Man hält es nicht im Kopf aus: Das Ausmaß strategischer Inkompetenz und Fahrlässigkeit, mit der die SPD-Führung eine längst voraussehbare Debatte um die nächste Kanzlerkandidatur provoziert hat, die ihren Anspruch als Volkspartei sowie das Selbstwertgefühl ihrer Mitglieder und Sympathisanten verheerend demontiert. Schon unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl war bei mittelprächtigem Antizipationsvermögen zu erahnen, in welch existenzielle Strategiefalle die SPD-Führung ihre Parteibasis durch die Empfehlung einer erneuten Großen Koalition treiben würde und welch bedenklicher demokratischer Substanzverlust mit dem Wegfall einer hinreichend starken Opposition riskiert wird.
Die strategische Zwickmühle der SPD
Doch Sigmar Gabriel und die gesamte SPD-Spitze lockten eine breite Mehrheit der Basis durch das von den Medien unisono gefeierte Partizipationsangebot in Form eines Mitgliedervotums in die heutige Sackgasse. Dies war kurzfristig gesehen sicher damals eine schlaue taktische Meisterleistung, mit der von einer strategischen Aufarbeitung der Wahlniederlage erfolgreich abgelenkt und die ursprünglich tiefe Abneigung gegen eine erneute Juniorrolle unter Bundeskanzlerin Merkel überwunden wurde. In diesem geschickten, aber kurzatmigen Kunstgriff des Parteivorsitzenden steckte aber schon der Keim des strategischen Dilemmas, das jetzt die SPD mit Blick auf das doch jeden Tag näher rückende Bundestagswahljahr 2017 mental befrachten musste und mitten im Berliner Sommerloch zu einer lästigen, aber entlarvenden Personalspekulation um die nächste Kanzlerkandidatur führt.
Mit dieser aus der Sicht der SPD- Führung schädigenden und daher völlig unnötigen Debatte zur Unzeit musste man aber schon länger rechnen, weil sie still in der zementierten strategischen Ausgangssituation schlummerte und ihr demoskopisch initiierter Ausbruch schon seit Monaten in der Luft lag. Da hilft es auch keinen Millimeter weiter, sich über einen Ministerpräsidenten aufzuregen, der mit der lauten Ausrufung einer längst bekannten strategischen Zwickmühle der SPD und seinem damit verbundenen Hofknicks vor Queen Angela Merkel bundesweit über Nacht – wie sonst nur durch eine Teilnahme am Dschungelcamp – berühmt wurde.
Strukturproblem der SPD
Dabei wurde in der nachrichtenarmen Zeit von Loch Ness und Bayreuth eigentlich nur das seit dem masochistischen Wiedereintritt in die Regierung Merkel bekannte bundespolitische Strukturproblem der SPD, spektakulär verpackt, in das Sommerloch katapultiert: Denn es war ja schon bisher bekannt, dass die SPD auf Bundesebene strukturell beständig mit demoskopischen Werten zwischen 23 und 26 Prozent gegenüber dem Schröder-Wahlsieg von 1998 so gut wie halbiert ist und Sigmar Gabriel in der Erwartung einer nicht mehr ablehnbaren Spitzenkandidatur 2017 noch schlechtere demoskopische Karten hat – letzteres übrigens eine alte Tradition für alle Nicht- Amtsinhaber(innen), die wie z.B. Angela Merkel 2005 gegen einen jeweils weit populäreren Amtsinhaber antreten mussten.
Machtanspruch ist entscheidend
Die wirklich entscheidende strategische Frage ist doch heute, ob und wie die Sozialdemokratie mit einem ernstzunehmenden Machtanspruch, die nächste Regierung auch zu führen, in einen Wahlkampf geht oder nur noch so tut. Schon in den letzten beiden Bundestagswahlkämpfen hat sie diesen Machtanspruch nicht mehr glaubwürdig vermittelt: Die SPD bot ihren Wählerinnen und Wählern weder 2009 noch 2013 eine realistische Koalitions- und Mehrheitsperspektive an, noch konnte sie mit klaren politischen Kontrasten zur Union mobilisieren. Unter diesen Prämissen kann selbst ein Kanzlerkandidat mit übernatürlichen Fähigkeiten keine Wahl gewinnen. Im letzten Bundestagswahlkampf speziell stellte sich dann doch für jeden halbwegs informierten Wähler nur noch die Frage, ob er bereit ist, die SPD – völlig unabhängig von der offiziellen rot-grünen Koalitionsparole – mit der sehr wahrscheinlichen Wirkung zu wählen, dass die Sozialdemokratie im Bundestag anschließend die Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel sichert und in deren Regierung als Juniorpartner eintritt. In diesem Pseudowahlkampf sind keine fundamentalen politischen Unterschiede zwischen Union und SPD mehr sichtbar geworden, sondern nur ein paar jämmerliche Aufreger wie Maut, Herdprämie und der Stinkefinger von Peer Steinbrück.
