Der verstorbene rheinische Kabarettist Hans Dieter Hüsch hat über seinen Freund Walter Hanel gesagt: „ Wenn wir bei seinen Arbeiten länger hinschauen, dann wissen wir, was wir von uns zu halten haben“. Hüsch musste es wissen. Er kannte Walter Hanel sehr gut; beide gehörten zu jenem linksliberalen Zirkel um den Kölner Gastronom Gigi Campi, dessen traditionelles Cafe auf der Hohe Straße in den Siebzigern zum beliebten Treff für Musiker, Intellektuelle, Journalisten und Politiker wurde. Der Fotograf Chargesheimer ging hier ein und aus, Heinrich Böll traf sich in diesem Cafe mit Günter Grass, sogar Caterina Valente kam auf einen Espresso vorbei. Der quirlige und politisch ambitionierte Italo-Linke Gigi Campi war der ruhelose Star, der sie alle angezogen hat.
Im Frühjahr 1972 lautete sein Plan, eine drohende Niederlage des Kanzlers Willy Brandt bei den vorgezogenen Wahlen zum Deutschen Bundestag zu verhindern. Ein Jahr zuvor hatte Willy Brandt ein Misstrauensvotum knapp überstanden, jetzt standen die Dinge wieder auf Spitz und Knopf. Das Land schien auf nie gekannte Weise politisch polarisiert.
Für die konservative Rechte schien Brandt ein Verräter, der Deutschland mit der Hilfe eines Ex-Kommunisten an Moskau verhökern wollte. Sie setzte auf den CDU- Kanzlerkandidaten Barzel, hinter dem man nicht zu Unrecht Franz-Josef Strauß als starken Mann vermutete. Aufgeregt malte die sozial-liberale Koalition die Gefahr einer autoritären Machtübernahme an die Wand. Sie nahm sich vor, diese „ deutsche Schicksalswahl“ mit einem breiten Votum für Brandt zu entscheiden.
Auch ich ging zu den Freunden ins Campi, wo eine Wählerinitiative gegründet worden war, die nur eine einzige Botschaft unter das Volk bringen wollte: Stoppt Strauß! Walter Hanel brachte eine Karikatur des in Bayern zwar populären, aber nördlich der Mainlinie weitgehend unpopulären Politikers mit, die in die damals aufgewühlte Stimmung zu passen schien. Das runde Gesicht des Bayern mit Hängebacken, die aufgedunsen wirken. Darüber die schweren, buschigen Augenbrauen , der herrisch- schmale Mund und das mächtige Doppelkinn. Das Haar ist straff gekämmt, in artig gescheitelten Strähnen. Kein Zweifel, das schien auf den ersten Blick fast der Leibhaftige zu sein. Bei genauerem Hinsehen schien Hanels Inkarnation des politisch Bösen aber sogar ein wenig zu lächeln. Der Strauß der Spiegel-Affäre, der All-Starfighter und Linkenfresser wirkte fast nachdenklich – irgendwie schien der Zeichner die Figur sogar zu mögen, die er doch eigentlich verspotten sollte.
Politiker vom Podest auf den Boden holen
Wollte Hanel dem Betrachter zeigen, dass der Umstrittene ein stinknormaler Mensch war, der auch nur seine Stärken und Schwächen hatte? Der Lacheffekt auf Kosten Anderer war Hanels Sache eigentlich nie. Selbst den erhobenen Zeigefinger kann man in seinen Arbeiten nicht finden; Zynismus und Weltverbesserei, die es bei Karikaturisten nur allzu häufig gibt, sind ihm fremd. Ein guter Karikaturist sei dazu da, den Politiker von seinem hohen Podest auf den Boden zurück zu holen und in einen Menschen zu verwandeln. So lautete sein Credo.
Der damalige Strauß-Aufkleber schien ein gutes Beispiel für diese subtile Aufklärung zu sein. Natürlich war Hanels Karikatur, die bei sozial-liberalen Sympathisanten einen reißenden Absatz finden sollte, zeichnerisch die pure Opposition. Aber sein Spott dokumentierte sich auf nachdenkliche Weise. Walter Hanel wollte vor dem Politiker Franz Josef Strauß warnen. Aber er verteufelte ihn nicht, sondern stellte den umstrittenen Bayern in nachdenkliche Zweifel. Seine Botschaft richtete sich auch an uns, die allzu lautstark und voreingenommen gegen den Politiker aus Bayern agitierten; sie zielte auf schwankende Wähler, die sich noch nicht sicher waren, ob sie nun Brandt oder Barzel bevorzugten. Ihre Unschlüssigkeit war damals noch groß. Deshalb hatte Hanel unter die Zeichnung die Frage gesetzt: „ Wollt Ihr den?“
Ich schreibe diese Anekdote, weil sie Einiges über Walter Hanel offenbart. Der skeptische und eher zurückhaltend wirkende Mann, dessen Arbeiten in fast allen deutschen Medien gedruckt worden waren, zeigte mit seinem persönlichen Engagement eine Zivilcourage, die Anfang der Siebziger Jahre unter deutschen Intellektuellen selten anzutreffen war. Die politische Szene im Land war politisiert; aber unter Künstlern, Schriftstellern und Freischaffenden grassierte die Angst, dass man nach einem politischen Outing Nachteile in Kauf nehmen musste. Beispiele dafür gab es genug; viele Journalisten verloren ihren Job, weil ihre Haltung den eigenen Verlegern oder Intendanten nicht passte.
