Thema Nr. 1 in Deutschland ist seit mehreren Monaten der große Zustrom von Flüchtlingen, insbesondere aus dem Kampfgebiet in Syrien. Von den rund 1 Mio. Flüchtlingen, die inzwischen in Deutschland registriert wurden, kommen etwa 300.000 aus Syrien. Insgesamt sind etwa 10 Millionen Syrer auf der Flucht, ein großer Teil davon innerhalb von Syrien, fast 3 Mio. leben inzwischen im Irak. Im Wesentlichen in großen Zeltlagern, verteilt über das ganze Land. Besonders groß ist die Zahl der Flüchtlinge, die in der irakischen Provinz Kurdistan im Norden des Iraks leben, insbesondere weil dieser Teil zu den wenigen relativ stabilen Bereichen des Iraks gehört. Wenn es uns nicht gelingt, diesen Menschen eine Überlebenschance im Irak zu geben, wird ein erheblicher Teil von ihnen auch den Weg nach Europa suchen. Dies wäre sowohl für die betroffenen Menschen, aber auch für Europa und insbesondere für Deutschland keine gute Lösung.
Als die IS im vergangenen Jahr die Stadt Sinjar im Sinjar-Gebirge eroberte und große Gräueltaten unter der Bevölkerung, insbesondere unter der Jesitenminderheit verübten, flohen etwa 25.000 in das nahe gelegene Sinjar-Gebirge. Dort leben sie unter primitivsten Verhältnissen in Zelten in der Hoffnung, den bevorstehenden Winter dort zu überleben, um dann in ihre Heimat zurückkehren zu können, die inzwischen von der kurdischen Armee zurückerobert wurde. Viele internationale Hilfsorganisationen bemühen sich vor Ort, der Bevölkerung zu helfen. Eine dieser Hilfsorganisationen ist Mission East, die 1991 in Dänemark gegründet wurde und 2013 in Deutschland. Bereits von 2003 bis 2006 kümmerte sich Mission East im Nordirak um die Wiederansiedlung von Vertriebenen. Als man im Sommer 2014 die Arbeit in diesem Gebiet wieder aufnahm, konnte man auf die guten Kontakte aus den Jahren 2003 bis 2006 zurückgreifen. Ende September 2014 wurde ein Büro von Mission East in Dohuk eröffnet. Rund 40 Mitarbeiter bemühen sich vor Ort mit großem Einsatz, die Lebensbedingungen für die Menschen im Sinjar-Gebirge zu verbessern.
Traumatisierte Frauen
Als Vorsitzender von Mission East Deutschland war ich vom 29.11. bis zum 02.12.2015 gemeinsam mit dem Generaldirektor von Mission East, dem dänischen Mediziner Dr. Kim Hartzner, im Nordirak, um mir ein Bild über die Situation und die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen zu machen. Im ersten Teil unserer Reise bis Dohuk wurden wir von dem Bundestagsabgeordneten Dr. Johann Wadephul begleitet, der Mitglied des Außenpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages ist und dort Berichterstatter u. a. für Syrien und Irak. Gemeinsam haben wir ein Kinder- und ein Frauenzentrum in Derabun, etwa eine Autostunde von Dohuk entfernt, am zweiten Tag unserer Reise besucht. Am dritten Tag ging es ins Sinjar-Gebirge und in die Stadt Sinjar. Das, was wir dort erlebt haben, werden wir nie vergessen.
Im Sinjar-Gebirge unterhält Mission East ebenfalls ein Kinder- und ein Frauenzentrum, jeweils in Form eines größeren Zeltes,das Platz für etwa 50 Personen bietet. Im Frauenzentrum bemühten sich Fachkräfte von Mission East, mit den traumatisierten Frauen, die zum Teil die Tötung ihrer Männer miterleben mussten, ins Gespräch zu kommen und ihnen Hilfestellungen zu geben. Von besonderer Bedeutung – so die fachkundigen Mitarbeiter – sind die Gespräche der Frauen untereinander. Im Kinderzentrum wird versucht, den Kindern eine Art „Grundbildung“ zu vermitteln – zur Schule können alle diese Kinder zurzeit wegen mangelnden Angebots nicht gehen –, so z. B. das kleine Einmaleins und einfache englische Sätze, weil das gesamte Hilfspersonal Englisch, aber kaum Arabisch bzw. Kurdisch spricht. Wir nahmen an einer Verteilungsaktion für 600 Familien, das entspricht gut 3.000 Menschen, teil, die jeweils einen Ölofen und 50 Liter Heizöl erhielten. Die ganze Aktion dauerte etwa 5 Stunden, die Schlange vor der Ausgabestelle war unübersehbar lang und die Freude über das Erhaltene – das sah man in den Augen der Betroffenen – unendlich groß. Frieren und Hungern, das sind die entscheidenden Alltagsprobleme, die gelöst werden müssen, um ein Überleben im Winter zu sichern…
Nicht ein heiles Haus in Sinjar
Anschließend fuhren wir nach Sinjar, jener Stadt, die von der IS erobert und später von den Kurden zurückgewonnen wurde. Schon auf dem Weg dorthin sahen wir am Straßenrand Dutzende ausgebrannter Pkw, Lkw und einzelne Panzer. Ich habe schon viele zerstörte Städte z. B. in Afghanistan und auf dem Balkan gesehen. So etwas wie in Sinjar aber noch nicht:
In dieser Stadt lebten ursprünglich fast 90.000 Menschen, heute, wenn überhaupt, einige wenige Hundert. Ich habe nicht ein heiles Haus gesehen, sondern nur ganz oder teilweise zerstörte Gebäude. Das Grausamste waren die noch nicht beerdigten Toten, sowohl Zivilisten, als auch Soldaten. Das, was wir gesehen haben, ist ein Beweis für die Grausamkeiten, mit denen die Kämpfer des Islamistischen Staates vorgehen, um ihren Einflussbereich zu erweitern bzw. zu sichern.
Insbesondere die Ereignisse von Paris haben (endlich) dazu geführt, dass die Weltöffentlichkeit das Thema „ISIS“ so ernst nimmt, wie man es nehmen muss. Der Tatbestand, dass der Deutsche Bundestag Maßnahmen zur Bekämpfung der ISIS in Syrien mit großer Mehrheit beschlossen hat, unterstreicht diese Aussage ebenso wie die Bereitschaft der Vereinigten Staaten und Frankreich, noch stärker als bisher gegen die ISIS vorzugehen. Meine stille Hoffnung ist, dass auch Putin und Erdogan begreifen, dass der eigentliche Feind ISIS ist und die gesamte Weltgemeinschaft gemeinsam gegen diese grausamen Terroristen vorgehen muss. Der französische Präsident hat mit seiner Aussage Recht: „Es handelt sich hier nicht um einen Kampf der Kulturen, denn Kultur haben die ISIS nicht…“
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