Unterschiede wie zwischen Coca- Cola und Pepsi-Cola
Dank der Duckmäuserei der SPD- Führung gegenüber der Union in allen zentralen politischen Fragen haben wir inzwischen in Deutschland eine Parteienstruktur mit Unterschieden wie zwischen Coca-Cola, Pepsi-Cola oder fritz-kola usw. Seit dem Abgang von Gerhard Schröder hat die SPD- Führung durch strategische Inkompetenz und Fahrlässigkeit den Anspruch als kanzlerfähige Volkspartei über Jahre hinweg abgeschliffen. Wenn man jetzt an diesen Prämissen nicht umgehend etwas fundamental ändert, ist die Personaltratscherei über die nächste Kanzlerkandidatur völlig nachrangig. Die notwendige Glaubwürdigkeit als potenzielle Kanzler(innen)partei kann so nicht mehr ernsthaft vermittelt werden. Selbst nicht, wenn Kandidatin oder Kandidat an der Spitze übers Wasser gehen könnten.
Mehrheitsperspektive und Eigenprofil
Existenzielle Priorität hat dagegen jetzt für die SPD, eine realistische koalitionspolitische Mehrheitsperspektive und ein mobilisierendes Eigenprofil im Kontrast zur Union aufzuzeigen. Das heißt für die SPD-Führung, auch um den Preis ernster Koalitionskonflikte, ihren Kuschelkurs aus Angst vor politischen und medialen Angriffen oder einer demoskopischen Minderheitsposition zu beenden und einen aufrechteren Gang einzuschlagen. Was heißt das konkret?
Erstens muss die SPD zusammen mit der Entscheidung der Kanzlerkandidatur verbindlich die Fortsetzung der Großen Koalition ausschließen. Gleichzeitig muss die Sozialdemokratie die Koalitionsoption für „Die Linke“ im Bund – natürlich abhängig von Gesprächsergebnissen – ernsthaft offen halten. Dies würde zwar einen Riesenwirbel auslösen, ist aber unverzichtbar. Und die mehrheitlich Schwarz-Grün zugeneigten Spitzenpromis bei den Grünen würden einen schweren Einbruch riskieren, wenn sie in dieser Ausgangslage nur noch als „Unions-Darlinge“ den Wahlkampf bestreiten und eine Mehrheit jenseits der Union ablehnen wollten. Nur die kühne Härte der Bereitschaft zu dieser ja schon heute im Deutschen Bundestag prinzipiell möglichen Mehrheitsalternative kann einem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten wieder Respekt und Trittfestigkeit verschaffen. Willy Brandt zeigte in der Wahlnacht 1969 übrigens weit mehr Entschlossenheit und Bereitschaft zum Risiko.
Zweitens muss die SPD ab sofort, wie in der Großen Koalition 1966-1969, bei politischen Schlüsselthemen weit stärker ihr eigenes Profil für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl schärfen. D. h. es dürfen nicht nur brav die aktuellen Regierungsleistungen der SPD, wie z.B. Mindestlohn herausgestellt werden, die ja auch die Union und insbesondere Kanzlerin Merkel erfolgreich für sich beanspruchen. Diese Strategie garantiert nur noch den nächsten Trostpreis. Nein, darüber hinaus müssen bei bewegenden politischen Streitthemen die langen sozialdemokratischen Linien im Kontrast zur Union über 2017 hinaus profiliert werden. Dies gilt z.B. für das globalisierungskritische Megathema TTIP, das heute den Stellenwert des Umweltthemas in den 70er Jahren hat. Aber auch für den neuen Ost-West- Konflikt, das außenpolitische Megathema, bei dem die SPD klare eigene Alternativen zu einem sich weiter aufschaukelnden Wettrüsten und Kalten Krieg aufzeigen muss.
