7.1 Grundidee des Handels mit virtuellem Wasser
In den vorangegangenen Artikeln der ThemenSpezial (Teil 1 bis 6) wurde das virtuelle Wasser, also die gesamte Wassermenge, die für die Erzeugung eines Produktes aufgewendet wird, eingeführt und anhand von Waren aus dem Alltag eingehend erörtert. Es zeigte sich, dass Menschen nicht nur Wasser direkt zum Trinken, Kochen, Waschen etc. (in Deutschland aktuell 120 l pro Einwohner und Tag), sondern im wesentlich größeren Ausmaß
indirekt über den Konsum von Waren aller Art wie Nahrung, Kleidung, Papier etc. (in Deutschland aktuell rd. 4.000 l pro Einwohner und Tag) nutzen. Das Konzept des virtuellen Wassers ermöglicht es, den Wassereinsatz aller produzierten und gehandelten Waren transparent zu machen. Damit gibt es erstmals ein Instrumentarium, alle Waren auf ihren Wassereinsatz und ihre „Ersetzbarkeit“ durch andere Waren, denen weniger virtuelles Wasser innewohnt oder anders ausgedrückt, die mit weniger Wasser produziert wurden, zu untersuchen. Nutzt man nun noch das daraus weiterentwickelte Konzept des Wasserfußabdrucks, bei dem berechnet wird, wieviel Wasser beim Verbrauch eines Gutes verlorengeht und wo das im Produkt enthaltene virtuelle Wasser entnommen wurde, so erhält das Ganze zusätzlich eine regionale Komponente. Dadurch dass man erfasst, wo ein Produkt produziert und wohin es über den globalisierten Handel exportiert wird, kann man die Bewegung des darin enthaltenen virtuellen Wassers rund um den Globus analysieren. Auf diese Weise wird klar, wie Wasserressourcen in einem Land zur Herstellung einer Handelsware für den Konsum in einem anderen Land in Anspruch genommen werden. Wenn man nun die Bewertung der verschiedenen Handelsgüter bzgl. des darin „eingebetteten“ virtuellen Wasser kennt, ist es naheliegend, diesen Handel mit virtuellem Wasser strategisch so zu nutzen, dass wasserintensive Produkte nach Möglichkeit in wasserreichen Regionen (Wasserüberschussgebiete) produziert und in wasserarme Regionen (Wassermangelregionen) exportiert werden, wie Abb. 22 verdeutlicht.
Auf diese Weise kann, wie J. A. Allan, der „Erfinder“ des Konzepts des virtuellen Wassers es formulierte, die unterschiedliche Wasserverfügbarkeit einzelner Regionen ausgeglichen werden. Ziel dieses Ansatzes ist es also, die Produktion wasserintensiver Güter räumlich zu verlagern und so Wasser zu sparen und dadurch einen Beitrag zur langfristigen Bewältigung der Wasserkrise zu leisten.
7.2 Internationale virtuelle Wasserströme
A. Y. Hoekstra und seine Kollegen vom Water Footprint Network haben diesen Gedanken in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich intensiv untersucht und so die Handelsströme wassergebundener Güter und damit des virtuellen Wassers anhand einzelner Produkte sowie dem Export und Import einzelner Länder erstmals quantitativ und räumlich transparent gemacht. Abb. 23 zeigt als Beispiel die Ströme von virtuellem Wasser nach Europa durch den Import von Agrar- und Industriegütern. Die Grafik macht die Dimensionen der weltweiten virtuellen Wasserströme deutlich.
Nach Berechnungen von Mekonnen & Hoekstra (2011) beläuft sich das globale Volumen der internationalen virtuellen Wasserströme, das im Handel von Agrar- und Industriegütern steckt, auf 2.320 Mrd. m³ pro Jahr (Mittelwert des zehnjährigen Zeitraums 1996- 2005). Die agrarische Produktion stellt mit 70 % des jährlich verwendeten Süßwassers, nach neueren Studien (wegen des Wachstums des weltweiten Agrarhandels) sogar 86 % (Hoekstra & Mekonnen., 2012), den weltweit den größten Anteil. Und ca. 16 % dieser Wasserentnahmen der Landwirtschaft werden für Produktion von Agrargütern verwendet, die für den Export bestimmt sind (Brüntrup, 2005).
