Die Sonntagszeitung aus Frankfurt bietet am 21. 2. unter anderem ein eineinhalb Seiten langes „Lob der Ungleichheit“. Der Autor, Rainer Hank, gibt darin auch ein paar familiengeschichtliche Details preis. So erfährt man, dass er trotz der einfachen Verhältnisse, derer er entstamme (Großvater Korbflechter, Vater „einfacher“Bankangestellter), studierter Zeitungsredakteur geworden sei und also eine für seine Generation typische Aufstiegsgeschichte zu erzählen habe.
Darauf folgt eine Zusammenstellung von lauter zutreffenden Fakten, die im wesentlichen den Fortschritt von Produktivität und Lebensstandard beschreiben wie etwa Milchpreis, Preis eines Fernsehgeräts in Arbeitsstunden, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung etcetera, etcetera. Sodann wendet er sich dem Träger des Wirtschaftsnobelpreises (der einzige Nobelpreis, den Alfred Nobel NICHT gestiftet hat) Angus Deaton zu, in dessen Familie die Männer in vier Generationen vom Landwirt zum Ökonomieprofessor aufgestiegen seien und die Männer in der fünften Generation noch mehr Geld verdienten als ein englischer Professor. Von Deaton stammt der Ausdruck, Ungleichheit sei „die Kammerzofe des Fortschritts“ und der Fortschritt eröffne und beschließe Ungleichheiten auf verschiedenen Feldern – die einen – etwa bei der Lebenserwartung – würden geringer, andere eben größer. Das bedeutet – abgesehen von der etwas betulich-beschönigenden Ausdrucksweise – nicht mehr und nicht weniger, als die Ungleichheit immer anwesend war und ist.
Dem Autor Hank geht es aber darum, die Ungleichheit von moralischen Verdächtigungen rein zu waschen. Dazu braucht er einen Gegner, der Ungleichheit auf rigorose Weise unmoralisch findet und den schafft er sich mit Hilfe des greisen Philosophen Harry G. Frankfurt. Frankfurt, den Hank trotz seiner Geburt 1929 in Pennsylvania, USA als deutschen Emigranten bezeichnet, ist einer breiteren Leserschaft durch seine amüsante Klärung des Begriffs „Bullshit“ bekannt geworden und hat 2015 „On Inequality“ geschrieben, was nun auch als Suhrkamp-Bändchen auf deutsch vorliegt. Darin befasst er sich mit dem Irrtum des „Egalitarismus“. Dieser bestehe in der Annahme, dass „es moralisch entscheidend sei, ob eine Person weniger als eine andere hat“ und zwar, aufgepasst: „unabhängig davon, wie viel jeder von beiden hat“. Diese interessante Bedingung Frankfurts lässt Hank links liegen, denn er braucht ja den moralisierenden Gegner, die „Egalitaristen“ ( Konnotation wie Fundamentalisten, Terroristen etc).
Ich kenne allerdings niemanden, für den Gleichheit heute „der Inbegriff aller Gerechtigkeit“ und „jede Ungleichheit eine moralische Abweichung“ bedeutet. Auch ein Blick in die Ideengeschichte macht es fast unmöglich, solche Egalitaristen zu finden. Nicht einmal in der Geschichte sozialistischer Ideen konnte die „von ganz wenigen frühkommunistischen Ausnahmen“ (Lexikon des Sozialismus, Köln 1986) vertretene Auffassung einer absoluten sozialen Gleichheit Fuß fassen. Vielmehr ist, wie schon in der Antike Gerechtigkeit der übergeordnete Begriff geblieben. Man darf also fragen, wozu der Autor diesen Popanz benötigt. Und bei der weiteren Lektüre des Zeitungsartikels ahnt man die Absicht und ist naturgemäß verstimmt! Noch verstimmter machen den Leser die zahlreichen Auslassungen, Biegungen und Widersprüche der Argumentation, die hier nur unvollständig aufgegriffen werden können.
Dem Sohn von Angus Deaton, der ein reicher Hedgefonds-Manager sei, könne man nicht zum Vorwurf machen, dass nicht alle Urenkel schottischer Bergarbeiter Hedgefondsmanager geworden seien und dass George Soros seinerzeit mit seiner „Wette gegen die Bank of England 1000 Millionen britische Pfund gemacht“ habe, könne man ihm nicht moralisch anlasten. Da scheint, mit Verlaub, selbst Soros inzwischen etwas weiter vorangekommen zu sein im Nachdenken, denn er rät der Politik dringend, Leuten wie ihm das Handwerk zu legen. Den Widerspruch zwischen dieser heutigen Einsicht und seinen Währungspekulationen, die vielen Menschen namentlich in Asien die materielle Existenz gekostet hatten, kann Soros nur damit erklären, dass sein Handeln legal gewesen sei. Hank aber fragt allen Ernstes, welchen Nachteil er selbst oder ein Princeton-Professor durch diese Spekulation erlitten hätten. Welch eine Erleichterung, dass diese beiden Herren – wie die meisten Europäer und US-Amerikaner nicht von den Folgen der damaligen Währungskrise betroffen waren. Unklar bleibt, welche Bedeutung diese Verschonung von den Krisenfolgen wirtschaftlich oder gar moralisch in Bezug auf Ungleichheit im Allgemeinen hat. Ich fürchte gar keine!
