Trotz optimistischer Sprachgirlanden in den Statements zur jüngsten Sitzung der Eurogruppe ließ das eigentlich mächtigste Gremium der EU die Regierung Tsipras wieder einmal demonstrativ an der kurzen Leine zappeln. Schminkt man die höfliche Sprachkosmetik ab, hat die Eurogruppe Tsipras in Wahrheit am Montag ein knallhartes Ultimatum gestellt, „binnen einer Woche“ die Zwangsversteigerung und damit mögliche Zwangsräumung von Immobilien zugunsten der griechischen Banken parlamentarisch durchzusetzen.
Finanzminister wurde vorgeführt
Gleichzeitig verweigerte die Eurogruppe die umgehende und haushaltspolitisch hochdringliche Auszahlung der ohnehin schon verschobenen Kredittranche von 2 Milliarden Euro, mit der die griechische Regierung längst fällige Rechnungen an heimische Unternehmen bezahlen wollte. Der diplomatisch-sanft auftretende griechische Finanzminister Euklid Tsakalotos wurde damit genau so vorgeführt wie früher sein konfliktfreudiger Amtsvorgänger Yannis Varoufakis. Daran ändern auch die freundlichen Worte von Klaus Regling, Chef des Euro-Rettungsschirms ESM, nichts. Regling stellte – natürlich auch nur für den Fall der Erfüllung des einwöchigen Ultimatums – eine rasche 10 Milliarden-Tranche des ESM zur Rekapitalisierung der griechischen Banken in Aussicht.
Die „Institutionen“ haben in Athen das Sagen
Alexis Tsipras hatte sich im Vorfeld der Eurogruppen-Sitzung noch verzweifelt in einer Serie von Gesprächen und Telefonaten mit EU-Größen – von Kommissar Pierre Moscovici über Parlamentspräsident Martin Schulz, Kanzlerin Angela Merkel bis zu Präsident Francois Hollande – um die Auszahlung der 2 Milliarden Euro- Tranche, die eigentlich für Oktober vorgesehen war, bemüht. Doch die europäischen Prüfer vor Ort ließen als Vertreter der Gläubiger, neuerdings „Institutionen“ genannt, Tsipras in einem medial international verbreiteten offenen Konflikt auflaufen. Die Eurogruppe setzte das Veto der Prüfer in Athen demonstrativ um und stellte durch eine erneute Zahlungsverschiebung spektakulär klar, wer wirtschafts- und finanzpolitisch in Athen wirklich das Sagen hat: Die von den „Institutionen“ entsandten Technokraten, ganz wie zu den Zeiten der früheren „Troika“.
„EU- Protektorat Griechenland“?
Die historische Wiege der Demokratie, das stolze Hellas, bewegt sich faktisch wirtschafts- und finanzpolitisch immer stärker in Richtung auf ein „EU-Protektorat Griechenland“ hin. Dafür sorgen die mit dem 3. Hilfsprogramm für Griechenland massiv verschärften Auflagen. Eine öffentliche Demütigung der griechischen Demokratie ist dabei die völlig instinktlose Vorgabe, dass sich die eben wieder gewählte Regierung Tsipras alle relevanten Gesetzentwürfe zur Umsetzung der Auflagen vor Einbringung in das Parlament von den Vertretern der „ Institutionen“ absegnen lassen muss.
Risiko: failed state in Südosteuropa
Der Stil, mit dem die Prüfer vor Ort und anschließend die Eurogruppe Tsipras finanziell an der kurzen Leine zappeln lassen, ist sachlich unbegründet, demütigend und beschädigt die griechische Regierung mitten in der schwierigsten Phase der Auseinandersetzung um die sogenannten Reformen des 3. Hilfsprogramms. Die scheinbar unendliche Zitterpartie um die Gewährung von finanziellen Teiltranchen ist zudem eine entscheidende Ursache für den zähen Attentismus in- und ausländischer Investoren in Griechenland. Da fragt man sich unwillkürlich, wer schafft eigentlich die Wende in Griechenland, wenn Tsipras jetzt scheitert? Was kommt politisch dann danach? Einen „failed state Griechenland“ kann sich wohl die EU mitten in der ungeheuren Herausforderung des Flüchtlingsdramas zuletzt leisten. Griechenland hat doch bei der Bewältigung dieser Krise an der Süd-Ost-Flanke Europas eine entscheidende Schlüsselrolle.