Eine wütende Klage
Aber Hanel ließ sich nicht einschüchtern. Er versprühte weiterhin seinen Zorn, den man damals brauchte. Das kann man in seinen früheren Arbeiten erkennen. Hanels Karikatur nach dem Sturz von Brandt war eine wütende Klage: Das gestürzte Denkmal des Abgedankten, der Verräter Guillaume mit dem Gesicht einer Ratte, am Boden überall Trümmer, Schutt und Geröll, zwischen dem die zwielichtigen Abbruchgeräte des Polit-Verrats liegen: Hammer und Sichel, das glorifizierte Werkzeug der Machthaber in der DDR. Auch die Zeichnung des nach Teheran retirierten Religionsführers Khomeini ist eine anklagende Botschaft: Aus dem Rauschebart des Groß – Propheten sprießen unzählige Totenköpfe.
Hanel kommt selten humoristisch oder gar ulkig daher, meist seriös, ohne unkontrollierten Zorn, mit Augenmaß, auf der Höhe der Zeit, oft mit dem Blick über den Tellerrand hinaus. „ Hanels Arbeiten sind von einer heiteren Gelassenheit“, urteilte „DIE WELT“. Seine unverwechselbare, aber eindeutige Karikatur „ Ein Gespenst geht um in Europa“, die im Bonner „ Haus der Geschichte“hängt, beweist seine Begabung zur politischen Prophetie. Am Ende der Achtziger Jahre, als sich die Westdeutschen überwiegend mit sich selbst und der Mehrung ihres Wohlstands beschäftigten , zeigte Hanel ein düsteres Gespenst mit dem Gesicht von Michail Gorbatschow auf der Berliner Mauer. Auf der Hemdbrust trägt das Gespenst das Wort „ Wiedervereinigung“. Im zertretenen Rasen vor der Mauer liegen die Köpfe von Margret Thatcher, Francois Mitterand und George W. Bush, den drei West-Alliierten. Das alles 1987, zwei Jahre bevor der Eiserne Vorhang fallen sollte .
Ein Böhme, im Rheinland zu Hause
Walter Hanel ist immer gut informiert. Er schaut im Alltag und besonders im Fernsehen genau hin, wie seine Protagonisten reden, zum Rednerpult gehen, wie sie miteinander streiten und agieren. Man will diesem sensiblen Zeichner glauben, dass er bis zu seinem letzten Strich manchmal sogar zehn Stunden braucht. Tag für Tag witzig, ironisch und einfallsreich zu sein, kann harte Arbeit bedeuten. Dies bewältigt der überzeugte Böhme, der im Rheinland seine Wahlheimat fand, wie ein geborener preußischer Pflichtenmensch.
Er hat für alle großen Medien des Landes gearbeitet. Deshalb kennt er die schwierigen Abläufe des Zeitungsalltags und hält sich fast penibel daran. Sein Gespür bei der Auswahl von Themen, die Verlässlichkeit bei vorherigen Absprachen und seine fast chronische Neigung zu Pünktlichkeit werden von allen gerühmt, die mit ihm gearbeitet haben. „ Ich kann zeichnen, und sonst nichts“, meint er schulterzuckend. Aber das ist sehr viel. Er beginnt seinen Arbeitstag mit routiniertem Programm. Das Gewohnte und Alltägliche ist wichtig, weil es jene banale Sicherheit vermittelt, die Hanel für seine Arbeit dringend braucht.
Wenn er morgens durch seinen Wald läuft, der in Bergisch Gladbach Königsforst heißt, hat er die Nachrichten vom Deutschlandfunk, WDR oder anderer Medien bereits im Kopf. Er denkt darüber nach, wie das aktuell Gehörte in seinen heutigen Zeichenstift passt. Danach beginnt die Qual des Tages: die Sache muss aufs Papier. Dreimal in der Woche muss er pünktlich liefern. Seit über vier Jahrzehnten für den „ Kölner Stadt Anzeiger“.
