Norbert Lammert, der Präsident des Deutschen Bundestages, wagt sich mutig voran und versucht die Büchse der Pandora zu öffnen. Gewiss, er ist nicht der erste Politiker, der nach einer Reform des Wahlrechts ruft. Und er hat völlig Recht: Die Mehrzahl der Wähler weiß gar nicht mehr genau, wie das Ergebnis wirklich zustande kommt. 630 Abgeordnete sitzen inzwischen im Deutschen Bundestag. Diese Zahl ist größer als in den meisten Parlamenten demokratischer Staaten der Welt.
Bislang entspricht die Verteilung der Sitze im bundesdeutschen Parlament dem Anteil der auf die Parteien abgegebenen Stimmen. Zum einen wird mit der Erststimme die Bewerberin bzw. der Bewerber in dem jeweiligen Wahlkreis gewählt, zum anderen kommt etwa die Hälfte der Abgeordneten nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl nach Landeslisten der Parteien mit den Zweitstimmen ins Parlament. Während die Direktkandidaten in den Wahlkreisen sich einem echten Wettbewerb stellen, direkt vor Ort mit den Wählern ins Gespräch kommen und ihre politischen Positionen erklären müssen, gelangen andere eher im parteiinternen Wettbewerb auf die Liste und – falls sie dort gut platziert sind – verhältnismäßig leicht in den Bundestag.
Kaum durchschaubares Gekungel
Mit großem, für den normalen Bürger kaum durchschaubarem Gekungel werden die Landeslisten aufgestellt. Da gibt es interne Koalitionsabsprachen zwischen Frauen- und Mittelstandsgruppen, zwischen der einen und anderen Gliederung der jeweiligen Partei. Von der vielbeschworenen Transparenz bleibt da wenig übrig. Gewiss, das Verhältniswahlrecht garantiert den kleineren Parteien, wenn sie denn die 5 % erreichen, die Präsenz im Parlament. Ein direkt gewählter Bundestagsabgeordneter – wie etwa bei den Grünen in Berlin oder bei den Linken in Ostdeutschland – ist eine echte Rarität, aber eben nicht unmöglich, weil die Mehrheit der Wähler in dem Wahlkreis dies so entschieden haben.
Die Wahlbeteiligung sinkt seit langem – nicht nur bei Kommunal- und Landtagswahlen, auch bei der Bundestagswahl und insbesondere bei der Europawahl. Mit längeren Öffnungszeiten von Wahllokalen, wie es kürzlich vorgeschlagen wurde, ist dieses Dilemma nicht zu beseitigen. Wahlen müssen wieder spannender werden. Im direkten Wettbewerb der Kandidaten um das Mandat und damit um die Wählerstimmen müssen die politischen Angebote gemacht, die Argumente ausgetauscht und die Möglichkeiten der Veränderungen dargestellt werden. Die Bürgerinnen und Bürger wollen letztlich entscheiden, wem sie ihr Vertrauen für die Legislaturperiode schenken, wen sie als ihren “politischen Macher“ ins Parlament schicken, wen sie wieder- oder abwählen, wer als Mitglied seiner Partei Mehrheiten für ambitionierte Ziele finden kann.
Eine Wahlrechtreform, die das Mehrheitswahlrecht etablieren würde, wäre eine echte, positive Revolution in dem inzwischen erstarrten, für viele undurchsichtigen System. Große Sorgen um Splitterparteien links wie rechts im Politspektrum – wie etwa um AfD, Alfa oder andere radikale Gruppierungen – könnten so endgültig beseitigt werden. Gewiss, das Geschrei wäre bei vielen Hinterbänklern, Parteitaktikern und Kungelpolitikern riesig, weil bequeme Listenpfründe verloren gingen. Die Chancen, wieder mehr profilierte Persönlichkeiten für die Politik zu gewinnen, wären hoch. Im direkten Wettbewerb würden sich nur die besten Köpfe und Konzepte durchsetzen. Für unsere Demokratie wäre dies ein Riesengewinn. Insbesondere wüssten alle Wähler, um wie viele Mandate im Bundestag es wirklich ginge. Komplizierte und nicht verständliche Berechnungen von Überhangsitzen blieben allen erspart.