St. Petersburg im Sommer. 70 Jahre nachdem der 2. Weltkrieg gut drei Monate vorbei ist. Die Stadt an der Newa strahlt im Sonnenlicht mit ihren grün-weißen Palastfassaden und goldenen Kuppeln. Es ist ein friedliches Bild in einer komplizierten Situation. Sieben Jahrzehnte nachdem die Stadt fast vernichtet war. Von 1941 bis 1944 belagert die Wehrmacht St. Petersburg. Mehr als 800 000 Menschen verhungern, krepieren, liegen in Hauseingängen, in den Nebenstraße auf dem Newski-Prospekt, auf Kellertreppen. Viermal soviel Menschen wie in Hiroshima und Nagasaki sterben. Die Stadt des Stolzes und der Demütigungen ist ruiniert. Dieser Große Vaterländische Krieg, der Sieg über Nazi-Deutschland unter der Führung von Josef Stalin reichte in noch jede russische Gegenwart hinein. Das gilt auch für die Heutige.
Fünfzehn Jahre nach Vladimir Putins erstem Wahlsieg im März 2000 ist gerade jetzt ein Buch im Siedler Verlag herausgekommen, das in vielerlei Hinsicht wichtig ist, was die politische Situation im heutigen Russland und das Geschichtsverständnis angeht: „Stalin – Eine Biographie“ von Oleg Chlewnjuk. Er ist einer der ganz wenigen, wirklichen überzeugenden Stalin-Experten unserer Zeit, leitender Mitarbeiter des Staatsarchivs der Russischen Förderation in Moskau. Der Autor ist jemand, der die Kreation des Stalinmythos im heutigen in den Putinjahren kritisiert: „Die Wirkung dieses machtvollen ideologischen Angriffs auf den Verstand der Leser wird durch die Verhältnisse im heutigen Russland – grassierende Korruption, empörende soziale Ungleichheit – noch verstärkt. Wer die Gegenwart ablehnt, neigt oft dazu, die Vergangenheit zu idealisieren.“
Alexej Korotaev ist ein schlanker, hoch gewachsener Mann, Ende 50 mit schütterem, blondem Haar. Sehr lebhaft. Er idealisiert die Vergangenheit nicht. Der promovierte Germanist hat in seiner Heimatstadt St. Petersburg und in Deutschland studiert. Er steht nahe der Oberleutnant Schmidt Brücke zeigt über die Newa auf das große, gelbe Gebäude der Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er ist und seufzt: „Die Lage ist beschissen. Es muss etwas geschehen. So geht das nicht weiter.“
Korotaev findet die Stimmung, die Situation in seinem Russland unerträglich. Die Unterdrückung der Menschenrechte, der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit: „Es ist eine Katastrophe. Wir brauchen eine Palastrevolution. Aber haben wir niemanden, der sie macht.“ Korotaev weiß aber auch, er ist in der Minderheit. Die Zustimmungsraten für Vladimir Putin in dessen Heimatstadt sind sehr hoch. Trotz der grassierenden Inflation. Trotz der für die meisten der sechs Millionen Petersburger niedrigen Einkommen. Das gilt auch für angesehene Berufe wie Lehrer und Wissenschaftler. Zwischen 1990 und 2010 haben 70% der führenden russischen Mathematiker und die Hälfte der theoretischen Physiker das Land verlassen. „Gier und Korruption,“ schreibt der Direktor des Moskauer Thinktanks InDem, Georgy Satarov, ersticken Kreativität und Forschergeist. „Die repressive Atmosphäre einer grauen, staatlich verordneten Einfachheit hat sich schließlich in alle Lebensbereiche Russlands eingeschlichen.“
Alexej Korotaev liebt seine Stadt, auch sein Land, doch das politische System Putin lehnt er ab. Das führe zu nichts Gutem. Man werde das erleben, versichert er und lächelt traurig dabei: „Unter Breschnew war es besser als jetzt,“ formuliert er in druckreifem Deutsch. Da habe man wenigstens gewusst, woran man war. Eine erschütternde Feststellung, findet auch er. Der lange Spaziergang entlang der Newa endet unterhalb der Admiralität. Hinter ihr beginnt der Newski Prospekt. Die Prachtstraße Russlands im Zarentum, während des Kommunismus und danach. Sie hat die Kraft des Dauerns, wie Joseph Roth geschrieben hat. Alexej Korotaev sagt, die haben wir auch.
Bildquelle: Wikipedia, Kremlin.ru, CC BY 3.0
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