Wer Auschwitz einmal gesehen hat, vergisst es nie mehr, diese Hölle auf Erden im Süden von Polen, kaum 60 Kilometer von Krakau entfernt. Über 1,1 Millionen Menschen wurden in dem Vernichtungslager oder besser in der Mordfabrik Auschwitz-Birkenau umgebracht, zumeist Juden aus vielen Teilen Europas. Am 27. Januar jährt sich die Befreiung dieses schlimmsten KZ in der Menschengeschichte durch die Rote Armee zum 71. Mal. Die wenigen Überlebenden kommen jedes Jahr nach Auschwitz, weil sie „ihre ermordeten Angehörigen und ihre Lebensgeschichten dem Vergessen entreißen wollen“, so beschrieb es gerade der „Tagesspiegel am Sonntag“ in einer Geschichte über die letzten Täter von Auschwitz, die als Wachmänner im Dienst der SS Beihilfe zum Massenmord geleistet haben.
Was gibt es schon noch Neues über diesen einzigartigen Kulturbruch der Deutschen zu sagen? Ist nicht alles bekannt, beschrieben worden? Ja und Nein. Der deutsche Journalist Dirk Kämper, der sich vor Jahr und Tag schon einen Namen gemacht hatte durch seine eindrucksvolle Biographie des einstigen Präsidenten des FC Bayern München, Kurt Landauer, hat das Leben des Fredy Hirsch beschrieben, eines nahezu unbekannten jüdischen Deutschen, der in Aachen aufwächst und später im KZ Auschwitz zu Tode kommt.
Ein Jude, homosexuell
Es ist eine bedrückende Geschichte eines Juden, der homosexuell ist, beides Dinge, die sich mit den Nazis so gar nicht vertragen. Ein Held, der fast in Vergessenheit geraten ist, dessen Leben Kämper der Nachwelt durch seine Biographie in Erinnerung ruft. Zu Recht, denn dieser Fredy Hirsch hat vielen jüdischen Kinder geholfen, schon in Prag, als er darum kämpfte, sie außer Landes oder am besten nach Palästina bringen zu lassen. Ein Held, der bei seinem Kampf für das Leben jüdischer Kinder seine eigene Rettung vergisst.
Im KZ Auschwitz hält Hirsch die Kinder des Kinderblocks zu großer Sauberkeit an, oft auch durch Strenge, weil er weiß, dass die Nazis kranke und schmutzig aussehende Kinder ziemlich rigoros in den Tod schicken. In seinen sechs Monaten in Birkenau ist kein Kind des Kinderblocks gestorben, auch und vor allem dank des Mutes von Fredy Hirsch. Hier organisiert dieser Fredy Hirsch das Leben dieser Kinder und macht es ihnen ein bisschen menschlicher, wenn man überhaupt von Menschlichkeit reden kann.
Leichenberge bis zur Dachkante
Kämper schildert die Eindrücke von Fredy Hirsch, als er von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert wird. „Die Leichenberge häuften sich bis zur Dachkante der Baracken, Hunderte starben innerhalb weniger Tage. Knapp über 5000 waren sie, als sie vor sechs Monaten aus Theresienstadt hier ankamen. Weitere 5000 kamen im Dezember dazu. Jetzt dürften es wohl achttausend Menschen sein, die noch am Leben sind.“ Und dann weiter: „ Eines der Bilder, die er bis zu seinem Lebensende nie vergessen wird, ist das Kind, das auf einen dieser Haufen kletterte. Ein Mädchen, schätzungsweise anderthalb oder zwei Jahre alt. Offensichtlich dem Vater oder der Mutter davongelaufen, versuchte die Kleine, den Leichenberg zu erklimmen. Immer wieder verhakten sich ihre kleinen Füße in einer Armbeuge oder rutschten von einem Gesicht, sodass sie kopfüber nach unten purzelte“.(S.24, Kämpfer, Frey Hirsch ..)
Es gelingt dem Autor des Buchs, dem Leser die Welt des Grauens zu zeigen und die Kinder dabei spielen zu lassen, wie es nun mal Kinder tun, auch hier im Kinderblock, der „nur eine flache Insel in einem tosenden Ozean ist.“ Die Kinder im Kinderblock „spielen Zählappell. Mit schreienden Kapos, vor Schwäche in Ohnmacht fallenden Häftlingen, mit Prügel und dem Auf- und Absetzen der Mützen. Und sie spielen Gaskammer, indem sie ein Steinchen nach dem anderen in eine kleine Grube werfen.“
Die Älteren, so erfährt der Leser und wird sich schütteln, studieren Sketsche, in denen man „Auschwitz durch den Schornstein verlässt und im Himmel feststellen muss, dass auch dort die SS das Sagen hat.“ Sie gehen davon aus, schreibt Kämper und man hört förmlich Fredy Hirsch sprechen, dass auch sie „früher oder später durch den Schornstein gehen werden, und wünschen sich dabei eine gute Reise. Als ob es eine Klassenarbeit wäre, ein Besuch beim Zahnarzt oder eine notwendige Prüfung, die man eben hinter sich bringen muss.“(S. 142, Kämper, Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust)
Leben eines mutigen Mannes
Es ist eine unbequeme Heldengeschichte, von der Geschichtsschreibung im Kalten Krieg unterdrückt, wie es auf dem Buchdeckel heißt. Und wenn man dieses Buch liest, wird dem Besucher des KZ Auschwitz die Hölle auf Erden noch deutlicher werden, als ihm das durch das KZ präsentiert wird mit den Bildern von den Leichenbergen, den Schuhen hinter Fensterglas, den Brillen, den Haaren, den Koffern und den Knochen.
Das Leben dieses mutigen Mannes in Erinnerung zu halten, ist ein Verdienst des Buchautors Kämper und es ist wohl auch ihm zu verdanken, dass die Stadt Aachen, wo Hirsch als Kind eines Lebensmittelgroßhändlers aufgewachsen ist, ihm einen Stolperstein gesetzt hat. Auch die wenigen Überlebenden haben ihrem mutigen Beschützer ein Denkmal gesetzt: „Ihm verdanke ich, dass ich noch lebe, nicht nur ich, alle aus dem Kinderblock verdanken ihm das Leben.“ So hat es Yehuda Bacon gesagt, der heute als Maler in Israel lebt. Ein Buch, das auch Teil des Geschichtsunterrichts werden könnte oder sollte, am besten zusammen mit einem Besuch des KZ Auschwitz.
Am Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz eröffnet Bundestagspräsident Norbert Lammert eine historische Ausstellung über die Zwangsarbeit im ländlichen Raum während der NS-Herrschaft. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mussten mehr als 13 Millionen Männer, Frauen und Kinder aus fast ganz Europa Zwangsarbeit im Deutschen Reich leisten. Die Projektgruppe „Zwangsarbeit“ e.V. hat diese Ausstellung mitvorbereitet, diese Gruppe sorgt dafür, dass das Schicksal auch dieser Zwangsarbeiter nicht in Vergessenheit gerät.
Dirk Kämper. Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust. Orell füssli Verlag Zürich. 255 Seiten. 19,95 Euro.
Bildquelle: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA 3.0