Das Gesamtvolumen der virtuellen Wasserströme setzt sich aus Exporten und Importen von wassergetragenen Gütern zusammen. Die Hauptexportländer sind weltweit, wie schon im Teil 2 dieser Serie angeführt, die USA, gefolgt von China und Indien. Beim Import steht Deutschland mit 125 Mrd. m³ pro Jahr nach den USA und Japan bemerkenswerterweise an dritter Stelle (Details siehe Teil 4 dieser Serie).
Da die meisten Länder sowohl wassergetragene Güter importieren als auch exportieren, ist die Netto-Bilanz, wie in Abb. 23 für den Import nach Europa dargestellt, aussagekräftiger, will man den Gesamt-Wasserfußabdruck einzelner Länder beurteilen.
Auf der Weltkarte in Abb. 23 sind zum einen die Exportländer wie z.B. die USA oder Brasilien (mit negativen Bilanzzahlen in der Legende!) in Grüntönen und die Importländer, z.B. Süd-, Mittel- und Nordeuropa in gelben bis dunkelroten Farben flächenhaft dargestellt; zum anderen kennzeichnen die Pfeile die Ströme virtuellen Wassers: Die Länder, von denen Pfeile ausgehen, sind Nettoexporteure und die Länder, in die die Pfeile zeigen, sind Netto Importeure von virtuellem Wasser (je dicker der Pfeil, desto größer ist das virtuelle Wasservolumen). Es ist gut zu erkennen, dass die größten Netto Exporteure in Nord und Südamerika, Südasien und Australien zu finden sind; hier handelt es sich um die großen Fleisch- und Futtermittelexporteure der Welt. Die Herkunft der virtuellen Wasserimporte ist in dieser Graphik nur für Europa dargestellt, das im Mittel immerhin 40 % seines eigenen Nahrungsmittelverbrauchs, im Wesentlichen Fleisch und Getreide, von außerhalb Europas importiert.
Import von virtuellem Wasser schont die Wasserressourcen des importierenden Landes; dies kann in wasserarmen Ländern oder Regionen zur Entschärfung von vorhandenen oder kommenden Wasserkonflikten beitragen. Bei den Nettoimporteuren trifft dies mit Sicherheit auf die wasserarmen Länder in Nordafrika, im mediterranen Raum, im Nahen Osten und in Mexiko zu. Andererseits importieren west- und nordeuropäische Länder große Mengen von virtuellem Wasser, obwohl diese Länder keineswegs durch Wassermangel geprägt sind. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass sich der internationale Handel nicht oder nur unzureichend an der Wassersituation in den Import- oder Exportländern orientiert.
Neben dieser wasserpolitischen Dimension des Handels mit virtuellem Wasser kann es auch ökonomisch sinnvoll sein, dass Länder solche Güter produzieren und exportieren, die sie im Vergleich zu anderen konkurrierenden Ländern günstiger herstellen können. Als typisches Beispiel wird hier häufig Mexiko genannt, das seinen Mais fast ausschließlich aus den USA importiert. Als wirtschaftlich (und ökohydrologisch) unsinniges Beispiel führt M. Brüntrup (2005) Saudi-Arabien an, das durch Nutzung von fossilem Grundwasser und Entsalzung von Meerwasser zu einem der größten Weizenexporteure der Welt geworden ist.
7.3 Wasserspareffekt durch Handel mit virtuellem Wasser
Durch den Welthandel, der im Zeitalter der Globalisierung eine bisher nicht dagewesene Größenordnung erreicht hat (mit weiter wachsender Tendenz), werden heute schon große Handelsströme an virtuellem Wasser rund um den Globus transportiert. Bei der Erörterung der Wassernutzung wurde festgestellt, dass der weitaus größte Anteil des Wasserverbrauchs der Menschheit auf die Produktion von Nahrungsmitteln entfällt; in der Einführung zu diesem Thema wurde von einem globalen Mittel von 70 % ausgegangen, nach neuen Untersuchungen von Hoekstra & Mekonnen (2012) sogar von 86 % des Wasserkonsums der Menschheit. Daher ist es naheliegend, sich beim Handel mit virtuellem Wasser auf den Nahrungsmittelsektor zu konzentrieren, da hier die größten Einsparpotentiale zu erwarten sind, wenn „wasserarme Länder ihren Bedarf an Nahrungsmitteln durch Importe aus wasserreichen Ländern decken“ (Horlemann & Seubert, 2006a).
