„Merkel wankt“, so das ZDF am Sonntagabend in seinem Beitrag aus Berlin, um dann überzuleiten auf die Stimmung beim Koalitionspartner, der SPD. Die Flüchtlingskrise hat auch die SPD längst eingeholt, sodass sie es bei der einfachen Unterstützung des Merkelschen „Wir schaffen das“ nicht mehr belassen kann, sondern eine Umkehrung fordert und Kontingente für Flüchtlinge mit dem Ziel, die Zahl der Zuwanderung zu reduzieren. Nochmal eine Million, das meint schon länger die CSU, das sei nicht zu schaffen. Ex-CSU-Chef Edmund Stoiber stellt der Kanzlerin ein Ultimatum, wie schon Seehofer zuvor, bis zum Frühjahr müssten Maßnahmen ergriffen werden, notfalls auch gegen Merkel. Und Stoiber fordert die Schließung der Grenze zu Österreich für Flüchtlinge.
Schicksalstage Merkels hatte die „Süddeutsche Zeitung“ ihren Aufmacher in der Wochenend-Ausgabe überschrieben. In anderen Blättern war von „Merkel in Bedrängnis“ zu lesen. In der Tat, die einst mächtigste Frau der Welt scheint den Überblick in der Flüchtlingsfrage verloren zu haben. Auch in der eigenen Fraktion mehren sich die Stimmen, CSU-Finanzminister Söder, ein eigenwilliger Kopf aus Franken, will gar den Bundestag über das Thema Flüchtlinge abstimmen lassen. Eine solche Abstimmung könnte die Kanzlerin heute kaum noch riskieren, weil die kritischen Stimmen in der ansonsten koalitionstreuen SPD zunehmen.
Sicher sein kann sich die CDU-Chefin schon länger nicht mehr der Unterstützung ihrer eigenen Leute, auch wenn einer der mächtigsten Männer in der Union, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der Kanzlerin in einem Interview mit der SZ versicherte: „Ich unterstütze aus voller Überzeugung das, was die Kanzlerin sagt: Wir müssen das Problem an den Außengrenzen lösen.“ Und der erfahrene CDU-Politiker, seit Jahrzehnten im Politik-betrieb zu Hause und ebenso lang im Bundestag, ergänzte mahnend. „Die Zeit, das durchzusetzen, ist endlich.“
Erhard ist und bleibt unser Kanzler
Bei Schäubles Äußerungen gehen bei manchen Zeitgenossen die Alarmanlagen an und sie erinnern sich an eine Situation aus längst vergangenen Zeiten. 1966 war es, Bundeskanzler war der einstige Vater des Wirtschaftswunders, Prof. Ludwig Erhard, eine Wahl-Lokomotive für die Union, der 1965 eine Bundestagswahl mit Bravour gewonnen und den SPD-Herausforderer Willy Brandt klar hinter sich gelassen hatte. Erhard war gegen den erbitterten Widerstand des Altkanzlers Konrad Adenauer ins Amt gelangt, der ihm die Führung des Landes nicht zugetraut hatte. In der Tat hatte Erhard als Kanzler, der er seit 1963 war, nicht unbedingt ein glückliches Händchen. Die Kohlekrise begann, im Wahlkampf legte er sich mit Kritikern an und beschimpfte Intellektuelle wie Hochhuth und Grass als „Pinscher“.
Die Zustimmung für den einst beliebten Erhard sank, was sich bei der Landtagswahl in NRW auswirkte, der Koalitionspartner FDP ging wegen eines Streits um Steuererhöhungen, um den Haushalt auszugleichen, auf Distanz und zog seine Minister zurück, CDU und CSU fürchteten plötzlich um ihre Vormachtstellung in der Republik. Man legte intern Erhard den Rücktritt vom Amt nahe, was dieser ablehnte. Nach einer Beratung im engeren Fraktionsvorstand, genannt „Elferrat“, so nachzulesen in der Kohl-Biographie von Klaus Dreher, verabschiedete die Bundestagsfraktion der Union unter Leitung ihres Fraktionschefs Rainer Barzel ein Kommunique, in dem sie ihrem amtierenden Bundeskanzler Erhard klar machte, dass sie ihn fallengelassen hatte. Und anschließend trat Barzel vor die Presse, um einen Satz aus der Erklärung zu zitieren: „Erhard ist und bleibt unser Kanzler.“ Wenige Wochen später wurde der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kurt-Georg Kiesinger, zunächst zum Kanzler-Kandidaten der Union gekürt, ehe er Kanzler der Großen Koalition mit der SPD wurde.