Gegen ein neoliberales „Protektorat“ Griechenland
Aktuell heißt das dann beim Thema Griechenland, dass die SPD in der Berliner Regierung sich nicht länger vor dem verschärften prozyklischen „Brüning-Kurs“ von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble wegduckt, der bestimmt nicht durch das Feigenblatt eines Investitionsprogramms kompensiert wird, das beim endlosen Zappelnlassen der Regierung Tsipras durch eine neue „Quadriga“, d.h. „Troika“ plus ESM, von vornherein unwirksam ist. Der Attentismus der Investoren wird weiter zunehmen. Vor allem aber kann sich die SPD- Führung gerade bei diesem Thema keine opportunistischen oder feigen Volten mehr leisten, selbst wenn sie sich einmal gegen eine erdrückende demoskopische Mehrheit für den ruinösen neoliberalen Kurs von Kanzlerin und Finanzminister stellen muss. Sie darf bei aller Reformbedürftigkeit Griechenlands die platte weitere Strangulierung von Kaufkraft und Nachfrage nicht als seriöse Reformpolitik akzeptieren und muss in der Regierung eine verschärfte prozyklische Politik in einer zunehmenden Rezession ablehnen. Auch die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen, bei der die SPD zuhause in Deutschland aus bitterer Erfahrung schon längst einen Kurswechsel eingeleitet hat, darf den Griechen nicht jetzt als Patentrezept aufgenötigt werden.
Selbst wenn eine klare Gegenposition gegen neoliberale Ideologien und die Errichtung eines wirtschafts- und finanzpolitischen „Protektorats“ Griechenland am Anfang enormen politischen, medialen und demoskopischen Gegenwind erzeugt, muss die SPD endlich in der Griechenland- Frage sichtbar und verlässlich zu ihrer europäischen Tradition stehen. Anstatt dilettantisch zu versuchen, von den selbstgerechten Stimmungen gegen die Regierung Tsipras auch noch mit zu profitieren, muss die SPD konsequent einer ökonomisch längst absurden Rettungspolitik entgegentreten und die unerträglichen medialen Hetzwellen gegen Griechenland aktiv attackieren. Die diffuse Haltung des sozialdemokratischen Vizekanzlers im Zusammenhang mit den Grexit- Plänen der Bundesregierung wird auch durch eine anschließende Empörung in der SPD über Wolfgang Schäuble nicht glaubwürdiger.
Hegemonialer Anspruch Berlins gefährdet EU und schadet Deutschland
Nur wenn die SPD hier offensiv in der Koalition die notwendige Debatte über den ökonomisch gescheiterten Rettungskurs in Griechenland führt und klare Alternativen für einen Kurswechsel bei den anstehenden Verhandlungen zu dem sogenannten dritten Hilfsprogramm unterstützt, kann sie den idealistischen und politisierten Kern der Wählerschaft überzeugen und dadurch auch europapolitisch wieder kampagnenfähig werden. Bisher erstarrt die SPD vor den demoskopischen Folgen ihrer Duckmäuserei gegenüber der Austeritätspolitik Merkels in den Krisenländern. Statt dessen muss die SPD endlich dem Anspruch des Duos Merkel- Schäuble entgegentreten, ganz Südeuropa mit einer neoliberalen Rettungsstrategie zu überziehen. Der damit verbundene hegemoniale Anspruch Berlins in Europa könnte das Scheitern des trotz aller Probleme historisch einmaligen Erfolgsmodells EU auslösen und hat schon heute zu einem gefährlichen außenpolitischen Vertrauensverlust in die machtpolitische Selbstkontrolle des wiedervereinigten Deutschlands geführt.
Zum Niedergang der SPD
Herrn Spöris Analyse zum Zustand er SPD muss man leider zustimmen, die Genossen bieten ein Bild des Jammers, Die hilflos wirkenden, in der Sache nur populistisch zu nennenden Versuche der Parteispitze, insbesondere diejenigen des Herrn Gabriel, erregen nur noch Mitleid!
Herr Spöri analysiert genau und benennt die Schwächen schonungslos. Dennoch greift Herrn Spöris Kritik viel zu kurz, bleibt doch die Ära Schröder weitestgehend ausgeblendet. Mit der Agenda 2010 begann der Abstieg der SPD, mit dem Festhalten daran, kürzlich hat sich die SPD-Spitze mit den vermeintlichen Errungenschaften der Agenda 2010 noch selbst beweihräuchert, wird der Abwärtstrend fortgesetzt. Ade Volkspartei, marginalisiert bei +/- 20%.
Wenn es den SPD-Mitgliedern nicht gelingt diesen eigentlich unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Agenda 2010, also dem üblen Verrat an ihrer Klientel, einem wesentlichen Teil ihrer (Stamm)Wähler, den „kleinen Leuten“, und dem Niedergang der Sozialdemokratie zu erkennen, wird es keine Trendwende geben, wird es keine SPD geführte Bundesregierung mehr geben, wird nur der Rockzipfel von Frau Merkel bleiben. Mittelfristig droht der SPD der völlige Zerfall. Dieser an sich traurige Umstand erzeugt Bitternis bei vielen (ehemaligen) SPD-Stammwählern.