Als regionales Beispiel für mögliche Wassereinsparung wird häufig Mexiko zitiert. Mexiko, ein wasserarmes Land, importiert einen Großteil seines Maisbedarfs aus den Vereinigten Staaten und spart dadurch rund 12 Mrd. m³ der knappen nationalen Wasserressourcen pro Jahr ein, die es benötigt hätte, um die gleiche Menge Mais im eigenen Land herzustellen.
Wie groß ist die globale Wassereinsparung durch den weltweiten Handel mit Nahrungsmitteln, der mit dem weltweiten Handel mit Wasser gleichgesetzt werden kann?
In einer Untersuchung der Water Footprint-Gruppe um A. Y. Hoekstra aus dem Jahre 2011 wurde hypothetisch ermittelt, wieviel Wasser ein Importland für die Herstellung der importierten Güter im eigenen Land und im Vergleich zum reellen Wassereinsatz im Exportland benötigt hätte. Es ergab sich in der globalen Bilanz im Mittel des Zeitraums von 1996 bis 2005 durch den Handel mit agrarischen Produkten eine Einsparung von 369 Mrd. m³ Wasser pro Jahr; dies entspricht gut 4 % des globalen Wasserfußabdrucks für landwirtschaftliche Produkte (Mekonnen & Hoekstra, 2011)[2]. Die Einsparungen ergeben sich dadurch, dass aus klimatischen und technologischen Gründen das Wasser in einzelnen Ländern deutlich effizienter genutzt wird. Wie beim Wasserfußabdruck einzelner Agrarprodukte in Teil 5 dieser Serie ausführlich erläutert, werden z.B. für die Produktion von 1 kg Weizen im Iran 3.615 l Wasser benötigt (rd. ein Viertel davon blaues Wasser für Bewässerungsfeldbau), wohingegen in Frankreich für die gleiche Menge des gleichen Produkts lediglich 587 l Wasser zum Einsatz kommen (VDG, 2011). Ähnliches gilt für andere Agrarprodukte, wenn auch nicht mit so extremen Unterschieden. Die Einsparpotentiale können also, wie dieses Beispiel zeigt, relevant sein. Die eingesparten Wassermengen könnten dann alternativ eingesetzt werden, sei es für die Versorgung der Einwohner mit Trink- und Sanitärwasser, sei es für den Anbau weniger wasserintensiver oder höherwertiger Agrarprodukte, die eine größere Wertschöpfung pro eingesetztem Liter Wasser ergeben. Eine Nutzung für die Produktion industrieller Güter kann je nach Entwicklungsstand des Landes ebenfalls eine wirtschaftlich interessante Alternative darstellen.
Lässt sich nun der global gesehen niedrige Wasserspareffekt durch verstärkten (strategischen) Handel mit virtuellem Wasser zukünftig weltweit erhöhen, um so – wie A. Allan es formulierte (Allan, 1993) – die unterschiedlichen Wasserverfügbarkeiten einzelner Länder auszugleichen und langfristig die Wasserkrise und die damit einhergehenden regionalen Konflikte zu bewältigen? Die Chancen und Grenzen des strategischen Handels mit virtuellem Wasser sollen im folgenden Kapitel beleuchtet werden.
7.4 Strategischer Handel mit virtuellem Wasser
Handel mit virtuellem Wasser als „handlungsleitende Strategie“ für die Wasser- und Agrarpolitik, wie es M. Brüntrup vom Deutschen Entwicklungspolitischen Institut (DIE) ausdrückt (2011), befindet sich jedoch noch im Diskussionsstadium und wird sehr unterschiedlich bewertet. Aufbauend auf zwei internationalen Kongressen zu diesem Thema haben L. Bornemann &. S. Neubert vom DIE im Jahre 2006 eine erste umfassende, multidisziplinäre Erörterung der Chancen und Risiken des Konzepts vorgestellt (Bornemann & Neubert, 2006a). In der Studie stehen zwar, da sie Handlungsempfehlungen für die zukünftige Entwicklungsarbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), dem Auftraggeber der Studie, liefern sollte, entwicklungspolitische Aspekte im Vordergrund; viele Aussagen haben jedoch grundsätzlichen Charakter und sollen daher im Folgenden bei der Bewertung des Konzepts einfließen.