Wenn man diese Passagen in verschiedenen Büchern nachliest, auch in den Erinnerungen von Helmut Kohl, erfährt man, wie brutal und rücksichtlos die Union mit ihrem einstigen Zugpferd Erhard umgesprungen war. Er wurde im Grunde einfach abserviert, weil er keine Garantie mehr für Wahlsiege der CDU war. So schildert Kohl, wie er als junger Politiker nach der entscheidenden Vorstandssitzung im Kanzlerbungalow in Bonn plötzlich auf Ludwig Erhard getroffen habe, allein am Tisch sitzend. Die meisten Teilnehmer seien zu seiner eigenen Verblüffung „so schnell, als sei ihnen der Boden zu heiß geworden“, verschwunden gewesen. Erhard sei sehr deprimiert gewesen und habe zu ihm gesagt: „Herr Kohl, jetzt sehen Sie, wie es ist, wenn man gestürzt wird, dann ist man ganz allein.“ Er habe sich fast geschämt, „dass wir den großen alten Mann so allein da hatten sitzen lassen.“ Erhard habe Kohl gebeten noch zu bleiben und dann hätten sie zusammen eine Flasche Wein getrunken.
Der ewige Zweite
Schäubles Loyalitätserklärung muss man nicht anzweifeln. Der alte Fuchs würde niemals selber Merkel stürzen, Königsmörder werden nie selber König. Aber Schäubles Ehrgeiz ist bekannt. Wenn man ihn riefe… Unionsleute erinnern daran, wie ihn einst Helmut Kohl zunächst als seinen Nachfolger ins Spiel brachte, um diese Erwägung dann wenige Stunden später wieder einzukassieren. Mit der Folge, dass Kohl dann 1998 selber gegen Gerhard Schröder(SPD) kandidierte und verlor. Der ewige Zweite, nennt man ihn auch. Es war Angela Merkel, die ihn wegen der Parteispendenaffäre als Parteichef ablöste. Und es war erneut Merkel, die Jahre später den Bundespräsidenten Wolfgang Schäuble verhinderte. Allerdings hat Merkel Schäuble auch ins Kabinett geholt und ihn als Bundesfinanzminister zu ihrem wichtigsten Minister befördert. Und es ist Schäuble, der immer mal wieder genannt wird, wenn Berlin darüber spekuliert, wer denn als Alternative für Merkel in Frage käme, falls Merkel wegen der Flüchtlingspolitik scheitern sollte.
Als Schäuble vor Zeiten mal gefragt wurde, ob er sich die Führung des Kanzleramts zutraue, hat er, sicher mehr scherzhaft, darauf hingewiesen, dass Konrad Adenauer im Alter von 73 Jahren erstmals Kanzler geworden war. Schäuble ist 73 Jahre alt.
Edmund Stoiber, Seehofer oder Söder muss Merkel nicht fürchten, aber die Warnungen, Merkel habe „maximal bis Ende März“ Zeit, um ihre Ankündigung, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren, auch umzusetzen, sollte sie ernstnehmen. Im März finden wichtige Landtagswahlen vor allem in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz statt, beides früher Stammlande der CDU. Heute wird Baden-Württemberg Grün-Rot regiert mit dem Grünen Kretschmann als Ministerpräsidenten, der inzwischen sehr beliebt ist im Ländle. Und im Kohl-Land Rheinland-Pfalz regieren seit 1990 SPD und die Grünen, Ministerpräsidentin ist Malu Dreyer, auch sehr beliebt, allerdings stöhnt die SPD unter der Erblast, die ihr Kurt Beck u.a. mit dem Millionen-Projekt Nürburg-Ring hinterlassen hat. In jüngsten Umfragen ist die CDU zwar weiterhin stärkste Partei, aber sie hat in beiden Ländern Einbußen zu verzeichnen. Die Union blickt vor allem nach Mainz, wo die ehrgeizige Julia Klöckner einen couragierten Wahlkampf führt und vor der Amtsinhaberin Malu Dreyer liegt.
Nach den Wahlen wird man sehen, ob es zu Angela Merkel wirklich keine Alternative gibt.