen, das sich der Welt einprägte: „Das Bild von dem nackten Mädchen Kim Phuc, das der brennenden Napalmwolke schreiend entkommt.“ Das war 1972 und es war ein Zeichen, dass dieser Vietnam-Krieg beendet werden müsse. Und damit eine letzte Etappe des Kolonialismus in Indochina begann.
Schicksale von Menschen an Menschen
Schicksale, die von Menschen gemacht wurden. Das von Aylan ebenso wie das der Leichen im Kühl-Transporter oder das des vietnamesischen Mädchens. Blüm: „Wir, die Menschen, sind die Macher der Not und des Elends auf der Welt.“
Ja, es muss einen Aufschrei geben diese Entwicklungen, einen „Aufschrei, der von der Empathie der Herzen ausgelöst wird“. Und der besser sei, menschlicher als „kühl kalkulierender professioneller Sachverstand“.
Die Fragen, die Blüm stellt, sind nicht immer neu, aber sie sind zu wichtig, dass man sie jetzt nicht wiederholen müsste, weil sie in diesen Zusammenhang gehören. So die Frage, wer denn die Waffen für die Terroristen des Islamischen Staates“ liefere, mit denen der IS Menschen Köpfe abschlägt? Und wer verdient eigentlich an der globalen waffenstrotzenden Lynchjustiz? Der IS kontrolliert den Irak und verfügt damit über die dortigen Ölquellen. Er verkauft das Öl an die Syrer und aus diesen Einnahmen finanziert er die Waffenkäufe. Mit diesen Waffen schießt die Terror-Bande wiederum auf die syrischen Panzer, die mit dem Öl fahren, das der IS ihnen geliefert und das Bagdad bezahlt hat. Blüm überschreibt diese Passage mit dem zutreffenden Titel: „Das Perpetuum mobile der Grausamkeit“. Ein „Bombengeschäft“, an dem auch die Türkei indirekt mitverdient, so Blüm, weil sie den mit Öl beladenen Lastwagen freie Durchfahrt gewähre und im Gegenzug vom IS das billigere Öl bekomme.
Die Kasse der Waffenhändler stimmt
Die Kasse stimmt. Auch bei den „etablierten Waffenproduzenten aus Deutschland“, die selbstverständlich die Waffen nicht persönlich übergäben oder das Geschäft direkt abschlössen. Man will es nicht wissen und weiß es dann auch nicht. Kunst der Verdrängung nennt der Autor des Buchs diese Art des Blinde-Kuh-Spiels. Es interessiere den Fernseh-Konsumenten ja auch mehr das Schicksal der Geissens mit ihren Millionen, oder mit wem welches Filmsternchen das Bett geteilt habe oder welche lebenslang eingegangene Verbindung gerade aufgelöst worden sei. Blüm: „Das ist unsere Mordsgaudi. Die Mordgeschäfte gehen uns am Arsch vorbei.“ Dass Deutschland aus allen Rohren mitschießt, ist bekannt, „die Kämpfer der libanesischen Hisbollah wie die des Islamischen Staates schießen und morden mit Waffen aus Deutschland“. Und damit das nicht vergessen wird: Schließlich gibt es als Folge von Krieg auch Verletzungen, die verbunden werden müssen und dazu verwendet man Verbandszeug aus dem Westen.
Wieso kann der Waffenhandel nicht unterbunden werden? Fragt Blüm. Gerade so, wie es der Menschheit gelungen sei, einst die Sklaverei abzuschaffen. Und er hat ja Recht, auch ohne Sklaven sind Wirtschaft und Staaten nicht zusammengebrochen.
Stell dir vor, Europa ist sich einig, gemeinsam das Elend der Welt zu bekämpfen, fragt der Autor des Pamphlets. Stell dir vor, jeder auf der Welt hat Arbeit, von der er leben kann. Stell dir vor, es gibt Korruption und keiner besticht. Stell dir vor, es gibt Krieg und keiner liefert Waffen. Stell dir vor, islamische Autoritäten sprechen eine Fatwa(ein Rechtsurteil) gegen die Kopfabschläger des Islamischen Staates aus.“
Stell dir vor, wie sich die Welt veränderte..
Noch einmal Blüms Artikel in der „Zeit“ über die Flüchtlinge, die europäischen Kleinkrämer, über seinen Stolz auf ein Deutschland, dessen Name früher verbunden war mit „Rassenwahn und Massenmord und plötzlich stehen wir heute in der Welt da als Menschenfreunde“. Das kann einen mit Stolz erfüllen. Aber dazu gehört auch: „Der Güterverkehr ist ungebremst, das Geldgeschäft grenzenlos. Das Kapital umkreist ungehindert und in Windeseile auf der Datenautobahn den Globus. Nur die Flüchtlinge stecken fest- im Elend und im Dreck“.
Stell dir vor, wie sich die Welt verändern würde, wenn…
Bildquelle: Westend Verlag