Hank argumentiert weiter, die Menschheit sei recht erfolgreich bei der globalen – und moralisch gebotenen – Armutsbekämpfung. Laut Weltbank könne die Armut bis 2030 sogar besiegt werden, denn dann müsse niemand mehr mit weniger als 1,25 $ pro Tag auskommen. Zur Ehrenrettung von Hank muss seine Einsicht beachtet werden, dass mit diesem Einkommen „kein schönes Leben“ zu haben sei. Da wankt die moralische Qualität der Ungleichheit doch, wenn auch nur ein wenig. Weiter erfahren wir, dass sich die seit dem 17 Jahrhundert weit aufklaffende Wohlstandsschere zwischen Europa und Asien neuerdings sogar wieder schließen würde. Tatsächlich machen Experten insbesondere das chinesische Wachstum dafür verantwortlich, dass der globale Gini, die Maßeinheit für materielle Ungleichheit, in den letzten 50 Jahren von 0,65 auf 0,55 gesunken sei. (Gini definiert völlige Ungleichheit als 1, völlige Gleichheit als 0) Man kann nicht umhin, diesen Erfolg zu konstatieren, aber er wird doch arg konterkariert durch die wachsende Ungleichheit innerhalb – statt bisher zwischen – den verschiedenen Volkswirtschaften.
Auch die jüngste Oxfam-Berechnung, derzufolge 63 Einzelpersonen zusammen über denselben Reichtum verfügen, wie die – von der Einkommenspyramide aus betrachtet – untere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengenommen besitzt, weckt kein Vertrauen in die Nützlichkeit solch gravierender Ungleichheit. Überhaupt: wieso muss man den Rückgang von etwas loben, das angeblich moralisch einwandfrei ist?
Hank lässt außer Acht, dass ab dem Moment, seit dem die Wachstumsraten in China, Indien, Brasilien längst wieder sinken, auch die Aufholjagd dieser Volkswirtschaften um Anschluss an das europäische und US-amerikanische Wohlstandniveau beendet ist. Immerhin wendet er sich der wachsenden Ungleichheit in den Ländern zu, wo etwa innerhalb der OECD der Abstand zwischen „unten und oben zehnmal so groß“ sei wie ehedem. Ihm schwant sogar, dass die aktuellen Migrationsbewegungen damit zu tun haben könnten, dass die Menschen den Einkommenschancen hinterher ziehen. Die Angst von Mittelschichten vor ihrem Abstieg durch die künstliche Intelligenz, kennt Hank. Nicht zu kennen scheint er, dass etwa die Aufstiegsmöglichkeiten über die letzten 30 Jahre halbiert worden sind. Das gilt für die Chance in den USA vom unteren Einkommensviertel in das obere aufzusteigen. Das kann beunruhigende Folgen zeitigen, eine davon sieht sogar Hank: der Zulauf für „extreme Kandidaten“ bei den USamerikanischen Primaries.
Das ist aber ja nicht alles. Längst ist die Korrelation zwischen einem bestimmten Ausmaß an Ungleichheit mit allen möglichen sozialen Anomien – Epidemien, Kriminalität, Gewalttätigkeit, politischer Extremismus, religiöser Fanatismus – eine Binsenweisheit unter Sozialwissenschaftlern.
Manche sehen in der „Kammerzofe des Fortschritts“ ab dieser Größenordnung nicht mehr eine Schrittmacherin sondern sogar eine Behinderung ökonomischen Erfolges. Als Illustratoren der wahren Problematik der Ungleichheit mögen auch die jeglicher Gleichheitssehnsucht unverdächtigen Superreichen George Soros und Warren Buffet dienen; des einen Kommentar über die verheerenden Wirkungen seinesgleichen sind schon zitiert. Warren Buffets (das ist derzeit der drittreichste Mann der Welt) lapidare Feststellung, die Welt befinde sich in einem einzigen Krieg, dem zwischen arm und reich – und zweifellos würden die Reichen gewinnen – erinnert sicher nur zufällig an Karl Marx‘ Klassenkampfanalyse.
Während wir einer seit langem überwunden geglaubten politische Instabilität entgegen taumeln, an der die Wahrnehmung von zu großer, nicht mehr zu rechtfertigender Ungleichheit einen wesentlichen Anteil hat, kommt Rainer Hank zu folgenden, wie ich finde geradezu skandalösen
Folgerungen: „Man mag die Ungleichheit irgendwie ungemütlich, womöglich sogar obszön finden: Solange alles mit rechten Dingen zugeht, gibt es moralisch daran wenig auszusetzen.“
Und, im Sound von Unternehmer-Propaganda: „Wer Ungleichheit abschaffen wollte, müsste auf den Fortschritt verzichten. So war das in der
DDR (und selbst dort wurden nicht alle Ungleichheiten planiert).“ Mit der DDR als Totschlagargument sind viele aufgewachsen und hoffentlich soweit immunisiert, dass sie sich das Nachdenken dadurch nicht nehmen lassen. Die Aussage, dass Recht identisch sei mit Moral ist an Bildungsferne schwer zu überbieten – aber vielleicht meinte Hank gar nicht rechtlich sondern rechts, als er die „rechten Dinge“ formulierte? Augenscheinlich ist dieser Artikel Teil des Klassenkampfes, den Warren Buffet (er sprach von „war“, also Krieg) meinte.
Ernsthaft gefragt: wie kann etwas moralisch in Ordnung sein, das für das Gros der Menschen verheerende Folgen hervorrufen wird, wenn es sich nicht in einem konsensfähigen Umfang einhegen lässt? Die Debatte, dass Ungleichheit geringer werden muss und wie das zu erreichen sei, wird sich von solchen Artikeln nicht behindern lassen. Sie ist bitter notwendig. Erste Analysen werden laut, dass der alte Trick der Sozialdemokratie, den Wachstumsgewinn nachträglich ein wenig um zu verteilen, nicht mehr ausreichen könnte.
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