Vertragstreue trotz kontroverser Agenda
Am guten Willen und an Standfestigkeit hat es Tsipras bei der Umsetzung der sogenannten Reformen im Rahmen des 3. Hilfsprogramms wahrlich nicht gefehlt. Obwohl er nach seinem 1. Wahlsieg im Januar mit einer diametral entgegengesetzten politischen Agenda antrat. Ob z.B. bei der massiven Erhöhung der Mehrwertsteuer, den Kürzungen im Rentensystem, beim Subventionsabbau für Landwirte oder auch bei problematischen Privatisierungsmaßnahmen. Insgesamt hat die griechische Regierung trotz der Zeitverzögerungen durch einen zusätzlichen Wahlkampf schon 17 der 48 sogenannten Reformen des 3. Hilfsprogramms parlamentarisch durchgesetzt. Tsipras hat insofern weit gravierendere Belastungen und Einschnitte einer neoliberalen, aus seiner Sicht konzeptionell falschen Austeritäts-Politik unter dem Druck der Eurogruppe vertragstreu umgesetzt als seine in Berlin geschätzten Vorgängerregierungen, die Griechenland in Jahrzehnten hemmungsloser Klientelwirtschaft an die Wand gefahren hatten.
Soziale Kompromissfähigkeit bei Zwangsversteigerungen
Es ist daher unverständlich, dass die Prüfer der „Institutionen“ vor Ort und die Eurogruppe der Finanzminister unter deutscher Führung auf eine extrem harte Gesetzesvariante für die Zwangsversteigerung von Immobilien im Falle von Zahlungsrückständen bei Hypothekenkrediten bestehen, die eine ohnehin wachsende Protestbewegung gegen die „Liste der Grausamkeiten“ des 3. Hilfsprogramms potenzieren wird. Tsipras will in der desaströsen ökonomischen und sozialen Situation eine wirksame Armutsgrenze einführen, die zumindest Zwangsräumungen im ganzen Land bei Einkommensschwachen verhindert. Es geht hier schließlich darum, dass nicht Abertausende von Familien ihre Wohnungen oder Häuser durch Zwangsräumungen verlieren. Eine deutsche Bundesregierung, die ihre Bekenntnisse zur „Sozialen Marktwirtschaft“ Ernst nimmt, müsste genauso wie Tsipras eine gnadenlose Gesetzesvariante der Prüfer, die 90 Prozent der säumigen Hypothekenschuldner mit Zwangsversteigerung bedroht, geschlossen ablehnen und hier sozialverträglich kompromissfähig sein.
Griechenland hat Schuldentragfähigkeit längst verloren
Man muss sich die Frage stellen, wie viele Knüppel die Eurogruppe eigentlich Tsipras noch auf dem schwierigen Weg bis zu einer Umschuldung der Kreditlasten Griechenlands zwischen die Beine werfen will. Ohne eine solche Umschuldung zur Jahreswende bekommt das Land nicht die finanzielle Luft, die für eine wirtschaftliche Trendwende unerlässlich ist. Griechenland hat auch nach Auffassung des Internationalen Währungsfonds (IWF) längst seine Schuldentragfähigkeit verloren und kommt so bei allen Anstrengungen nicht mehr aus der Zitterpartie um seine Zahlungsfähigkeit heraus. Dies war übrigens die ehrliche Analyse von Yannis Varoufakis, der genau deshalb in der Berliner Großen Koalition so unbeliebt war.
Letzte Chance Umschuldung
Tsipras und die gesamte Eurozone haben nach einem total prozyklischen, rezessionsverschärfenden Parcours sogenannter Reformmaßnahmen eigentlich nur noch die Umschuldung als letzte Chance, doch noch Griechenland das Licht am Ende des Tunnels zu zeigen. Und diese eine Chance im Rahmen des 3. Hilfsprogramms hat nur der IWF geöffnet, weil er ohne Umschuldung die weitere Entwicklung in Griechenland nicht mehr begleiten wollte. Dabei ist klar, dass die Berliner Bundesregierung einen formellen Schuldenschnitt, den „haircut“ mit prozentualer Abschreibung der Forderungen im Bundeshaushalt unbedingt verhindern will. Aber derselbe Entlastungseffekt, die unverzichtbare finanzielle Atempause, ist unter Vermeidung dieses Reizbegriffs „ Schuldenschnitt“ auch durch eine weitere Modifikation der Zahlungsbedingungen auf der Zeitachse möglich. Entscheidend ist, dass nur dann positive Förderimpulse, wie durch das Investitionsprogramm Jean Claude Junckers oder mittelständische Förderkredite zur wirtschaftlichen Erholung führen können. Ohne finanzielle Atempause beim Schuldendienst bleiben Staatsbankrott und Grexit die destruktiven und dominanten politischen Themen in der Eurozone. Diese unendlich negative Psychologie verhindert bisher auch, dass die europäischen Institutionen als Gläubiger langfristig eine reelle Chance haben, noch etwas von ihrem Geld zu sehen und den Teufelskreis ihrer bisher kontraproduktiven Rettungsprogramme zu stoppen.
„Diese unendlich negative Psychologie“ ist es auch, die mal wissenschaftlich detailliert untersucht gehört.
Denn tatsächlich scheint es und fühlt sich wirklich an, als wären hier massenpsychologische Methoden am Werke, längst jenseits der Experimentierphase. Warum SOLL Griechenland also stürzen? Nicht nur scheitern und bestohlen werden, nein, vollends implodieren? (…Kürz. Redaktion BdR)