7.4.1 Erwartete positive Effekte
Die Befürworter des Konzepts führen eine Reihe von Vorteilen des strategischen Handels mit virtuellem Wasser an:
- Wasserdefizite werden ausgeglichen und die heimischen Wasserressourcen entlastet.
- Wasser wird dort eingesetzt, wo es am wenigsten knapp ist und wo seine Nutzung die geringsten ökologischen Auswirkungen verursacht.
- Die Nahrungsmittelversorgung wird sicherer, da die landwirtschaftliche Produktion weniger von Klimaschwankungen und der örtlichen Wasserverfügbarkeit abhängt.
- Die Gefahr von Wasserkonflikten auf lokaler und regionaler Ebene wird gemindert bzw. verhindert.
Kostenintensive und nicht nachhaltige großtechnische Projekte der Wasserbereitstellung für den Bewässerungslandbau (großräumiger Wassertransfer mit Hilfe von Kanalsystemen und/oder großvolumige Wasserspeicherung mit Hilfe von Talsperren) könnten durch den strategischen Handel mit virtuellem Wasser ersetzt werden (Bornemann & Neubert, 2006b).
7.4.2 Befürchtete negative Effekte
Kritiker des Konzepts befürchten gravierende negative Effekte bei der gezielten Einführung des strategischen Handels mit virtuellem Wasser:
- Die nationale Nahrungsmittelsouveränität muss aufgegeben werden. Dies widerspricht nach Ansicht der Welthungerhilfe diametral den nationalen Armutsbekämpfungsstrategien der meisten Entwicklungsländer (Welthungerhilfe, 2011). Außerdem entsteht eine Abhängigkeit von den Lieferländern der Nahrungsmittel und die Gefahr, dass Importländer sich politisch erpressbar machen.
- In vielen (armen) Ländern fehlen ausreichende Deviseneinnahmen, um Nahrungsmittelimporte dauerhaft bezahlen zu können.
- Eine gute Transport-und Infrastruktur muss vorhanden sein oder vorab installiert werden, um die importierten Nahrungsmittel im ganzen Land sicher zu verteilen.
- Als grundsätzliche Schwachstelle des Konzepts wird kritisiert, dass den Handelsströmen virtuellen Wassers nicht zu entnehmen ist, ob bei Produktion der Güter im Exportland der Wassereinsatz vor Ort nachhaltig erfolgt ist. Wenn z.B. Mexiko Mais aus den USA importiert, wird dadurch in erheblichem Maß virtuelles Wasser gespart (s. Kap. 7.2), da die industrielle Landwirtschaft in den USA weniger Wasser pro kg Mais benötigt. Dennoch ist die Produktion z.B. im mittleren Westen der USA nicht nachhaltig, da dort Fluss- und Grundwasser übernutzt wird, argumentiert die Hydrogeographin P. Döll (2013).
Der Leipziger Umweltökonom E. Gawel geht einen Schritt weiter und behauptet, dass die Betrachtung des Handels mit virtuellem Waser nur unter dem Gesichtspunkt des Wasserverbrauchs ohne einen Nachhaltigkeitsbezug herzustellen, „in die Irre führe“. Der Handel mit virtuellem Wasser verursache Wohlfahrtsverluste ohne Umweltprobleme zu lösen (Gawel, 2013).
Fakt ist, dass zurzeit der Handel mit Nahrungsmitteln nur nach den Kräften des Wettbewerbs bestimmt wird und nicht an der Wassersituation eines Exportlandes ausgerichtet ist. Kumar & Jain (2007) haben eindrucksvoll nachgewiesen, dass es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen hohem externen Wasserfußabdruck durch Import von virtuellem Wasser und lokaler Wasserknappheit sowohl in den Import- als auch Exportländern gibt. Es ist sogar so, dass die Hauptexporteure von virtuellem Wasser aktuell die großen Industrieländer wie USA, Kanada, Australien oder China sind, wie schon in Teil 3 dieser Serie im Zusammenhang mit den nationalen Wasserfußabdrücken ausführlich dargestellt. Andererseits ist Deutschland z.B. der drittgrößte Wasserimporteur der Welt, obwohl es im Grunde genommen nicht als Wassermangelregion bezeichnet werden kann.