Mit den Augen denken
Er ist ein Nesthocker, der Ruhe braucht. Er hat einen wachen, gezügelten Blick. Er kann mit den Augen denken. Weil er gründlich überlegt, ist er den Anderen überlegen. Er hat einen Blick für das Ganze, jedoch viel Sinn für das Detail. Er zeichnet einen napoleonischen Schmidt, der eine Aktentasche trägt: Das moderne Requisit des dienenden Menschen. Den Altkanzler Helmut Kohl macht er überlebensgroß. Aber Hanel hängt ihm auch eine Toga mit einer Narrenschelle um, aus der kleine Glöckchen mit Strauß-Gesichtern ragen. Er sieht den damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher aus unkonventioneller Perspektive: Nicht als Bären mit großen Ohren, sondern eher als schlauen Fuchs, der das Gras wachsen hört. Walter Hanel verpasst ihm listige Augen. Nicht die Ohren des Mannes sind entscheidend, sein Blick ist es.
Walter Hanel ist zum eindeutig politischen Zeichner geworden, weil er biografisch fast dazu gezwungen wurde. Im Jahre 1930 geboren und als Schüler zum Volkssturm eingezogen, wurde er noch als Vierzehnjähriger Augenzeuge des höllischen Infernos auf Dresden, das ihn nie wieder loslassen sollte. Er wird früh Vollwaise, weil der Vater und später die Mutter starben, die ihrem Sohn vor dem Tod nur raten konnten, sich zu entfernten Verwandten in den Westen durchzuschlagen.
Der Fünfundachtzigjährige, der aussieht wie siebzig, gehört zu jener Generation von Kriegsüberlebenden, die sich vorgenommen hat, Krieg und Naziherrschaft nie wieder zuzulassen. Vielleicht ahnte er schon früh, dass er diesem politischen uftrag nicht mehr entkam. Er hatte ihn seit der Bombardierung seiner geliebten Stadt Dresden, dem späteren Kriegsende und der ratlosen Flucht immer wieder fest im Griff. Für seine Generation war diese Verpflichtung fast schon normal. Überall in Nachkriegsdeutschland traf man nach 1945 auf Männer und Frauen, die noch einmal davongekommen waren. Ihr falscher Idealismus war zwar zerbrochen. Aber Gehorsam, Verrat, Irrtum, Scheitern, Todesangst, Schmerz und Scham waren jetzt die Chiffren für ein Leben, das man nicht nur aus Romanen kannte. Das Wunder ihrer Existenz war allein die schlichte Tatsache, dass man überhaupt am Leben war.
Er hatte auch Glück
Walter Hanel gehört zu dieser verratenen Generation; und doch hatte er auch Glück. Als er an einem Tag im Februar 1949 im Rheinland ankommt, bleibt der Zug auf dem Weg nach Düsseldorf in Köln stehen und fährt nicht weiter. Er steigt in die Straßenbahn, fährt durch die Trümmerlandschaft um den Kölner Dom und wundert sich über kostümierte Leute, die Lieder über „ die Eingeborenen von Trizonesien“ singen und ihn fragen, wo er hergekommen sei. Er ist Flüchtling, nichts mehr. Aber die spontane Hilfsbereitschaft ist groß.
Schon einen Tag später hat der junge Mann ein Dach über dem Kopf und einen festen Arbeitsplatz am Fließband von Kölns größter Autofabrik. Der Rest bleibt Glück und Zufall. Als ein Arbeitskollege zufällig sein zeichnerisches Talent entdeckt und dem Jungen eindringlich rät, an der Kölner Volkshochschule Kurse zu nehmen, ist sein berufliches Schicksal als Karikaturist und Zeichner besiegelt. Er beendet sein Studium an der Kölner Werkkunstschule als Meisterschüler; dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis seine ungewöhnlichen Arbeiten im „Simplicissimus“, im „Pardon“ oder in fast allen nationalen und internationalen Medien wie der FAZ, dem Spiegel, Le Monde und Time Magazine erscheinen.
Die Krähe mit ihrem überdimensional langen Schnabel ist auf allen seinen Zeichnungen zu finden. Der unverwechselbare Vogel, der bei Hanel oft in versteckten Baumkronen sitzt, ist als Nesthocker bekannt – wie sein bescheidener Erfinder, der sich immer noch fast täglich über das Zeichenheft beugt und sich über diese Welt seine originellen Gedanken macht. Heiter, aber mit verlässlichem Zorn. Glückwunsch, Walter Hanel !
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