Europa ist in denkbar schlechter Verfassung. Die nationalen Egoismen triumphieren über den Geist der Gemeinsamkeit. Die Flüchtlingsthematik zeigt das besonders deutlich, ist aber beileibe nicht das einzige Feld, auf dem sich die Zukunftsfrage der Europäischen Union stellt. Das Erstarken der extremen Rechten beschleunigt die nationalistischen Fliehkräfte. Direkt durch die Europafeinde im Europäischen Parlament und in der Kommission, mehr noch indirekt, weil die jeweiligen nationalen Regierungen der Mitgliedsländer die Gemeinschaftspolitik missbrauchen, sei es um den eigenen Machterhalt zu sichern, oder als Ventil für rechtspopulistische Tendenzen im eigenen Land.
Das schäbige Spiel, Europa als Sündenbock herhalten zu lassen, ist so alt wie die Gemeinschaft selbst. Erinnert sei nur an Margaret Thatcher, die dereinst in Brüssel mit ihrer Handtasche auf den Tisch schlug und ausrief: „I want my money back.“ Oder an die negativen Referenden in Dänemark und Irland, die nicht nur zu politischen Ausnahmeregelungen führten, sondern stets auch mit der Zubilligung besonderer Privilegien „aufgekauft“ wurden.
Auch die deutsche Bundesregierung verhält sich keineswegs stets als Musterknabe der europäischen Idee. In der Griechenlandkrise hatte der inzwischen verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt Anlass, seiner Amtsnachfolgerin Angela Merkel „schädliche deutschnationale Kraftmeierei“ vorzuwerfen. Und in der Flüchtlingspolitik hat Merkel über Jahre jene Solidarität mit den Mittelmeeranrainern Italien und Griechenland verweigert, die sie nun in der EU einfordert.
Haiders braune FPÖ
Doch so bedrohlich wie heute war es nie zuvor in den mehr als sechs Jahrzehnten seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um das mit dem Friedensnobelpreis gewürdigte Werk bestellt. Die Rechten sind auf dem Vormarsch, auch in Deutschland machen rechtspopulistische Kräfte wie AfD und Pegida mobil, und die EU hat weder den Mumm noch die Mittel, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Als sich Jörg Haiders braune FPÖ über Wien den Weg nach Brüssel ebnete, gab es noch entschiedene Abwehrmaßnahmen. Als zu Zeiten von Silvio Berlusconi die Faschisten Regierungsmacht erlangten, herrschte in Europa nur betretenes Schweigen. Der Ungar Viktor Orban, der mit zentralen europäischen Grundwerten auf Kriegsfuß steht, provoziert die Gemeinschaft ohne Unterlass, seit er 2010 mit seiner nationalistischen Fidesz-Partei regiert. Der Rechtsruck in Polen treibt in diesen Tagen Demonstranten auf die Straßen in Warschau, die den Nationalisten Jaroslaw Kaczynski als Strippenzieher einer autoritären Wende ausmachen. In Finnland und Dänemark nehmen Rechtspopulisten als Koalitionspartner beziehungsweise Unterstützer einer Minderheitsregierung Einfluss auf den Kurs der Regierung. Und nun Frankreich.
Der Erfolg der Rechten bei den französischen Regionalwahlen muss die Europäer alarmieren. Zwar hat die Gemeinschaft der Demokraten den Durchmarsch der Nationalen Front von Marine Le Pen noch einmal abgewendet, doch die rechtsextreme Partei sieht sich seit Jahren in einem steten Aufwind und hat die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 fest im Blick. Die EU hat allen Grund, das Erstarken der extremen Rechten als Bedrohung der eigenen Existenz zu sehen, und sie hat dringenden Anlass zur Selbstkritik. Die hausgemachte Schwerfälligkeit, das ständige Lavieren und Taktieren, das Feilschen um nationale Vorteile selbst in humanitären Krisenlagen, all das verstärkt den Überdruss der Menschen an der Union und treibt den Rechtspopulisten und Europafeinden mit ihren plumpen Parolen immer neue Wähler zu.