Viele Ökonomen halten daher die gezielte Umsetzung des internationalen Handels mit virtuellem Wasser als handelspolitische Strategie für unrealistisch.
Sozialwissenschaftler sehen die Gefahr, dass bei der politischen Umsetzung des Handels mit virtuellem Wasser
- der ländliche Raum verödet, da durch die deutliche Reduzierung der Arbeitsplätze im landwirtschaftlichen Sektor verstärkt Arbeitslosigkeit, Landflucht und Verstädterung eintreten kann,
- eine erhebliche Verschiebung der Machtstrukturen in den Ländern dadurch eintreten kann, dass ein staatliches Machtmonopol über die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung entsteht. Gute Regierungsführung ohne Korruption und Klientelismus ist daher eine zwingende Voraussetzung.
Wasserexperten weisen auf einige Unstimmigkeiten des Konzepts hin:
- Ob Wasser ein globales oder ortsgebundenes Gut ist, wird sehr kontrovers diskutiert.
Nach A. Y. Hoekstra ist virtuelles Wasser ein globales Gut, da es global gehandelt wird. Er fordert folgerichtig internationale Abkommen z.B. zum adäquaten Preis für Wasser oder im Einzelfall Exportschranken für Güter, die bei ihrer Produktion die Wasserressource übernutzen. E. Gawel argumentiert dagegen, dass Wasser kein globales Gut sei, da die Auswirkungen des Wasserverbrauchs stets ortsgebunden, d.h. auf ein Einzugsgebiet bezogen sei, ganz im Gegensatz zu klimaschädigenden Treibhausgasemissionen. Wasseraktivisten wie Maude Barlow, denen es vorrangig um das Wasser als Gemeingut der Menschheit und das Recht des Menschen auf adäquate Trink- und Sanitärwasserversorgung geht, sehen dagegen Wasser eindeutig als ein globales Problem, da die zunehmende lokale Wasserverknappung weltweite Auswirkungen habe; zu sehen aktuell z.B. an den großen Flüchtlingsströmen, die sich nicht an hydrologischen Einzugsgebieten orientieren. Dies ist eine umfassendere Sicht des Problems, die weit über die rein ökonomischen und ökologischen Fragestellungen hinausgeht.
- Bei der gezielten Einführung des strategischen Handels mit virtuellem Wasser muss dem Wasser ein kostendeckender Preis zugeordnet werden, damit es in einer komparativen ökonomischen Kalkulation neben Boden, Arbeit und Kapital als Kostenfaktor eingeht. M. Barlow (2014) kritisiert, dass dadurch Wasser zu einem Handelsgut werde, obwohl es ein Gut der Allgemeinheit sei. Dies wiederspreche dem Menschenrecht auf Wasser, das seit dem 28. Juli 2010 durch eine von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Resolution für alle Staaten verbindlich eingeführt wurde.
Diese Zusammenstellung zeigt, dass strategischer Handel mit virtuellem Wasser aus unterschiedlicher fachlicher Perspektive Vorteile und Schwachstellen aufweist und dass im konkreten Fall eine Vielzahl von Aspekten berücksichtigt werden müssen, bevor der strategische Handel mit virtuellem Wasser als Instrument eines nachhaltigen Wasserressourcen-Management genutzt werden kann. Dies bedeutet, dass die Chancen und Risiken auf regionaler Ebene betrachtet werden müssen unter Berücksichtigung der spezifischen sozio-ökonomischen Verhältnisse eines Landes/einer Region. Folgerichtig leiten Horlemann & Neubert (2006a) in ihrer Studie daraus eine differenzierte Betrachtungsweise der Regionen und Länder ab, die für die Einführung des strategischen Handels mit virtuellem Wasser geeignet oder grundsätzlich nicht geeignet sind. Die wesentlichen Ergebnisse sollen im folgenden Kapitel zusammenfassend vorgestellt werden.
7.4.3 Für welche Länder könnte strategischer Handel mit virtuellem Wasser sinnvoll sein?
- Für Länder mit extremer absoluter Wasserknappheit, die die Nahrungsmittel für ihre Bevölkerung nicht in ausreichender Menge im eigenen Land produzieren können, ist der Handel mit virtuellem Wasser unausweichlich.
- Für wasserarme Länder mit höherem Einkommen, die sie entweder durch Industrialisierung oder durch vorhandene Rohstoffe mit hoher Wertschöpfung generieren, kann der strategische Handel mit virtuellem Wassers attraktiv sein, soweit sie eine gute Infrastruktur und alternative Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft aufweisen.
Dies ist der Fall in Ländern des Nahen Ostens und den sog. Ankerländern[3] sowie in einigen kleineren Schwellenländern. In diesen Ländern werden geringe negative sozio-ökonomische Folgen erwartet, wenn der Prozess langsam und umsichtig unter guter Regierungsführung umgesetzt wird.
- Länderübergreifender Handel mit virtuellem Wasser, in Regionen, in denen wasserarme und wasserreiche Länder mit vergleichbaren sozio-ökonomischen Verhältnissen vorhanden sind.
Dies trifft z. B. auf die Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft (SADC-Region[4]) zu. Die stärker industrialisierten, aber wasserarmen Länder wie Südafrika und Botswana würden Nahrungsmittel aus den wirtschaftlich ärmeren, aber wasserreichen Nachbarländern wie Sambia importieren. Hier kann der strategische Handel mit virtuellem Wasser sinnvoll sein.
- Innerstaatlicher Handel mit virtuellem Wasser in Ländern, deren Wasserressourcen heterogen verteilt sind. Dies existiert in einigen Ländern de facto schon seit längerem oder erscheint relativ problemlos realisierbar zu sein. Für landwirtschaftliche Gunstregionen birgt der strategische Handel mit virtuellem Wasser große Wassereinsparpotenziale sowie ökologischen und wirtschaftlichen Vorteilen.
Ein typisches Beispiel ist China mit einem relativ wasserreichen Süden und einem ausgesprochen wasserarmen, dicht besiedelten Norden. Hier könnte der strategische Handel mit virtuellem Wasser kostenintensive und nicht nachhaltige Projekte der Wasserbereitstellung für den Bewässerungslandbau mit Hilfe von großräumigen Wassertransfer- und Speicherprojekten (wie z.B. das riesige Kanalsystem mit dem bis 40 Mrd. m³ Flusswasser pro Jahr aus dem Jangtsekiang nach Norden transportiert werden sollen), überflüssig machen.
- Für alle wirtschaftlich armen und wasserknappen Agrarländer und damit für die meisten Entwicklungsländer ist strategischer Handel mit virtuellem Wasser wegen des Mangels an Devisen gar nicht realisierbar und auch nicht wünschenswert, da wegen mangelnder ökonomischer Stärke die Nahrungsmittelimporte nicht finanziert werden können. Außerdem ist zu erwarten, dass die negativen Effekte auf die Wirtschaftsentwicklung sowie die soziale und kulturelle Integrität überwiegen (Horlemann & Neubert, 2006a).
Die Zusammenstellung zeigt, dass der strategische Handel mit virtuellem Wasser kein globales Mittel zur Lösung der weltweiten Wasserkrise sein kann, sondern nur in räumlich begrenztem Ausmaß sinnvoll eingesetzt werden kann, selbst wenn das Primat der Ökonomie hintangestellt wird. Bei Erfüllung einiger maßgeblicher Voraussetzungen verfügen die ausgewählten Regionen durchaus über ein signifikantes Wassersparpotential durch die Einführung des Handels mit virtuellem Wasser.
7.5 Fazit
Der Nutzen des strategischen Handels mit virtuellem Wasser wird zurzeit sehr kontrovers diskutiert.
Fakt ist,
- dass die heutigen globalen Handelsströme ein Ungleichgewicht des weltweiten Wasserverbrauchs erzeugen (Kap. 7.2);
- dass andererseits die errechneten Wassereinsparungen des heutigen Handels mit virtuellem Wasser von global 4 % eine relativ bescheidene Größenordnung aufweisen (Kap. 7.3). (Sie dürften m.E. im Rahmen der Unschärfe der zugrundeliegenden Daten und Berechnungsmodelle liegen);
- dass die Steigerung des Wasserspareffekts durch gezielte politische Einführung des strategischen Handels mit virtuellem Wasser mit vielen Risiken behaftet ist (Kap. 7.4) und
- dass es nur eine begrenzte Anzahl von Ländern und Regionen gibt, in denen strategischer Handel mit virtuellem Wasser überhaupt sinnvoll ist (Kap. 7.4.3) sowie last but not least;
- dass es in der internationalen Praxis andere Wassersparoptionen wie „Steigerung der Effizienz der Wassernutzung“, „Wiederverwendung von Abwasser“ oder „Veränderung der Lebens- und Konsummuster“gibt, die als leichter und erfolgversprechender umsetzbar angesehen werden.
- dass angesichts der realen Krisenbewältigungsmechanismen der Weltgemeinschaft bei aktuellen globalen Problemen wie Klimawandel, den Flüchtlingsströmen etc. eine Lösung der Wasserkrise mit einer Strategie, die weitgehende und verbindliche globale Absprachen zwingend erfordert, eher illusorisch zu sein scheint.
Schlussfolgerung:
- Die Umsetzung des Konzepts des strategischen Handels mit virtuellem Wasser ist also problematisch und taugt E. nur bedingt zur Lösung der globalen Wasserkrise.
- Der strategische Handel mit virtuellem Wasser kann in einigen (wenigen) Regionen Vorteile bieten und dort einen Beitrag zur Lösung der regionalen Wasserprobleme leisten, unter der Voraussetzung, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit bei der Wassernutzung im Exportland berücksichtigt wird.
Der Hauptvorteil des Konzepts des virtuellen Wassers liegt zweifelsohne darin, dass es den weltweiten Verbrauch der Ressource Wasser transparent macht und so eine wertvolle Entscheidungshilfe für Politik und Wirtschaft geschaffen wurde. Darüber hinaus kann in Kombination mit den prognostizierten Ergebnissen verschiedener Klimaänderungsszenarien das Ausmaß von zukünftigem Wassermangel in bestimmten Regionen abgeschätzt werden. Prognostizierter Wassermangel in den Herkunftsländern könnte für Importländer von virtuellem Wasser von großer Bedeutung sein (Orlowsky et al., 2014).
Schließlich muss ein Problemkreis angeführt , der in vielen Diskussionen nur am Rande erwähnt wird: Wenn der Handel mit virtuellem Wasser strategisch vorangetrieben werden soll, muss dem öffentlichen Gut Wasser ein Preis, der die ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Kosten realitätsnah wiederspiegelt, zugeordnet werden. Nur dann kann Wasser neben Boden, Arbeit und Kapital als ein Kostenfaktor in eine komparative wirtschaftliche Analyse eingehen. Dann aber wird Wasser ein Handelsgut. Wollen wir das? Ist Wasser nach M. Barlow nicht ein „Allmend“, ein der Allgemeinheit gehörendes Gut? Mit dem Wasser als Handelsgut kommt automatisch die Frage des Menschenrechts auf Wasser. Dieses Thema soll in einem eigenen Artikel gesondert erörtert werden.
Zum Abschluss der Artikel-Serie über das virtuelle Wasser muss die über der Artikelserie stehende Grundfrage, ob „virtuelles Wasser ein realistisches Konzept für die nachhaltige Versorgung der Menschheit mit Wasser“ sein kann, beantwortet werden. Hierzu sollen im nächsten Artikel die Vor- und Nachteile der aufgezeigten Einzelaspekte aus Teil 1 bis 7 zusammenfassend bewertet werden.
Bildquelle: Wikipedia: Duerre.jpg, Cepkeliu marsh.jpg
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[1] s. auch unter „virtual water trade“ in www.waterfootprint.org
[2] Berechnungen von de Fraiture et al. (2004) für das Jahr 1995 ergaben allein für die weltweite Getreideproduktion Einsparungen von 422 Mrd. m³ im Regenfeldbau und 178 Mrd. m³ im Bewässerungsfeldbau. Diese Ergebnisse sind deutlich höher als die oben zitierten Werte. Da die Ergebnisse von Mekonnen & Hoekstra Mittelwerte einer 10-jährigen Reihe sind, werden diese Werte vom Autor als aussagekräftiger angesehen und im Text verwendet.
[3] = Länder, die regional durch Verflechtungen mit anderen Ländern eine herausragende wirtschaftliche u. politische Bedeutung haben (positiv wie negativ). Das DIE zählt aktuell 15 Staaten dazu:. China, Indien, Indonesien, Pakistan, Thailand, Ägypten, Iran, Saudi-Arabien, Nigeria, Südafrika, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Russland u. Türkei.
[4] SADC = Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft (Southern African Development Community) ist eine regionale Organisation zur wirtschaftlichen u. politischen Entwicklung in Ländern Südafrikas
Quellen:
Allan, J.A.: Fortunately there are substitutes for water otherwise our hydro-political future would be impossible. London: ODA, 1993, pp. 13-26.
Barlow, M.: Blaue Zukunft. München, 2014.
Brüntrup, M.: Ökonomische Überlegungen zum virtuellen Wasserhandel. Expertenstatement im Rahmen des BMZ-Projekts „Virtueller Wasserhandel – Ein realistisches Konzept zum Umgang mit Wasserarmut in Entwicklungsländern?“ Bonn, 2005.
Brüntrup, M.: Chanzen und Grenzen des virtuellen Wasserhandels. Bund ökologischer Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), 2011.
Fraiture, C. de, Ximing, C., Amarasinghe, U., Rosegrant, M. & D. Molen: Does International Cereal Trade Save Water? The Impact of Virtual Water Trade on Global Water Use, Comprehensive assessment of water management in agriculture Research Report No. 4, IWMI. Colombo, 2004.
Gawel, E.: Virtuelles Wasser – Mehr als ein Glasperlenspiel ?.2013 (http.www.scilogs.de/umweltforsch/category/allgemein).
Hoekstra, A.Y. & M.M. Mekonnen: The water footprint of humanity. PNAS, Vol. 109, no. 9, 2012, pp. 3232-3237
Horlemann, L. & S. Neubert: Virtueller Wasserhandel – Ein realistisches Konzept zur Lösung der Wasserkrise? Deutsches Entwicklungspolitisches Institut Studie 22, Bonn, 2006a.
Horlemann, L. & S. Neubert: Virtueller Wasserhandel zur Überwindung der Wasserkrise? 2006b.(http:www.bpb.de/apuz/29700)
Kumar, V. & Sharad Jain: Status of virtual trade from India. Current Science 93, No. 8, 2007, pp. 1093-1099.
Mekonnen, M.M. & A.Y. Hoekstra: National footprint accounts: the green, blue and grey water footprint of production and consumption. UNESCO-IHE, Delft, Value of Water Research Report Series No. 50, 2011.
Orlowsky, B., Hoekstra, A.Y., Gudmundson, L. & S.I. Seneviratne: Today’s virtual water consumption and trade under future water scarcity. Environ. Res. Lett. 9, 2014,074007, pp. 1-10.
VDG-Vereinigung Deutscher Gewässerschutz (Hrsg.): Virtuelles Wasser. Weniger Wasser im Einkaufskorb. Schriftenreihe der Vereinigung Deutscher Gewässerschutz Bd. 75, Bonn, 2011.
Welthungerhilfe (Hrsg.): Wasser – reichlich vorhanden und doch so knapp. Wie Wasserknappheit die Ernährungssicherheit bedroht. Brennpunkt Nr. 21. Bonn, 2011.
Teil 1: Zum virtuellen Wasser und Wasserfußabdruck
Teil 2: Globaler Wasserfußabdruck oder Wasserfußabdruck der Menschheit
Teil 3: Nationale Wasserfußabdrücke
Teil 4: Deutschland – weltweit drittgrößter Importeur von virtuellem Wasser
Teil 5: Wasser im Einkaufswagen – Zum Wasserfußabdruck der Hauptimportgüter Deutschlands
Teil 6: Wasserverluste durch Lebensmittelvernichtung oder Wassersparen durch Lebensmittelrettung
Teil 7: Handel mit virtuellem Wasser
Es ist gut und nötig, dass dieses Thema endlich in seinen verschiedenen Facetten öffentlich diskutiert wird.
Danke dem Autor für die Mühe diese Fakten zusammen gestellt zu haben und dass er sie in engagierter Weise nachvollziehbar bewertet hat.